Von Markus Büker
In Belem, Brasilien, fand vom 21.-25. Januar das 3. Weltforum für Theologie und Befreiung statt. Nach 2005 (Porto Alegre) und 2007 (Nairobi, Kenia) wurde das Forum unmittelbar vor dem Weltsozialforum organisiert. Die Weltsozialforen sind zum Kristallisationspunkt für die Suche nach tragfähigen ethischen, wirtschaftlichen und politischen Alternativen geworden, zumal die Kritik der letzten Jahre sich durch die Finanzkrise in den zurückliegenden Monaten bestätigt hat. Ziel des theologischen Forums ist es, wichtige Herausforderungen aus befreiungstheologischer Perspektive zu bearbeiten.
Aus verschiedenen Kirchen und allen Kontinenten trafen sich Mitarbeitende aus der biblisch – theologischen Forschung, von kirchlichen Institutionen und Frauen und Männer von Basisbewegungen. Kamen nach Nairobi 400 Teilnehmende aus allen Teilen der Welt zusammen, so waren es in Belem 1’300 Männer und Frauen, der Grossteil aus Brasilien. Unter den Stichworten „Wasser, Erde, Theologie“ stand die ökologische Krise im Mittelpunkt des Treffens. Der Ort und das anschliessend stattfindende Weltsozialforum gaben das Thema vor: Die Millionenstadt Belem liegt nahe der Mündung des Amazonas in den Atlantischen Ozean. Hier wird seit Anfang der 1970er Jahre im grossen Stil Holz gewonnen, Viehwirtschaft betrieben, Soja und Zuckerrohr in Monokulturen angebaut, Erze aus dem Boden geholt. Die indianischen Völker werden wegen der Rodung des Urwalds und infolge des Bergbaus vertrieben. Als wichtigster Sauerstoffproduzent („grüne Lunge“) und Süsswasserspeicher der Erde ist die Region ökologisch bedroht. Durch die Brandrodung werden grosse Mengen CO2 produziert, die wiederum zur Klimaerwärmung beitragen. Die Pharmaindustrie interessiert sich für die enorme Artenvielfalt.
Im Amazonasgebiet treffen so entgegen gesetzte Interessen der indianischen Ursprungsbevölkerung, der Wirtschaft und des Umweltschutzes aufeinander: die Indianer wollen ihr angestammtes und verfassungsmässig garantiertes Recht auf Land verteidigen. Die Wirtschaft will das Land unter ihren Gesichtspunkten entwickeln und die Rohstoffe ausbeuten. Umweltschützer wollen die Natur erhalten, um das Weltklima nicht weiter zu destabilisieren. Die Gewalt gegen die indianischen Anführer ist dort besonders extrem, wo die wirtschaftlichen Interessen am grössten sind. Das Theologie-Forum ging von der Einsicht aus, dass gegenwärtig die ökologische Krise Ausdruck einer grundsätzlicheren, zivilisatorischen Krise ist. Es brauche ein neues Denken, weil der neoliberale Kapitalismus – in seiner globalisierten Form nun in den armen wie in den reichen Staaten spürbar – Grund für die Krise sei. Statt Reparatur also den Systemwechsel einleiten.
