Unser neuer ITP-Rundbrief Nr. 47 ist erschienen!
Er enthält Beiträge zu den G20-Protesten, zur theologischen Reflexion über die Treffen der Sozialen Bewegungen mit Papst Franziskus, zu Thomas Müntzer und dem Reformationsjubiläum, sowie dem Begriff des Resilienzkapitalismus. Der Rundbrief ist kostenlos beziehbar über: kontakt[at]itpol.de und kann auch hier als PDF heruntergeladen werden: Rundbrief47
Inhalt
Julia Lis: Hoffnung entsteht aus Rebellion. Rückblick auf die G20-Proteste in Hamburg
Benedikt Kern: „Manchmal denke ich, dass ihr tut, was Jesus tat“. Soziale Bewegungen und arme Kirche
Claudia Huml und Andreas Kückmann: „Das volck wird frey seyn!“ Thomas Müntzers vergessene Reformation
Andreas Hellgermann: Auf das wir Bereitschaftsmaschinen werden! Resilienz als Selbsttechnologie
Liebe Freundinnen und Freunde des ITP,
Solidarität muss von unten organisiert werden. Diese Grunderfahrung, wie Solidarität praktisch werden kann wider die vermeintliche Alternativlosigkeit der bestehenden Verhältnisse, konnten wir als ITP in diesem Sommer vielfach machen: bei den Protestaktionen gegen den G20-Gipfel in Hamburg und bei den Klimaprotesttagen „Ende Gelände“ im rheinischen Braunkohlerevier.
Solidarität von unten wird erlebbar, wo Menschen auf der Straße zusammenkommen, wo sie ihren Mut und ihren Willen zur Veränderung der Ohnmacht organisieren, wo etwas aufleuchtet von dem anderen solidarischen Leben jenseits der kapitalistischen Traurigkeit dieser Verhältnisse. Solidarität von unten muss aber auch im Alltag organisiert werden, sie verlangt nach kontinuierlicher Arbeit, verbindlichen Strukturen und einem langen Atem.
Ein Beispiel für eine solche solidarische Praxis von unten ist für uns das Kirchenasyls. Der zivile Ungehorsam des Asyls in der Kirche schützt das Recht auf Rechte derjenigen, die unter die Räder der sich immer weiter verschärfenden Asylgesetze geraten. Gemeinden darin zu unterstützen, wenn sie die Gewissensentscheidung zu dieser aktiven Form des Menschenrechtsschutzes treffen, haben wir uns im ITP seit ca. zwei Jahren als einen Arbeitsschwerpunkt gesetzt. Hierbei ist für uns die Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW e.V., welches schon seit den 1990ern in Nordrhein-Westfalen die Kirchenasylarbeit voranbringt, besonders wichtig geworden. Seit Mai dieses Jahres arbeitet Benedikt Kern vom Netzwerk finanziert mit einer halben Stelle im ITP in der Unterstützung von Geflüchteten und Gemeinden. Diese operative Arbeit im Bereich Kirchenasyl ist für uns Teil unserer Bemühungen, die Kontinuität der Arbeit des ITP auch durch bezahlte Stellen zu organisieren und zu ermöglichen. Das ist ein langer, mühsamer Weg, auf dem wir uns aber von euch und Ihnen ermutigt und getragen fühlen. Bilden wir also gemeinsam weiter solidarische Netzwerke und Strukturen von unten!
Ihr und Euer ITP-Team
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Hoffnung entsteht aus Rebellion!
Rückblick auf die G20-Proteste in Hamburg
von Julia Lis
Auch wenn mediale Bilder in den Tagen während und unmittelbar nach dem G20-Gipfel in Hamburg etwas anderes suggerierten, Protestierende als Chaoten und Terroristen diffamierten und den Eindruck bürgerkriegsähnlicher Zustände zu erwecken versuchten, blieben in den Köpfen von vielen AktivistInnen, die diese Tage in Hamburg erlebt und mitgestaltet hatten, andere Erinnerungen zurück.
