10 Jahre Welttreffen der Sozialen Bewegungen mit Papst Franziskus

Pfefferspray statt soziale Gerechtigkeit“

Wie Gewalt sich breit macht…und was dagegen zu tun ist.

Papst Franziskus hat zum zehnjährigen Bestehen der Welttreffen der Sozialen Bewegungen („movimientos populares“ – MMPP) im Vatikan am 20. September 2024 eine Ansprache gehalten. Wir möchten sie hier gerne in deutscher Übersetzung veröffentlichen, weil wir die Welttreffen der Sozialen Bewegungen seit 2014 intensiv mit begleitet und teilweise daran auch teilgenommen haben. Hierzu haben wir auch verschiedene Veröffentlichungen gemacht, von denen hier eine Auswahl abrufbar ist:

Schwestern und Brüder, guten Tag. Schön, dass ihr gekommen seid.

Wir erinnern uns an den Moment, der den Ausgangspunkt für unsere gemeinsame Geschichte gebildet hat! Zehn Jahre sind vergangen, seit dem ersten Welttreffen der sozialen Bewegungen. Damals haben wir „Land – ein Dach über dem Kopf – Arbeit (die drei T: „tierra, techo, trabajo“, NM) zum Motto erklärt. „Land – ein Dach über den Kopf – Arbeit“ sind heilige Rechte. Niemand soll Euch diese Überzeugung streitig machen, niemand soll Euch dieser Hoffnung berauben, niemand soll Euch diesen Traum austreiben!

Eure Sendung (missio)geht weit über den Tag hinaus, ist transzendent. Wenn das arme Volk nicht resigniert, sondern sich organisiert, beharrlich gemeinsam das tägliche Leben sichert und zugleich gegen die Strukturen sozialer Ungerechtigkeit bekämpft, wird sich früher oder später die Lage zum Besseren verändern. Ihr seht: das alles hat mit Ideologie nichts zu tun; gar nichts. Es geht um die „kleinen Leute“.

Ihr habt Passivität und Pessimismus hinter Euch gelassen; habt Euch von Leid und Resignation nicht entmutigen lassen. Ihr lehnt es ab, als willfährige Pechvögel behandelt zu werden. Vielmehr nehmt ihr Euch selbst als Subjekte und Protagonisten der Geschichte ernst. Das ist vielleicht Euer wertvollster Beitrag. Ihr gebt nicht klein bei, sondern geht voran. Auch entwerft ihr keine Luftschlösser. Besonders gefällt mir, dass ihr keine ideologischen Dokumente verfasst, nicht von einer Konferenz zur nächsten rennt, das Geschwätz nicht mitmacht, nicht wahr?, sondern Euch Schritt für Schritt auf dem festen Boden des Konkreten bewegt, von Mensch zu Mensch Hand in Hand zusammenarbeitet. Ihr protestiert nicht nur – Protestieren ist auch eine gute Sache –, sondern realisiert zahllose Projekte, selbst mit höchst prekären Mitteln, meist ohne staatliche Hilfe, manchmal gar verfolgt. Dabei bin ich Euch nahe. Auch glaube ich immer noch, was ich Euch schon in Bolivien sagte: Vom gemeinschaftlichen Handeln der Armen der Erde hängt nicht nur deren eigene Zukunft ab, sondern vielmehr die der ganzen Menschheit. Ja, sie hängt von Eurem Wirken ab.

Wir alle sind auf die Armen angewiesen, alle, auch die Reichen. Ich wiederhole, was ich zu Beginn meines Pontifikats gesagt habe: „Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, werden sich die Probleme der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein Problem gelöst werden. Die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel.“ [EG 202] Ich weiß, dass diese Aussage manche stört, aber sie ist wahr.

Ein Bruder sagte mir: „Pater, Sie reden viel über die Armen und wenig über die Mittelklasse.“ Das mag so sein und dafür bitte ich um Entschuldigung. Wenn der Papst sich äußert, äußert er sich für alle Menschen, weil die Kirche für alle da ist. Aber ich kann mich nicht der zentralen Stellung der Armen im Evangelium entziehen. Das ist nicht Kommunismus, sondern Evangelium pur. Nicht der Papst rückt sie ins Zentrum, sondern Jesus selbst. Es geht um eine Glaubensfrage, und die ist nicht verhandelbar. Wer sie nicht akzeptiert, ist kein Christ.

Ein anderer Bruder sagte mir: „Sei doch nicht so hart gegen die Reichen.“ Jesus war viel härter als ich. Schaut, was er den Reichen gesagt hat: „Wehe euch, ihr Reichen.“ – und dann gibt er es ihnen. [Lk 6,24ff] – Und dann bekomme ich zu hören: „Sei nicht so hart gegen die Reichen?!“ Natürlich erkenne ich an, dass Unternehmer Arbeitsplätze schaffen und zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen. Das muss man auch sagen. Darüber habe ich kürzlich in Singapur geredet, als ich beeindruckt von der großartigen Kulisse der Wolkenkratzer den Beitrag der Unternehmer anerkannte. Allerdings werden die Erträge der wirtschaftlichen Entwicklung schlecht verteilt. Das ist unübersehbar, und das wird zu immer größeren Gefährdungen führen, wenn sich nichts ändert. Wenn keine gute Politik realisiert wird, wenn keine überzeugend gerechten politischen Maßnahmen ergriffen werden, die soziale Gerechtigkeit sichern sollen, , damit alle über Landbesitz, Wohnung und Arbeitsplatz verfügen, mit gerechten Löhnen und entsprechenden sozialen Rechten ausgestattet sind, wenn es dazu nicht kommt, wird sich die Logik des Wegwerfens von Dingen und Menschen ausbreiten und Gewalt und Verwüstung nach sich ziehen. Entweder die Harmonie der sozialen Gerechtigkeit oder Gewalt und Verzweiflung.