Das neue Denken wurde unter dem gemeinsamen Nenner „Spiritualität“ von Persönlichkeiten unterschiedlichster Herkunft vorgestellt: der Brasilianer Leonardo Boff wies auf die Erd-Charta hin. Die Menschen müssten endlich verstehen, nicht in einer „Umwelt“ lebten, aus der sie sich nach ihren Bedürfnissen bedienen könnten. Sie seien vielmehr „Teil einer Gemeinschaft des Lebens“, die auch ohne sie weiter existieren könnte. Er wiederholte, was er schon mehrmals sagte: „Ein neues Ethos muss auf der Grundlage einer neuen Sensibilität, eines neuen ‚Pathos‘ basieren. Denn ich bin überzeugt, dass wir in unserer Welt gerade deshalb eine derart grausame Barbarei erleben, weil es uns an der Sensibilität, an der ‚Empathie‘ für die Mitmenschen und für die Natur fehlt. Und eben diese Dimension versuche ich noch stärker zu gewichten: die Dimension der Achtsamkeit und die Logik des Herzens.“
Mary Hunt aus den USA kritisierte, dass in den verschiedenen Spielarten der Befreiungstheologien die Körperlichkeit immer noch vernachlässigt werde. Das habe Auswirkungen auf das Verhalten der Christen und Christinnen zur Natur. Vertreter und Vertreterinnen der Indianer und Afroamerikaner standen immer wieder im Mittelpunkt der Diskussion: die Weisheit ihrer Völker gilt als Vorbild. Diese Menschen nähmen nicht mehr aus der Natur, als sie brauchten. Der Mexikaner Eleazar López nimmt dies als ein gutes Zeichen: „Die traditionelle Befreiungstheologie lässt sich von der Indianischen Theologie heute befruchten. Erde, Wasser, Körperlichkeit sind von alters her indigene Themen.“ Der Inder Felix Wilfred rief dazu auf, das christliche Menschenbild zu ändern: „Alle sind abhängig voneinander. Der Mensch ist nicht der allein über allem stehende König der Schöpfung.“
Konkreter wurde die 2008 aus Protest zurückgetretene Umweltministerin Brasiliens, Marina Silvia. Sie wuchs selbst in einer Kautschukzapferfamilie auf und avancierte aufgrund ihres Engagements zum Star des Forums. Sie zeigte die Kehrseite der ganz auf Armutsbekämpfung durch Wachstum ausgelegten Politik des brasilianischen Präsidenten Lula: Demnach schreitet die Abholzung so schnell voran wie nie zuvor. Seit 1970 wurden 700’000 km2 abgeholzt. Zwischen August und Dezember 2007 seien bis zu siebentausend Quadratkilometer Wald geschlagen worden. Das entspricht etwa der Hälfte der Waldfläche der Schweiz. Sie forderte, die Landrechte der Ursprungsbevölkerung anzuerkennen, Gebiete für die Industrialisierung zu sperren und Wälder wieder aufzuforsten.
Wie die spirituelle Erneuerung konkret erfolgen soll, welche Spiritualität nun für welche Situation die geeignete ist – auf diese Fragen gab es keine Antworten. Das Forum als Ausdruck unterschiedlichster Erfahrungen und Reflexionen bot vieles, litt aber unter einer inhaltlichen und methodischen Zersplitterung. Inhaltlich war der Zuschnitt auf die Amazonasregion sinnvoll, aber für ein Weltforum auch problematisch. Wie kann beispielsweise das Recht auf Wasser für alle Menschen gewährleistet werden? Wie kann der Privatisierung des Wassers durch Firmen wie Nestlé entgegengetreten werden? Solche Fragen beschäftigen die Armen in den Städten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens. Es sind andere Nöte als die Nöte indigener Völker, selbst wenn es Zusammenhänge gibt. Es fehlten am Ende die theologischen, handlungsleitenden Antworten wie auf die zivilisatorische Krise bzw. die Krise des Kapitalismus zu reagieren ist.
Der Ruf nach Spiritualität kann nicht beim Einzelnen stehen bleiben. Welches sind die Perspektiven für die kirchlichen Gemeinschaften, in ihren internen Bündnissen und mit den sozialen Bewegungen? Die Tatsache, dass so unterschiedliche Positionen auf der Suche nach gesellschaftlichen und theologischen Alternativen aufeinandertreffen wurde positiv gewertet: Denn in den offiziellen kirchlichen Strukturen gibt es zunehmend weniger Spielraum für kritische, kreative und kontroverse Meinungen. In der Auswertung des Forums wurde aber gerade die beliebige Vielfalt kritisiert: Sind alle Spiritualitäten gleichberechtigt? Oder sollen Spiritualitäten ausgeschlossen werden, die Menschen unterdrücken? Solche unterdrückenden Spiritualitäten hätten an einem Forum über „Theologie und Befreiung“ nichts zu suchen. Wer bestimmt aber, welche Spiritualität unterdrückt und welche nicht?