Es waren tatsächlich Bilder rebellischer Hoffnung, die sich in das Gedächtnis vieler eingeprägt haben: Menschen, die auf den Protokollstrecken der Staatschefs Sitzblockaden bildeten und die Konvois bei der Anfahrt massiv behinderten, Menschen, die massenhaft in die blaue Zone eindringen, in der man doch jegliche Versammlungen untersagt hatte, Menschen, die mit erhobenen Händen auf Wasserwerfer zugehen. So blieb bei vielen von jenen, die in Hamburg dabei waren, das Gefühl zurück: Wir haben unsere Angst verloren. Dass das möglich wird, wo Menschen trotz Ankündigungen von Repression, trotz allem, was sie einschüchtern und entmutigen soll, ihr grundsätzliches NEIN zu diesen Verhältnissen auf die Straße tragen, das erzeugt Hoffnung, dass Widerstand auch heute möglich und wirklich ist.
Widerstand in Zeiten des Resilienzkapitalismus
Eines der großen neuen Themen die sich, die G20 im Jahr der deutschen Präsidentschaft auf die Agenda gesetzt haben, ist das Thema der Resilienz. Dahinter steckt ein neues Narrativ, eine neue Erzählung: die Risiken in dieser Welt sind nicht mehr abzuwenden, die Probleme nicht endgültig und im Sinne einer umfassenden Verbesserung für alle Menschen zu lösen. Was also bleibt, ist die Probleme zu managen und die Menschen fit, also resilient, zu machen, um mit diesen Problemen und Risiken umgehen zu können. Das genau ist der grundsätzliche Anspruch der Herrschenden, die sich bei den G20-Treffen versammeln: diejenigen zu sein, die die kapitalistische Dauerkrise, die sich im ökologischen Bereich ebenso äußert wie im sozialen, unter Kontrolle halten können und die Menschen weltweit darauf vorbereiten, dieser Krise und den damit verbundenen Anforderungen standzuhalten. Dazu diente die Inszenierung der Mächtigen in Hamburg und damit korrespondierte ihr Auftreten. Bewusst hatten sie sich als Kulisse eine Metropole wie Hamburg ausgewählt und deutlich gemacht, dass sie auch diesen Gipfel störungsfrei managen können, dass sie den Protest unter Kontrolle haben. Diese Kontrolle ist ihnen im Laufe der Tage immer wieder entglitten: Verkehrschaos, Demonstrierende, die überall auftauchten und die Verbotszonen faktisch inexistent machten und ein Polizeieinsatz, der über weite Strecken einen chaotischen Eindruck erzeugte.
Das passte durchaus zum Bild, das im Ergebnis auch die G20-Verhandlungen boten: kaum Einigungen oder Ergebnisse, die unterschiedlichen Interessen kamen immer wieder zum Vorschein und verunmöglichten, dass bei Themen wie Klimaschutz, Flucht oder Handelspolitik zumindest die Fassade von Geschlossenheit und gemeinsamen Lösungen für die Probleme der Welt aufrecht gehalten werden konnte.
„Rebellion ist unsere Erinnerung! Rebellion ist unsere Hoffnung“
Mit diesen Worten hatte die brasilianische Theologin Nancy Cardoso Pereira auf unserer Strategiekonferenz im ITP im Frühjahr 2015 umschrieben,1 was für sie die Geschichte der Befreiungstheologie ausmacht: Eine Folge von Unterbrechungen zu sein, von Rebellionen gegen die Faktizität des Bestehenden. Für die ChristInnen, die sich am ITP zum Arbeitskreis gegen G20 zusammgefunden hatten, war der Gipfel in Hamburg ein wichtiger Ort, um ihre rebellische Hoffnung auf eine Welt der Gerechtigkeit und des Lebens in Fülle für alle zum Ausdruck zu bringen, wie es im Aufruf zu den Protesten hieß. Bewusst haben sie an der Demonstration am Samstag (8.7.2017) teilgenommen, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen mit allen anderen Protestierenden, aber auch um zu zeigen, dass es nicht ausreicht, den Worten von Papst Franziskus, „diese Wirtschaft tötet“, nur abstrakt zuzustimmen, sondern dass sie in konkrete Handlungen übersetzt werden müssen.