Leider sind es vielfach die Super-Reichen, die sich aus schierer Habgier der sozialen Gerechtigkeit bzw. einer ganzheitlichen Ökologie widersetzen. Zwar verschleiern sie ihre Habgier ideologisch, aber es ist nichts anderes als die altbekannte Habgier. Dann üben sie Druck auf die Regierungen aus, damit sie eine schlechte Politik betreiben, von der sie selbst wirtschaftlich profitieren. Meine Großmutter pflegte zu sagen: „Vorsicht! Die Einfallstür des Teufels ist die Geldbörse.“ Ja, er kommt immer durch‘s Portmonee: ein Schmiergeld hier, ein Deal dort usw., so schleicht er sich ein. Ein international tätiger Unternehmer erzählte mir, dass er mit seiner ranche in Argentinien Erweiterungsinvestitionen betreibt, dass sie gute Arbeit anbieten und eine gute Vereinbarung getroffen haben. Als er zum Ministerium gekommen sei, um dort neue Pläne vorzulegen, habe der Minister ihn freundlich behandelt und ihm gesagt: „Überlassen sie das mir, ich werde sie anrufen.“ Am nächsten Tag hätte der Sekretär des Ministers angerufen und ihm gesagt: „Sie können in zwei Tagen kommen, dann werde ich Ihnen die Genehmigung und alles Notwendige überreichen.“ Er ging hin, erhielt alle Papiere samt Unterschriften, und als er gerade aufbrechen wollte, sagte der Ministerialsekretär: „Und wie viel gibt es für uns?“ Schmiergeld, nicht wahr? Des Teufels Einfallstor ist die Geldbörse, vergesst das nicht!

Ich habe gehört, dass einige der reichsten Männer der Welt dies erkannt haben. Sie geben zu, dass ein System, das es reichen – und ich füge hinzu: manchmal knauserigen Menschen ermöglicht hat, ein großes Vermögen anzuhäufen, unmoralisch sei und verändert werden müsse; Milliardäre müssten mehr Steuern zahlen. Das scheint mir richtig. Ich bete darum, dass die wirtschaftlich Mächtigen sich nicht mehr isolieren, sich nicht länger an die falsche Sicherheit des Geldes klammern und dafür offen werden, die Güter zu teilen, die für alle bestimmt sind, weil sie aus der Schöpfung stammen. Alle Güter haben hier ihren Ursprung und sind deshalb für alle bestimmt.

Es scheint kaum realistisch, aber für Gott ist alles möglich. Wenn dieser kleine Prozentsatz der Milliardäre, die den größten Teil des planetaren Reichtums hamstern, sich aufraffen könnte, seinen Reichtum zu teilen… Aber ihn nicht als Almosen zu spenden, sondern ihn geschwisterlich zu teilen. Wenn sie sich dazu aufraffen könnten wie gut wäre das für sie selbst und wie gerecht für alle! Ich bitte die Privilegierten dieser Welt, mutig diesen Schritt zu tun. Sie werden viel glücklicher sein, und wir alle würden wieder mehr zu Geschwistern werden.

Vor geraumer Zeit habe ich auch bereits gesagt: „Die Armen können nicht warten.“ (vgl. Ansprache MMPP Rom, 28. Okt 2014) Wenn die sozialen Bewegungen ihre Forderungen nicht stellen, wenn ihr nicht schreit, wenn ihr nicht kämpft, wenn ihr die Gewissen nicht weckt, wird die Lage noch schwieriger. Ich frage auch die Angehörigen der Mittelklasse, die immer mehr Opfer bringen müssen, um bis zum Ende des Monats über die Runden zu kommen. Ich frage die Leute, die sehr hohe Mieten zahlen müssen und daher nichts zurücklegen können, so dass sie vielleicht für ihre Kinder eine noch schlechtere Lage befürchten: „Glaubt ihr, dass die Super-Reichen mit den Bedürftigen teilen werden, was sie haben, oder weiterhin unersättlich Güter anhäufen?“ Nur eine Frage.