Die Methode Sehen – Urteilen – Handeln, seit den Ursprüngen Grundpfeiler der Befreiungstheologie, kam in der Anlage des Forums nicht zum Tragen. Von nicht wenigen wurde das als herber Verlust und als Ursache für die Unklarheiten während des Forums empfunden. Für andere scheiterte der Versuch eine pluralitätstaugliche Methodik zu entwickeln. Wenn christliche Theologie nicht in Beliebigkeit abgleiten soll, müssen Theologen und Theologinnen eine interkulturelle Verständigung über Inhalt und Methode der Theologie erreichen. Die Theologie hat sich in viele Theologien aufgefächert. Alle versuchen, einen besonderen gesellschaftlichen Ort – z. B. Frauen, Indianer, Afrikaner – oder bestimmte Themen – Körperlichkeit, Ökologie, Kosmologie – aufzunehmen. Die daraus erwachsende Vielsprachigkeit ist gewollt. Problematisch ist die Fragmentierung, Zersplitterung.
Es gab in Belem offensichtlich zu wenig Klarheit darüber, was „befreiende“ Theologie ist und wie die verschiedenen Perspektiven der „Befreiung“ miteinander ins Gespräch gebracht werden können. Dazu passt, dass aus dem deutschsprachigen Raum nur wenige am Forum teilgenommen haben. Von der Universitäts-Theologie war niemand anwesend. Auch erstaunt den Beobachter, dass 10 deutschsprachige Werke das Forum mitfinanzieren, aber nur wenige Mitarbeitende dieser Werke am Forum selber teilnahmen. Die Teilnahme am Gespräch der Theologinnen und Theologen anderer Kontinente scheint für die deutschsprachige Theologie und Hilfswerkszene unwichtiger geworden zu sein. Welche Logik steht hinter dieser Entwicklung? Effizienzdenken, weil die Verwertbarkeit der Ergebnisse nicht unmittelbar gegeben ist? Macht sich die Fragmentierung der Diskussionszusammenhänge auch hier bemerkbar? Wenn die Räume auch im deutschsprachigen Raum angesichts der vielfachen innerkirchlichen Krisen noch enger werden, dann könnten doch neue Bündnisse neue Räume eröffnen. Diese Chance scheinen vor allem kleine Organisationen wie das Institut für Theologie und Politik in Münster, die Missionszentrale der Franziskaner in Bonn oder die Fachstelle Ökumene, Mission und Entwicklung in Bern zu sehen.
Organisiert wurde das Treffen von so verschiedenen Organisationen wie der brasilianischen Vereinigung der Theologen und Religionssoziologen SOTER, der weltweit tätigen ökumenischen Vereinigung von Dritt-Welt-Theologinnen und Theologen EATWOT, dem lateinamerikanischen Theologen-Netzwerk Amerindia, den brasilianischen Ordensleuten, der ökumenischen Gemeinschaft der Theologiedozenten Lateinamerikas und der Karibik – CETELA. Die Organisatoren gehen nach den ersten Auswertungen davon aus, dass es ein viertes Weltforum geben wird. Finanziert wurde das Weltforum für Theologie und Befreiung von 18 Hilfswerken, darunter aus der Schweiz durch Brot für alle, Mission 21 und Fastenopfer. Aus Deutschland von Adveniat, Evangelisches Missionswerk in Deutschland – EMW, Internationales Katholisches Missionswerk – Missio, Misereor, Missionszentrale der Franziskaner. Aus Österreich von der Dreikönigsaktion DKA.