Solch eine konkrete Positionierung ist auch unter ChristInnen kaum konsensfähig. Wer sich dazu bekannte in Hamburg an den Protesten beteiligt gewesen zu sein, dem schlug insbesondere in den Tagen unmittelbar danach, inmitten medialer und politischer Hetze, vielerorts Unverständnis oder gar die Kriminalisierung des eigenen Protestes entgegen. Diese sehr konkrete, unangenehme Erfahrung verweist dabei auf eine andere zentrale befreiungstheologische Einsicht: dass eine Positionierung in einer Welt widerstreitender Interessen immer zu Konflikten führt. Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach den Bundestagswahlen, nicht nur der Aufstieg der Rechten, die sich in der AfD sammeln, sondern auch der erstarkende Diskurs von Sicherheit und Ordnung in den Parteien, die gleichzeitig versuchen, sich als lupenreine DemokratInnen zu profilieren, verweist darauf, dass wir als ChristInnen angesichts solcher Konflikte weder schweigen noch passiv bleiben können. Vielmehr sind wir alle weiterhin dazu aufgerufen nach solidarischen Formen der Rebellion zu suchen, die die Hoffnung auf eine andere, gerechte Welt bei uns und anderen immer wieder neu entfachen können.
1Vgl. Cardoso Pereira, Nancy: Wir werden gehindert, unterbrochen, aber wir werden siegen! Die Christ_innen (Kirchen) und der Widerstand, in: Geitzhaus, Philipp/Lis, Julia/Ramminger, Michael (Hg.): Auf den Spuren einer Kirche der Armen, Münster 2017, 157.
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„Manchmal denke ich, dass ihr tut, was Jesus tat“
Wie die Sozialen Bewegungen eine Kirche der Armen zum Kampf um neue gesellschaftliche Verhältnisse anstiften könnten
von Benedikt Kern
Bereits drei Mal hat sich Papst Franziskus mit linken Sozialen Bewegungen aus aller Welt getroffen und sie darin bestärkt, für eine progressive Veränderung „von unten“ zu kämpfen. Doch was ergibt sich daraus theologisch für die Kirche und ihre Praxis?
Die seit 2014 jährlich stattfindenden Welttreffen des Papstes mit einigen Sozialen Bewegungen und die daraus entstandenen Kontinentaltreffen in Argentinien und den USA stellen in Bezug auf die Zusammenarbeit von katholischer Kirche und linken Basisbewegungen einen Meilenstein in der jüngeren Kirchengeschichte dar. Dies steht in engem Zusammenhang mit dem Kirchenreformprojekt dieses Papstes, der vor allem in seinem Schreiben Evangelii Gaudium (EG) deutlich gemacht hat, dass die katholische Kirche eine Kirche der Armen werden muss. Dass „Kirche der Armen“ nicht allein bedeutet, dass es eine verstärkte karitative Ausrichtung der kirchlichen Praxis geben soll, sondern dass es hierbei um eine solidarische und parteiliche Positionsbestimmung geht, die die gesellschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich zu verändern versucht, unterstreicht Franziskus durch sein spezifisches Verständnis von Veränderung und seine deutliche Götzenkritik am Kapitalismus in den Ansprachen der Treffen.
Soziale Bewegungen und das Reich Gottes
Franziskus bezeichnet die Bewegungen mit ihrer solidarischen Graswurzel-Praxis als organisierte „Protagonisten an den großen Wandlungsprozessen“ (Ansprache Welttreffen 2015), da sie sich „im Zentrum des menschlichen Unwetters“ (ebd.) befänden. Diese Praxis wird von Franziskus als Beispiel befreienden Handelns beschrieben: „Manchmal denke ich, dass ihr tut, was Jesus tat“ (Ansprache Welttreffen 2016). Als Konsequenz leitet er daraus ab, dass die Kirche diesen sozialen Kämpfen nicht fernstehen kann und darf (vgl. Ansprache Welttreffen 2015).