Ich habe kein Monopol darauf, die gesellschaftliche Realität zu interpretieren. Aber ich höre aufmerksam zu. Ich habe auch keine Kristallkugel (die es sowieso nicht gibt; das ist ja nur Betrug). Aber ich beobachte etwas, was mir Sorge macht, dass nämlich eine perverse Gestalt der Realitätsdeutung auf dem Vormarsch ist, und zwar die Akkumulation des Reichtums zu verherrlichen, als handele es sich um eine Tugend. Aber ich sage Euch: Das ist keine Tugend, sondern ein Laster. Reichtum ist dazu da, geteilt zu werden, damit etwas zu bewirken, um miteinander Geschwister zu werden. Tugendhaft ist nicht das Anhäufen von Reichtum, sondern ihn zu teilen. Jesus hat nicht akkumuliert, aber er hat vermehrt, was da war, und die Jünger*innen haben es ausgeteilt. Erinnert Euch, was Jesus uns sagte: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen! Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz“ (Mt 6,19ff). Es gibt eine Art Attraktion, – ich würde eher sagen – „des Werbens“ zwischen Herz und Reichtum. Aber es ist nicht das schöne „Werben“ mit der Braut, sondern mit der Schwiegermutter. Vorsicht!

Der blinde Wettbewerb um immer mehr Geld ist keine kreative Kraft, sondern eine ungesunde Einstellung, ein Weg ins Verderben. Dieses unverantwortliche, unmoralische und irrationale Verhalten zerstört die Schöpfung und spaltet die Völker. Wir sollten darum nicht auf aufhören, das anzuprangern. Eine Anekdote aus meiner Familie: Unter den Cousins meines Vaters – also unter meinen Cousins zweiten Grades – gab es einen, der unheimlich reich war. Er hatte keine Kinder. Er war ungeheuer gierig und hörte nicht auf, Geld anzuhäufen. Sein Geiz ging so weit, dass Folgendes passierte: Er und seine Geschwister pflegten ihre kranke Mutter, täglich im Wechsel miteinander, morgens und abends reichten sie ihr Joghurt. Auch er gab ihr Joghurt, aber, um zu sparen, jeweils morgens und abends nur die Hälfte. Er starb. Ich konnte nicht zur Beerdigung kommen. Zwei, drei Tage später rief ich meine Cousine an und fragte sie: „Wie war‘s?“ „Tragisch“, antwortete sie. „Was ist passiert?“. „Sie konnten den Sarg nicht schließen?“ „Warum?“ „Er wollte alles mitnehmen.“ Und doch musste er alles lassen, daran führte kein Weg vorbei. Das ist unser Los.

Der Protest-Schrei der Ausgeschlossenen kann auch das schlummernde Gewissen vieler politischer Führungskräfte wecken. Sie sind letztlich dafür verantwortlich, dass die in der Verfassung verankerten und gesetzlich gesicherten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nicht verwirklicht werden. Diese Rechte haben fast alle Länder, die Vereinten Nationen, die Soziallehren aller Religionen anerkannt; sie werden aber häufig in der sozioökonomischen Realität der Völker nicht umgesetzt. Wir als Christen sollten dafür beten, dass Gott uns Weisheit und Kraft schenke, eine echte soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen.

Der Begriff soziale Gerechtigkeit – von der Kirche kreiert –ist untrennbar an Mitgefühl (Compassion) gebunden. Gott charakterisieren drei Eigenschaften: Nähe, Barmherzigkeit und Compassion. Wenn wir beispielsweise ein soziales Anliegen verwirklichen wollen, müssen wir diese drei Attribute beherzigen. Wie gesagt, soziale Gerechtigkeit und Compassion gehören zusammen. In Indonesien habe ich darüber gesprochen. Wisst ihr, was Compassion (Mitleiden) bedeutet? Sicherlich. Compassion bedeutet, mit den Anderen zu leiden und ihre Gefühlslage zu teilen. Das ist ein wunderschönes Wort. Wie wir wissen, besteht Compassion nicht darin, bedürftigen Schwestern und Brüdern Almosen zu geben, indem wir von oben auf sie herabschauen und sie von einer sicheren, privilegierten Position aus betrachten. Compassion bedeutet: einander nahe zu sein. Beim Hören der Beichte, wodurch Gott mir die Gnade geschenkt hat, vergeben zu dürfen, habe ich in den 53 Jahren als Priester niemandem die Absolution verweigert. Wenn ich Beichte höre, frage ich, ob der oder die Beichtende Almosen gibt. Wen darf ich das fragen? Erwachsene natürlich. Dann antworten sie mit Ja. Dann frage ich weiter: Und wenn du ein Almosen gibst, schaust du dann dem Menschen in die Augen, dem du das Almosen gibst? Gibst du es ihm die Hand oder wirfst du ihm das Geld bloß hin? Dann wissen sie häufig nicht, was sie antworten sollen. Sie geben zwar Almosen, aber ihnen fehlt das Mitempfinden, das körperlich, geschwisterlich und tief innen erfahren wird.

Entweder sind wir durch das gleiche Leid verbunden, oder vom Leiden der Anderen betroffen. Wahrhaftige Compassion stärkt die Einheit der Völker und die Schönheit der Welt.

Inhumane Ideologien bringen eine sehr hässliche Kultur hervor: Die „Sieger-Kultur“, ein Aspekt der „Wegwerfkultur“. Manche bezeichnen sie als „Meritokratie“ bzw. „Leistungsgesellschaft“; andere haben keinen Begriff dafür, praktizieren sie aber. Dies sind Leute, die aufgrund gewisser Erfolge in der Welt meinen, sie hätten das Recht, hochmütig auf andere herabzuschauen, insbesondere auf die „Verlierer“. Paradox ist, dass vielfach die großen Vermögen wenig mit eigenem Verdienst zu tun haben. Es handelt sich um Renditen, Erbschaften, um Gewinne durch Ausbeutung von Menschen und Ausplünderung der Natur, außerdem um Gewinne aus Finanzspekulationen oder Steuerhinterziehung, aus Korruption oder organisierter Kriminalität. Gemeinhin werden viele Vermögen auf diese Weise angehäuft.

Niemand, ob mit Verdienst oder ohne, hat das Recht, auf andere von oben herabzuschauen, als wären sie nichts wert. Diese arrogante Haltung ist das Gegenteil von Compassion: Spaß an der Überlegenheit gegenüber anderen, denen es schlechter geht. Und das passiert nicht bloß den Reichen, viele Leute erliegen heutzutage dieser Versuchung. Gucken aus der Ferne, von oben, gleichgültig, verächtlich, voller Hass. So entsteht die Gewalt, so das Schweigen aus Gleichgültigkeit, das Hassparolen zu brüllen möglich macht. Das Schweigen angesichts von Ungerechtigkeit macht den Weg frei zu sozialer Spaltung, diese ebnet den Weg zu verbaler Gewalt, diese wiederum bahnt den Weg zu physischer Gewalt, und physische Gewalt treibt in den Krieg aller gegen alle. Hier wird der Schwanz des Teufels bemerkbar. Vor etwa einer Woche zeigte man mir einen Film über repressive Maßnahmen. Da waren Arbeiter, Menschen, die auf der Straße ihre Rechte einforderten, und die Polizei griff sie an mit einem Mittel, das sehr teuer ist, nämlich mit Pfefferspray von erster Qualität, weil die Demonstrierenden kein Recht hätten, ihre Rechte zu reklamieren. Sie wurden zu Revoluzzern, zu Kommunisten erklärt. Nein, nein, nein! Die Regierung sprach ein Machtwort; statt Geld für soziale Gerechtigkeit auszugeben, verwendete sie teures Pfefferspray. Merkt Euch das.

Wir alle müssen uns gegenseitig aufmuntern. Das müssen wir alle tun. Das Gegenteil davon ist, die Leute im Stich zu lassen und sich über sie lustig zu machen. Dann kommen die Ausreden: „Bin ich vielleicht der Hüter meines Bruders?“ Ich glaube, dies ist die zweitälteste Rechtfertigung in der Bibel, nicht die erste: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ „Ich habe keine Zeit, soll sich jemand anders darum kümmern.“ „Es ist seine eigene Schuld, er hat nicht aufgepasst, wo er hintritt, er ist auf einen gefährlichen Weg geraten, er war nicht klug genug, er hat sich nicht so angestrengt wie ich.“ Eine solche Haltung ist nicht christlich, schlimmer noch, sie ist auch nicht menschlich, so handelt kein Mensch guten Willens. Wir dagegen sollten die Gestrauchelten immer und immer wieder aufrichten. Es gibt nur eine Situation im Leben, in der man einen Menschen von oben herab anschauen darf, und zwar um der Person auf die Beine zu helfen. In keiner anderen Situation darf man herabschauen; vielmehr gilt: Lasst uns also immer die Gestrauchelten aufrichten – alle, gute und schlechte, mit Verdiensten oder ohne. Lasst bitte niemanden im Stich. Es gibt so viele im Stich Gelassene auf den Straßen, so viele Leute, die nichts zu essen haben und auf der Straße stehen, um etwas zu erbetteln, Menschen, die ihr Zuhause verloren, die ihre Arbeit verloren haben oder einfach nicht in der Lage sind, weiterzukommen. Sie können krank sein oder was auch immer, sie sind im Stich gelassen worden. Schauen wir auf die im Stich Gelassenen! Niemand soll im Stich gelassen bleiben! Lasst uns auf sie herabschauen, um ihnen auf die Beine zu helfen!

Als ich vor einigen Tagen die Schule „Irmãs Alma“ (in Dill in Osttimor) besuchte, kamen mir folgende Worte aus dem Herzen in den Sinn: „Ohne Liebe ist das hier nicht zu verstehen.“ Was diese Menschen da leisten bei der Arbeit mit behinderten Kindern!! Es war höchst sympathisch zuzuschauen, wie sie tanzten und Sonstiges taten. Aber ohne Liebe ist das nicht zu verstehen. Ohne Liebe würde man alles daransetzen, diese Kinder möglichst schnell los zu werden. Zum Nachdenken noch eine weitere Beobachtung: Seht ihr noch viele kleinwüchsige Menschen auf der Straße? Gibt es noch viele Kleinwüchsige? Sie sind verschwunden. Als ich jung war, gab es viele Kleinwüchsige auf den Straßen. Aber heute kaum noch. Wenn man sie sieht, dann sieht man sie auf dem Müll. Das ist die Politik des Verwerfens. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass niemand verworfen wird und verworfen bleibt. Es darf keine Selektion von Menschen geben, nur weil einer fähiger ist als der andere, weil er mehr Möglichkeiten hat, weil er mehr oder weniger intelligent ist. Diese Schule „Irmãs Alma“ ist mir in Erinnerung geblieben, weil sie Kinder aufnimmt, die geistig behindert sind oder denen es bereits seit der Schwangerschaft schlecht geht. Genau hier ist mir der Satz in den Sinn gekommen: „Ohne Liebe ist das nicht zu verstehen.“ Wo Menschen selektiert und ausgeschlossen werden, herrscht pure Lieblosigkeit; anders lässt sich das nicht verstehen.