Daran lassen sich zwei theologisch zentrale Anknüpfungspunkte ausmachen: Zum einen, dass die parteiliche Praxis der Bewegungen als Aufbauarbeit des Reiches Gottes verstanden werden muss. Hierbei geht es nicht um eine theologische Vereinnahmung säkularer AkteurInnen, sondern dies stellt für die Kirche einen Verständnisrahmen der Bewegungspraxis dar. Dieser wiederum kann zum zweiten dazu führen, dass die Kirche selbstkritisch ihre Evangelisierung an den realen Verhältnissen entsprechend der prophetischen Tradition neu ausrichtet.
Die Welttreffen als Bewährungsprobe einer Kirche der Armen
Die Kirche der Armen ist für Franziskus eine evangelisierende Kirche, d.h. dass sie sich selbst und die Gesellschaft im Sinne des Evangeliums umgestaltet wider die vorherrschende destruktive Kraft des kirchlichen Narzissmus (von dem Kardinal Bergoglio im Konklave bereits gesprochen hatte). Wenn die Kirche ihre Selbstbezüglichkeit überwinden soll, dann benötigt sie eine mit den Sozialen Bewegungen geteilte Hoffnung, als Quelle der Kraft für die sozialen Auseinandersetzungen (vgl. Ansprache Welttreffen 2014). So kann eine Kirche der Armen ihre Sendung realisieren, „Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein“ (EG 187).
Die Welttreffen können somit als Bewährungsprobe einer Kirche der Armen, die sich um progressive gesellschaftliche Veränderung müht, verstanden werden: Franziskus verdeutlichte in seiner Ansprache auf dem Welttreffen von 2015, dass die Kirche den Bewegungen nicht fern bleiben dürfe – erst recht nicht, wenn sie eine Kirche des Aufbruchs werden sollte, die „Gefahr läuft, sich mit dem Schlamm der Straße zu beschmutzen“ (EG 45).
Es ist eine bleibende Herausforderung für die Allianz von Kirche und Sozialen Bewegungen, Orte der Begegnung, der gemeinsamen Artikulation und der Umsetzung verändernder solidarischer Praxis zu schaffen. Dies stellt kirchlicherseits Fragen an eine Pastoral und ihre Handlungskonzepte für eine Kirche der Armen unter den jeweiligen kontextuellen Bedingungen. Es lässt sich festhalten, dass die Praxis beider Seiten durch eine intensivierte Allianz gestärkt würde – und dies ist in den gegenwärtigen globalen Verhältnissen angesichts von Krieg, wirtschaftlicher Ausbeutung und den unterschiedlichen Unterdrückungsformen nötig. Dies werden wir als ITP weiterhin theologisch reflektieren und versuchen daraus Handlungsoptionen in der Zusammenarbeit mit Sozialen Bewegungen zu entwerfen.
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„Das volck wird frey seyn!“
Thomas Müntzers „vergessene Reformation“
von Claudia Huml und Andreas Kückmann
Wer war dieser Mann, dessen Theologietreiben noch heute für linke TheologInnen interessant ist und Anknüpfungspunkte für Denken und Handeln gibt? Diese schillernde Persönlichkeit wurde in den letzten 500 Jahren als Ketzer, Aufrührer und Revolutionär interpretiert.
Da ist kein Bild von Thomas Müntzer. Sein wahres Aussehen ist heute nicht mehr bekannt. Erst 80 Jahre nach seinem Tod tauchte das Porträt des Niederländers Christoph van Sichem auf, ein Fantasiebild für eine Ketzerchronik.