Wenn wir die Liebe als theologische, ethische, ökonomische und politische Kategorie eliminieren, kommen wir vom Kurs ab. Wenn man nur die raffgierige Mathematik der Nützlichkeit, den Individualismus und die Akkumulation im Kopf hat, gibt es für Liebe keinen Platz. Mit dem dunklen Deckmantel der Lieblosigkeit geraten wir stets in eine Art von „Sozialdarwinismus“. Wisst ihr, was das ist? Der Sozialdarwinismus ist das Gesetz des Stärkeren. Dieses Gesetz rechtfertigt erst die Gleichgültigkeit, dann die Grausamkeit und schließlich die Ausrottung. Und das kommt immer vom Bösen.

Soziale Gerechtigkeit und integrale Ökonomie sind nur von der Liebe her zu verstehen. Aber nicht nur diese beiden. Auch das Naturrecht von der Würde, die allen Menschen zukommt; der Auftrag, den wir in all unseren Gesellschaften haben, nämlich die Befriedigung aller Grundbedürfnisse zu garantieren; die universale Verpflichtung, die Natur zu bewahren für alle, die nach uns kommen – nichts von alledem hat etwas mit Ideologie oder mit dem Einmalseins zu tun, sondern allein mit Liebe.

Vergessen wir nicht: „Ohne Liebe sind wir nichts.“ Wir alle sind berufen, diese Liebe in unserem alltäglichen Leben wirksam werden zu lassen, in unseren familiären Beziehungen, bei unserem Handeln in den jeweiligen gesellschaftlichen Gruppierungen. In unseren Mikro- und Makrobeziehungen sind wir darauf verpflichtet. Ich habe verschiedentlich festgestellt, wie aus dem Geringen und von den Peripherien her die große Hoffnung erwächst, die uns dazu ermutigt, den Blick aufwärts zu richten, auf weite Horizonte, was uns die Kraft geben kann, weitreichende Projekte in Angriff zu nehmen, die mehr Menschen erreichen. Möge das Licht jeder gemeinsamen Erfahrung ausstrahlen, auf dass die ganze Menschheit die unwegsame Dunkelheit hinter sich lassen und auf den richtigen Weg zurückkehren kann.

Wieder auf den richtigen Weg zu kommen, bedeutet, eine andere Gesellschaft zu schaffen, aber nicht im Sinne einer Restaurationslogik, die letztlich dazu führt, dass die Kultur des Ausschlusses, in diesem Fall des kulturellen Ausschlusses, reproduziert wird. Schauen wir dankbar auf die Geschichte zurück, die uns vorausgegangen ist. Das ist unser Fundament. Keiner soll uns dieses historische Gedächtnis rauben und den Sinn für die Zugehörigkeit zu einem Volk. Das Gedächtnis schließt auch die grausamen Ereignisse ein. Wir in Argentinien zählen bei 46 Millionen Einwohnern nur ca. 600.000 Ureinwohner. Erinnern wir uns an Julio Argentino Roca, der allen Ureinwohnern die Köpfe abgeschlagen hat, ein infamer Vorgang. Aber er gehört zur lückenlosen Erinnerung dazu.

Kürzlich habe ich die Einwohner*innen von Timor vor bestimmten Krokodilen gewarnt. Es gibt dort eine besondere Art von Krokodilen, die aus Australien kamen und von denen man sagt, sie hätten den stärksten Biss von allen Tieren, die beißen. Merkwürdig ist: wenn sie an den Strand gehen, bewegen sie sich wie Kängurus. Mit der Kraft ihres Schwanzes machen sie Sprünge. Ich habe gewarnt: Seid vorsichtig mit jenen Krokodilen, die Eure Kultur verändern wollen, die Eure Geschichte abbeißen und Euch vergessen lassen wollen, wer ihr seid. Der materielle und der ideologisch-kulturelle Kolonialismus gehen Hand in Hand und verschlingen den materiellen und immateriellen Reichtum der Völker. Ich denke an einige Erfahrungen in meinem Land, wo der Kolonialismus „Lithium“ heißt; damit beutet man so viele Menschen aus!

Hingegen erwachsen die universellen Werte aus den Wurzeln eines jeden Volkes, aus dessen eigener Schönheit, die dem wunderbaren Polyeder der Menschheitsfamilie und des gemeinsamen Hauses eine neue Dimension hinzufügt. Es gibt Interessen, die global, aber nicht universal sind. Diesen Unterschied sollten wir uns merken: global aber nicht universal! Mit anderen Worten: Sie versuchen, alles zu vereinheitlichen und zu vereinnahmen. Habt Acht: Die Krokodile kommen getarnt. Habt Acht, aber keine Angst.

Die Feigheit verleitet viele Politiker*innen, ihre Überzeugungen der Nützlichkeit zu opfern. Sie werden durch die Zähmungsmaschine der großen Medien und der sozialen Netzwerke getrieben, bekommen Angst und kapitulieren. Den wirtschaftlich Mächtigen gegenüber verhalten sie sich dann unterwürfig, ähnlich wie in der Szene im Buch Daniel (Dan3,3), als sich “Satrapen, Präfekten und Statthalter, die Räte, Schatzmeister, Richter und Polizeiobersten und alle anderen hohen Beamten“ niederwarfen, um eine goldene Statue anzubeten und sich so vor dem Feuerofen zu retten. Edle und großherzige Ideale zu leugnen, um dem Gott Geld oder der Macht zu dienen, ist eine große Apostasie. Das geschieht nicht nur bei politischen Führungskräften, sondern auch bei sozialen Akteuren, Gewerkschaftlern, Künstlern, Intellektuellen und auch bei Priestern. Man sagt, dass die Soutanen riesige Taschen haben. Auch das gibt es.

Die Gunst der realen Machthaber zu gewinnen, bringt Vorteile. Es hilft, auf der bürokratischen Pyramide formaler Macht hochzuklettern, aber es bedeutet Verrat. Alle, die beharrlich geklettert haben, kommen oben an, und was zeigen sie dann? Meine Großmutter hat mir das beigebracht: Wenn sie oben sind, ist das Einzige, was sie zeigen, ihr Hinterteil. Das ist im Kern die Korruption. Manchmal liegt sie offen zutage, durch unmenschliche Reden, die dann praktisch in ungerechte politische Maßnahmen umgesetzt werden. Oder manchmal auch verdeckt durch beschönigende Reden, die durch Unterlassung wiederum zu ungerechten politischen Maßnahmen führen. Um herauszufinden, aus welchem Holz eine politische Persönlichkeit gemacht ist – und, vergessen wir es nicht, dazu zähle ich auch Priester und Bischöfe um also herauszufinden, aus welchem Holz eine führende Persönlichkeit gemacht ist, darf man nicht so sehr auf das hören, was sie sagt, sondern muss sich anschauen, was sie tut. Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee (vgl. EG Nr. 231ff). Vergesst dieses Prinzip nicht! Die Wirklichkeit ist immer wichtiger als die Idee. Man kann gute Ideen einbringen und darüber reden, aber was ist die Realität?

Ihr müsst den Politikern helfen, sich nicht den „Krokodilen“ auszuliefern, damit sie nicht aus Angst vor dem Feuerofen vor der goldenen Statue niederknien. Ihr müsst Hüter der Gerechtigkeit sein. Ihr müsst präsent sein, um sie daran zu erinnern, in wessen Dienst sie stehen. Ihr müsst wie die Witwe im Evangelium vorgehen (Lk 18, 1-8), hartnäckig darauf bestehen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Diese Taktik hat Jesus uns gelehrt. Sicherlich werdet ihr noch andere Taktiken finden, aber bitte immer gewaltlos. Setzt Euch für den Frieden ein. Krieg ist ein Verbrechen.

Allmählich möchte ich zum Ende kommen. Es dauert auch nicht mehr lange. Aber zwei Themen, die uns als Kirche und Soziale Bewegungen gemeinsam gestellt sind, möchte ich noch behandeln. Diese Themen beschäftigen mich sehr.

Erstens: Drogenhandel, Kinderprostitution, Menschenhandel, brutale Gewalt in Stadtvierteln und organisierte Kriminalität aller Art nehmen zu. Ich denke an eine mutige argentinische Frau, Peressutti, die gefangen genommen wurde, weil sie alle diese Dinge anprangerte. Sie nehmen in der Tat zu, weil dafür der Nährboden durch Elend und Exklusion bereitet ist. Sie nehmen zu, wenn man sich nicht um soziale Integration kümmert und randständige Armenviertel ohne Wasser bleiben, ohne Abwasser, Strom, Heizung, Gehwege, Parks, Gemeindezentren, Vereine und Pfarreien. Nichts davon gibt es dort. Auch in ländlichen Regionen nehmen die erwähnten Verbrechen zu, wenn das Land ungerecht verteilt ist, keine ausgewogene Raumplanung stattfindet, bäuerliche Familienbetriebe nicht kontinuierlich unterstützt, die bäuerlichen Familien nicht respektiert werden, so dass sie schließlich kriminellen Machenschaften ausgeliefert sind. Man muss zwar die strukturellen Ursachen angehen, aber auch die alltäglichen Erfahrungen im Blick haben. Beides muss gleichzeitig geschehen.