Müntzer, 1489 im thüringschen Stolberg geboren, absolvierte eine solide akademische Ausbildung als Theologe und Priester. Er arbeitete als Prediger und Seelsorger in ganz Deutschland. Dabei geriet er mit seinen Vorstellungen und seiner Theologie zunehmend in Konflikt mit der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit. Müntzer sah das Christentum auf dem Weg in eine neue Epoche der Gerechtigkeit und Freiheit. Zu Beginn seines Wirkens noch eng an der Wittenberger Theologie orientiert, entfernte er sich im Laufe seines Lebens immer mehr von ihr. 1523 kam er als Pfarrer nach Allstedt, wo er eine Gemeinde nach dem Vorbild der Urkirche aufbauen wollte. Müntzer, der in der Feier des Gottesdienstes eine religionspädagogische Möglichkeit sah, das Volk zu bilden, formulierte als erster Theologe der Reformationszeit eine Neuordnung des Gottesdienstes.
Am 13. Juli 1524 übernachtete eine Gesandtschaft der Landesherren im Allstedter Schloss. Müntzer ergriff die Gelegenheit um sie mit deutlichen Worten an ihre Verantwortung für das Volk zu erinnern. In dieser heute noch bekannten „Fürstenpredigt“, die ohne gottesdienstlichen Anlass stattfand, stellt Müntzer den Zerfall der Christenheit dar. Er übt dabei Kritik an der gegenwärtigen Kirche und schließt auch die aus seiner Sicht mangelhaften Reformen der Wittenberger Theologen mit ein. Angelehnt an das Buch Daniel, erläutert er die Abfolge der vier Reiche im Traum Nebukadnezars und erweitert es um das fünfte Reich, das gegenwärtige Heilige Römische Reich deutscher Nation. Dieses sei am Ende, denn Gott wolle wieder seine ursprüngliche Ordnung herstellen. Die unfähigen Wahrsager des Königs werden mit dem Klerus verglichen, der den Machthabern den falschen Glauben predigt und doch nur seinen Wohlstand sichern will. Er fordert die Fürsten auf, sich nicht von den „Pfaffen und allen bösen Geistlichen beschwatzen“ zu lassen.
„Am volck zcweifel ich nicht“
Vor diesem Hintergrund kritisierte er die sozialen und politischen Missstände. War Müntzer noch zu Beginn überzeugt, die Fürsten für seine Sache gewinnen zu können, stellte er sich im Lauf der Geschehnisse ganz auf die Seite des ausgebeuteten Volkes. Das Reich Gottes soll geschichtsimmanent durch die Kinder Gottes herbeigeführt werden. Geprägt von spätmittelalterlichen Mystikern, wie Johannes Tauler und Heinrich Seuse, orientiert sich für ihn der wahre Glaube am Leidensweg Jesu Christi. Diese Nachfolge des „bitteren Christus“ bedeutete für Müntzer konkret die Rebellion gegen die weltliche Obrigkeit. Dabei beginnt der Widerstand zuerst mit einer Veränderung des Menschen im Inneren, indem die Kreaturenfurcht, die Angst vor allem von Menschen Geschaffenen, überwunden wird. Indem der Mensch sein Verhältnis zur Welt verändert, verlieren die gesellschaftlichen Verhältnisse ihren angsteinflößenden und ausbeuterischen Charakter. Es entsteht aus dem Innersten des Menschen eine andere Welt. Das Reich Gottes bricht damit in allen Auserwählten an. Die Auserwählten sind nicht die Herrschenden, sondern jene, die in der Lage sind, den Geist Gottes im Inneren zu erfassen. Er verbindet die mystische Denkweise so mit einer apokalyptischen Vision, in der die persönlich-innere Erneuerung des Menschen und die Veränderung der Verhältnisse zusammengehören. Müntzer nimmt dabei die Perspektive der Menschen ein, die unter den Verhältnissen leiden. All sein Predigen, Schreiben und Arbeiten in der Gemeinde zielten darauf, das gemeine Volk zu befähigen, sich aus feudaler Unterdrückung zu befreien.