Ich weiß, dass ihr keine Polizei seid, ich weiß, dass ihr den kriminellen Banden nicht direkt entgegentreten könnt, wie es so viele gute Polizist*innen tun … Aber ich fordere Euch dazu auf, indirekt gegen die Verbrechen vorzugehen: und zwar durch die Basisarbeit, die ihr mit so vielen anderen Menschen leistet; viele Menschen in der Kirche sind oft die letzte Bastion zur Eindämmung der Gewalt. Bekämpft die kriminelle Wirtschaft weiterhin mit der Solidarwirtschaft („economía popular“). Ich weiß nicht, ob es legitim ist, von „economía popular“ („Solidarwirtschaft“) zu sprechen. Ich denke schon. Und wenn es etwas ist, das niemand versteht, setzt es in die Tat um, damit alle es verstehen. Lasst bitte nicht locker. Ich weiß, dass ich um etwas Schwieriges bitte, aber es ist höchst notwendig. Kein Mensch, erst recht kein Kind darf Handelsware in den Händen von Todeshändlern sein, also derjenigen, die später ihr Blutgeld waschen und mit angesehenen Herren in besseren Restaurants dinieren. Und wenn ich von Kindern spreche, spreche ich auch von den alten Menschen. Humane Kultur erweist sich darin, wie für Kinder und Alte gesorgt wird. Wenn alte Menschen in ein Altenheim gesteckt werden und dort allein gelassen vor Kummer sterben, kann die Kultur eines solchen Volkes nicht als human bezeichnet werden. Wenn Kinder nicht aufgenommen werden, nicht dafür gesorgt wird, dass sie gut aufwachsen können, dann hat ein solches Volk keine Zukunft. Das gehört zusammen: die Kultur, die Kinder und die Alten. Kümmert Euch um die Kinder und die alten Menschen. Irgendwo habe ich mal gelesen, ich weiß nicht mehr wo, dass eine Erklärung der Rechte der Kinder und der Rechte der alten Menschen in die Verfassung eines Landes aufgenommen werden sollte. Dann kamen andere und haben diese Erklärung wieder herausgenommen. Als ob sie sagen wollten: „Unser Land kümmert sich verfassungsmäßig nicht um Kinder und alte Menschen.“ Eine schwer erträgliche Botschaft.

Ich möchte auch noch über andere destruktive Situationen sprechen, die vor allem in den ärmeren Sektoren vorkommen, aber alle Gesellschaftsschichten betreffen: Online-Glücksspiele und Missbrauch der digitalen Netzwerke. Es macht mich traurig, mitzubekommen, dass einige Fußballvereine und Sportstars für Glücksspielplattformen werben. Das ist kein Glücksspiel, sondern Sucht. Damit greifen sie den Menschen in die Taschen, insbesondere den Arbeitern und Armen. Man erzählte mir, dass es in einer Stadt, die ich sehr gut kenne, ein Phänomen gibt, dass die pensionierten Frauen und Rentnerinnen ihre Rente nehmen und fürs Glücksspiel einsetzen. Schrecklich! Das zerstört ganze Familien. Kümmert Euch darum, kümmert Euch um die sozial Letzten. Erzählt allen, was Ihr mir erzählt habt, erzählt von den psychischen Erkrankungen, der Verzweiflung und den Selbstmorden, die in solchen Häusern vorkommen, in denen es über das Mobiltelefon ein Casino gibt.

Das sind schlechtesten Seiten der Technologie, die ja auf der anderen Seite auch so viel Gutes bewirkt. Die Technologie ist im Prinzip gut, aber sie bringt auch solche schlechten Dinge mit sich. Wir müssen hier ein Gleichgewicht finden, das nicht der Logik des Profits überlassen werden darf. Ich fordere die Unternehmer der IT-Branche, der digitalen Plattformen, der sozialen Netzwerke, der künstlichen Intelligenz auf: Seien Sie nicht so hochmütig zu glauben, Sie stünden über dem Gesetz. Seien Sie respektvoll gegenüber den Ländern, in denen Sie tätig sind, und übernehmen Sie die Verantwortung für das, was auf den von Ihnen kontrollierten Plattformen passiert.

Sie haben die Pflicht, sich wie Sozialarbeiter zu verhalten, nämlich die Verbreitung von Hass, von Gewalt, von Fake News (die so viel Einfluss haben) sowie die extreme Polarisierung und den Rassismus zu verhindern. Sie haben auch die Pflicht, zu verhindern, dass die sozialen Netzwerke zur Verbreitung von Spielsucht, Kinderpornographie oder organisierter Kriminalität genutzt werden. Sie dürfen nicht die von den Bürger*innen bereit gestellten oder von öffentlichen Körperschaften gesammelten Daten ausschließlich zum eigenen Vorteil plündern, ohne den Menschen etwas zurückzugeben. Glauben Sie bitte nicht, dass Sie irgendjemandem überlegen sind. Und ein bescheidener Rat: Zahlen Sie Ihre Steuern. Das ist sehr wichtig. Ich wüsste nicht, jemals gehört zu haben: „Ich beschuldige mich, keine Steuern zu zahlen.“ Eher sind Sie Meister darin, Steuerschlupflöcher zu finden. Wie oft geht man in ein Restaurant oder in einen Supermarkt und beim Bezahlen wird man gefragt: „Möchtest Du einen Bon oder nicht?“

Jedes Vermögen ist das Produkt der Arbeit von vielen Personen und vielen Generationen; es ist das Ergebnis von öffentlichen Investitionen in wissenschaftliche Erkenntnisse und staatlicher Entwicklung der Infrastruktur. Alle „Wunder“, die wir heute genießen, verdanken wir der unternehmerischen Erfindungsgabe, aber auch den bescheidensten Familienmüttern, die die Kinder Ihrer Mitarbeiter*innen aufziehen. Darum ist es nur gerecht, dass die Früchte einer solchen intergenerationellen und kollektiven Anstrengung unter allen Mitgliedern der Gesellschaft verteilt werden.

Ich möchte Euch daher an Euren Vorschlag erinnern: nämlich an das allgemeine Grundeinkommen, damit in Zeiten der Automatisierung und der künstlichen Intelligenz, in Zeiten des informellen und prekären Arbeitsmarktes niemand von den für das Leben notwendigen Basisgütern ausgeschlossen wird. Das ist einerseits „Compassion“, weil ohne Liebe nicht erklärbar, aber zugleich auch strikte Gerechtigkeit.

Zum Schluss, liebe Schwestern und Brüder. Wir alle haben uns in diesen Jahren verändert, die einen sind erwachsener, die anderen älter geworden. Ich vertraue Euch etwas an, woran ich in letzter Zeit viel denke. Das hat vielleicht mit dem Alter zu tun. Wie sehr wünsche ich, dass die neue Generation eine viel bessere Welt vorfindet, als die, die wir bekommen haben! Aber vielleicht müssen wir auch eingestehen, dass unsere Nachkommen eine schlechtere Welt vorfinden werden. Das ist kein Pessimismus; vielmehr haben wir eine Welt voller Blut durch Kriege und Gewalt vor Augen, verwundet durch wachsende Ungleichheit, verwüstet durch Ausbeutung der Natur, entfremdet durch entmenschlichte Formen der Kommunikation, desinformiert durch gewinnsüchtige Nutzung von Informationsmedien, eine Welt ohne politische, soziale und ökonomische Paradigmen, die uns einen Weg weisen, ein Welt mit wenigen Utopien und ungeheuren Bedrohungen. Wenn ihr anderer Meinung seid, diskutiert es und korrigiert mich. Ich jedenfalls bin dieser Meinung.

Vor diesem Hintergrund macht es mir Hoffnung, dass ihr das Motto „Land, Wohnung und Arbeit“ („tierra – techo – trabajo“) die drei „T“ hoch haltet und beherzigt. Dafür bin ich Euch dankbar. Auch angesichts des massiven Pessimismus glaube ich immer noch an den Sauerteig, der große Kraft in sich birgt. [vgl. Mt 13,33] Wenn ihr dieser Sauerteig seid, werden sich die Dinge verändern. Auch weiß ich, dass ihr die Zusammensetzung des Leitungs-Komitees für diese Treffen verändert habt, dass Ihr den Staffelstab an andere jüngere Führungskräfte weitergegeben habt. Das gefällt mir auch. Verfallt also bitte nicht der Sucht, Posten anzuhäufen. Verfallt nicht in den Fehler, Räume zu monopolisieren und Euch an sie zu klammern. Drängt immer auf Prozesse, auf Prozesse, die sich permanent erneuern. Seid Protagonisten von Prozessen! Die Zeit verrät uns nie, wenn wir uns dessen bewusst sind, dass der Weg weder mit mir beginnt noch endet. Wie eine ältere Frau sagte: „Mit mir und auch ohne mich!“

Unser Weg geht weiter, indem wir gemeinsam träumen und dafür arbeiten, dass die Arbeitnehmer*innen Rechte haben, alle Familien ein Dach über dem Kopf, alle Landarbeiter*innen Land haben, alle Kinder eine Ausbildung genießen, alle jungen Leute Zukunft vor sich sehen, alle alten Menschen einen guten Ruhestand erleben, alle Frauen Gleichberechtigung erfahren, alle Völker Souveränität besitzen, alle indigenen Völker über Territorien verfügen, alle Migrant*innen willkommen sind, alle Ethnien Anerkennung finden, alle Religionen frei sind, alle Welt-Regionen in Frieden leben, alle Ökosysteme geschützt werden. Es ist ein ständiger Weg, mit Fort- und Rückschritten, mit Fehlern und Erfolgen. Aber zweifelt nicht: Es ist der richtige Weg. Wenn es Euch eines Tages zu langweilig werden sollte und ihr in Konfrontation gehen wollt, dann tut es mit dem Lächeln eines Babys, eines Kindes und mit dem verschmitzten Lächeln eines älteren Menschen. Das nehmt als Prüfstein mit!

Tief aus meinem Herzen sage ich Euch: Ich bete für Euch und ich bete gemeinsam mit Euch, ich bitte unseren Vater, Euch zu behüten und zu segnen, Euch mit seiner Liebe zu erfüllen und auf Eurem Weg zu begleiten, indem er euch großzügig jene Kraft gibt, die uns trägt, die Kraft der Hoffnung. Die Hoffnung enttäuscht nicht, sie ist zwar die schwächste Tugend, aber sie enttäuscht nicht. Lasst uns nicht müde werden auszurufen: Kein Mensch ohne Würde! Kein Mensch ohne Hoffnung!

Und, bitte, betet für mich. Auch ich habe es nötig. Ich bin ein Sünder. Und wenn jemand unter Euch nicht beten kann, respektiere ich das, aber schickt mir bitte wenigstens gute Wünsche. Vielen Dank.

Aus dem Spanischen übertragen von Norbert Arntz und Norbert Mette.