War sein Kampf umsonst?
Vor der großen Schlacht im Mai 1525 appellierte er in einem mitreißenden Aufruf an die Aufständischen die große eschatologische Wende herbeizuführen. In Frankenhausen wurde das Heer der Aufständischen brutal niedergeschlagen. Müntzer floh, wurde aber später gefangen und am 27. Mai 1525 vor den Toren der Stadt Mühlhausen hingerichtet.
Müntzer sprach den Bauern durch seine Theologie grundlegend die Legitimation zu, die bestehenden Verhältnisse zu verändern. Als einer der Ersten begriff er damit Geschichte als veränderbar. Gegenwärtig gibt es zwar keine feudale Gesellschaft, wohl aber den Kapitalismus mit seiner Teilung der Welt in Unterdrücker und Unterdrückte. Auch heute noch geht es darum, diese Grausamkeiten zu beenden.
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Auf dass wir Bereitschaftsmaschinen werden!
Resilienz als Selbsttechnologie
von Andreas Hellgermann
Resilienz heißt heute: Die Welt an sich abprallen lassen. Sich nicht umwerfen lassen und unberührbar werden.
Bei Markus, Matthäus und Lukas ist die Begegnung Jesu mit den Kindern von nicht unerheblicher Bedeutung. Und sie kontrastiert mit zwei entscheidenden Momenten – in allen drei Evangelien. Die Kinder sind zum einen subversives Gegenelement gegen die hierarchisierenden Festlegungen der sozialen Ordnung und zum anderen stehen sie im Gegensatz zu der Unmöglichkeit, dass der Reiche – als Reicher – einen Platz im Reich Gottes hat. Zudem ist wichtig, dass es im NT verschiedene Wörter für das Kind gibt: z.B. als Nachkomme und als zu erziehendes. Die zweite Variante – paidia – mit der die Kinder hier bezeichnet werden, steht in der Nähe zum Knecht bzw. Sklaven – pais – und reflektiert auch die Tatsache, dass die Kinder der Armen im ökonomischen Prozess in einer Weise ausgebeutet wurden, die der von Sklaven vergleichbar ist. Auch können die hier gemeinten Kinder „Straßenkinder“ sein – ausgeliefert und entrechtet. Dazu gäbe es mit einer materialistischen Lektüre Genaueres zu sagen.
Nur zwei Punkte. 1. Jesus stellt die Fähigkeiten der Kinder einer ausbeuterischen und unterdrückerischen Sozialordnung entgegen, die immer auf Hierarchien setzt. Die Einordnung der Kinder dort hinein ist für eine messianische Gegen-Ordnung das Skandalon. Dass diese Einordnung – auch begrifflich – durch den Erzieher geschieht, ist offenkundig. 2. Jesus setzt stattdessen die Berührbarkeit, das Anrühren, das den Segen ermöglicht und die Welt des Ausschlusses aufbricht. Dem steht der Reichtum des Reichen gegenüber, der nicht nur ausbeutet, unterdrückt, tötet, sondern auch unberührbar macht. Diese Unberührbarkeit braucht der Reiche als ideologische Absicherung seiner eigenen Klasse, gewissermaßen als Schutzmaßnahme seiner selbst, um den Klassenkampf von oben in aller Brutalität führen zu können.
Was für eine Welt fordert von uns Resilienz?
Und dem Armen wird die Unberührbarkeit anerzogen, um das Elend auszuhalten oder zumindest nicht dagegen aufzustehen.
Resilienz gehört zu den Eigenschaften, von denen fast jeder, wenn er davon hört, zunächst sagt: Ja, das ist doch erstmal nichts Schlechtes, wenn mich nicht alles sofort aus der Bahn wirft, wenn ich nicht so stressanfällig bin und auch schneller wieder aufstehen lerne. Das mag sein (und in diesem Sinne könnte man sagen, dass es ja auch eine brauchbare oder gar notwendige revolutionäre Tugend ist), aber was für eine Welt ist das, die das von uns fordert?
Das resiliente Kind, das haben die Forscher herausgefunden, ist das Kind, das sich seinem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert fühlt. Kinder können Resilienz lernen. Doch mit dem Blick darauf, die Resilienz zu fördern und zu stärken, wird das „Schicksal“ oder besser eine Welt, die das notwendig macht, aus dem Blick verloren, verdrängt, vergessen.
Das ist doch der Trick, dem wir uns unterwerfen sollen. Resilienz ist der Brocken, der uns hingeworfen wird, um diese Welt erträglicher zu machen! Aber anstatt ihn zu schlucken, muss unsere Aufgabe eine andere sein: nicht die Welt besser ertragen, sondern sie anders machen!
Und damit trifft die messianische Aufforderung auch auf uns: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder! Resilere, lateinisch, bedeutet übersetzt: zurückspringen, abprallen. Sie bringen die Kinder zu Jesus, damit er sie anrührt und nicht abprallt. Der Segen aber geht vom Anrühren aus. Davon weiß das hermetische Subjekt des Krisenkapitalismus nichts.
Das Reich Gottes will eine Welt, in der das Abprallen-lassen-Können gerade nicht mehr notwendig ist, um zu überleben. Resilienz fordert das Evangelium nicht. Im Gegenteil. Jesus warnt alle, die den Versuch unternehmen sollten, die Kleinen zur Sünde zu verführen. Und wenn Anrühren für das Leben steht, warnt er nicht auch vor einer Erziehung, an deren Ende kleine und große hermetische Subjekte stehen, die aber in ihrer Hermetik die Krisen der Welt als Möglichkeiten für Innovation und Investitionen betrachten. Bereitschaftsmaschinen hat Mark Neocleus sie genannt: „Wir sind dabei, Bereitschaftsmaschinen zu werden … Jederzeit in Bereitschaft versetzt, verlieren wir die Fähigkeit, uns eine andere Zukunft als die des plötzlichen Angriffs vorzustellen, auf den wir uns vorzubereiten haben. Die Resilienz ist der Mechanismus, der unsere politische Einbildungskraft überwacht und zu kolonisieren versucht … Unsere Verunsicherung als Subjekte, als Arbeiter, als Bürger wird damit einer Struktur der permanenten Selbstüberwachung unterstellt. Wir dürfen die Bereitschaftsmaschinerie nicht in Frage stellen. So recycelt unsere Resilienz das vom Kapital verursachte Leiden zugunsten des Kapitals: Wir sollen uns die Zukunft als Katastrophe vorstellen, um für das gerüstet zu sein, was das Kapital uns abverlangt.“
Der Resilienzkapitalismus
Wie ist eine Gesellschaftsordnung, die diese Menschen will? Nennen wir sie Resilienzkapitalismus!
Denn Resilienz ist nicht nur eine psychische Fähigkeit. Resilienz gilt auch hinsichtlich der ökologischen Problematik, mit der wir leben müssen. Wir brauchen nicht nur resiliente Menschen, sondern auch Städte, resiliente Gesellschaften, die gewappnet sind und die nicht mehr aufzuhaltenden Katastrophen im Idealfall an sich abprallen lassen. In einem aktuellen EU-Afrika-Papier wird den afrikanischen Gesellschaften Resilienz als Mittel der Wahl empfohlen, um der Überfischung vor ihren Küsten und den Klimakatastrophen nicht vollständig ausgeliefert zu sein. Und: Resilienz ist das Konzept, um mit den fortlaufenden Folgen der Finanzkrise seit 2006 und allen weiteren Krisen umzugehen, seit 10 Jahren ein zentraler Begriff der G20-Kommuniques und key-word des G20-Treffens in Hamburg. Resilienz – darauf sollten wir uns einstellen! Oder besser: nicht!
Weitere Infos unter: https://www.medico.de/resilienz/