Von Elsa Tamez
In den vergangenen Jahrzehnten hat es mich oft geärgert, daß Europäer, insbesondere Intelektuelle, zu uns Lateinamerikanern gesagt haben, wir seien zu optimistisch. Inmitten des Sieges des Sandinisten in Nicaragua sagten einige: Ja gut, aber ich frage mich, wie lange das gut geht. Das war wie eine eiskalte Dusche. Wir konnten es uns nicht leisten, auf diese Art zu reflektieren. Wir gingen davon aus: Wenn Nicaragua gewonnen hatte, dann würde auch El Salvador gewinnen. Der Horizont war klar und offen, er lag direkt vor uns. Sicherlich gab es viel Leid aufgrund der Repression, gleichzeitig aber gab es viel Widerstand, Solidarität und Hoffnung. Heute ist das anders: Die Folgen der Globalisierung des freien Marktes verschließen uns den Mund. Der Horizont zeigt sich dunkel und
undurchsichtig, die Gegenwart erscheint als große Schweinerei und von der Vergangenheit will niemand etwas hören. Aber ich will mich auch nicht dem Pessimismus ergeben, denn das hieße sterben.
Die große Herausforderung heute lautet also: Wie überleben, und zwar in Würde überleben, in einer Zeit der Schweinereien. Oder in anderen Worten: Wie kann man klug leben inmitten des Absurden. Die Zeit, in der wir leben ist kompliziert. Es scheint so, als ob der Norden sich immer mehr eint, während sich der Süden immer weiter entfernt. Während auf der einen Seite die Möglichkeiten immer größer werden, den Hunger durch technischen Fortschritt zu überwinden, wird das Elend auf der anderen Seite immer größer und drastischer. […] Die Gegenwart zeigt sich als eine Zeit, in der versucht wird, jede befreiende Erinnerung der Vergangenheit und jegliches utopische Element zu unterdrücken, das eine Bewegung auf eine neue Wirklichkeit in Gang setzen könnte.
Wie können Christen in einer solchen Zeit messianischer Dürre leben?
Eine ähnliche Situation habe ich im Buch Kohelet gefunden, das in der Mitte des 3. Jahrhunderts vor Christus geschrieben wurde. Das Buch beginnt und endet mit der Feststellung, daß alles vergeblich und völlig frustrierend ist: Wie ist alles so nichtig, wie ist alles so nichtig, es ist alles umsonst. [Die deutsche Einheitsübersetzung spricht von Windhauch und Luftgespinst, Anm. d. Übers.]
Ich möchte das in heutige Sprache übersetzen: Welch große Schweinerei, alles ist eine einzige Schweinerei. […]
Wie ist alles so nichtig, es ist alles umsonst. Dies ist der Kommentar Kohelets, als er auf „das Neue“ seines Jahrhundert schaut, auf den Wechsel vom Tauschhandel zum Geld. Die Wirtschaftswissenschaftler des Altertums sprechen von einer Zeit großer Entdeckungen und unerwarteter technischer Fortschritte, von erstaunlicher Effektivität, einer neuen Art von Geschäften, einem Finanz- und Handelsboom, neuen militärischen und ökonomischen Herrschaftsformen über die Provinzen. Es scheint, als gäbe es neben unserem 20. Jahrhundert
keine andere Zeit, in der solche Veränderungen stattgefunden haben wie in dieser Zeit des Helenismus, in der das Buch Kohelet entstanden ist.
Aber der Autor demaskiert dieses Neue, indem er feststellt, daß dies Windhauch, Vergeblichkeit, Leere sei. Denn er sieht die Rückseite dieses Prozesses. Er sagt: „Dann wieder habe ich alles beobachtet, was unter der Sonne getan wird, um Menschen auszubeuten. Sieh, die Ausgebeuteten weinen, und niemand tröstet sie; von der Hand ihrer Ausbeuter geht Gewalt aus, und niemand tröstet sie.“ (4,1) Es ist eine verkehrte Welt: den Schlechten ging es gut, den Guten ging es schlecht. […] Wie können wir inmitten der Absurdität überleben? Es ist fast nicht zu glauben, aber Kohelet gibt uns einige Hinweise. Obwohl er am Anfang und am Ende davon spricht, daß alles vergeblich sei, scheint im Text die Bereitschaft durch, für den Lebensatem und für einen Weg der Freiheit für die Menschen zu kämpfen. Ich möchte vier Hinweise benennen:
Der andere Blick auf die Zeit
Erstens ist da der etwas andere Blick auf die Zeit: Wenn der chronologische Blick auf die Zeit uns plattdrückt, indem er uns keine Auswege erkennen läßt, müssen wir auf andere Weise die Zeiten betrachten. Zum Beispiel, indem wir glauben und annehmen, daß alles seine Zeit und Stunde hat. Es gibt eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden. Indem man dieses glaubt, kann man weitergehen, widerstehen und solidarisch handeln in Zeiten des Hasses, der Trauer, der Zerstörung und des Krieges. Mehr noch, wenn man um die gegenwärtige Situation weiß, kann man pflanzen, auch wenn nicht die Zeit des Pflanzens ist, kann man zu umarmen versuchen, auch wenn man weiß, daß nicht die Zeit der Umarmungen ist, kann man Frieden zu schaffen versuchen, auch wenn man weiß, daß man nicht sehr viel erreichen wird. Aber immer hat man die Sicherheit, daß es eine andere Zeit geben wird, wenn jetzt die Zeit der Schweinereien ist.
Von der Gottesfurcht
Zweitens wird in diesem Buch wie in anderen Weisheitsbüchern von der Gottesfurcht gesprochen. Man darf Gottesfurcht nicht als „Angst vor Gott“ verstehen, sondern als Feststellung, daß es Konsequenzen hat, ihn nicht zu fürchten. Gottesfurcht heißt, anzuerkennen, daß Gott Gott ist und wir Menschen sind. Und weil wir keine Götter sind, können wir nicht alles, z.B. in einer Minute die verkehrte, entmenschlichte Welt umkehren. Gott fürchten heißt, unsere Grenzen als Menschen anzuerkennen, unsere conditio humana.
Wenn wir unsere Grenzen nicht erkennen, lähmen wir uns selbst, sind wir wenig handlungsfähig und bleiben wir in Angst stecken. Wenn wir aber unsere Grenzen kennen, können wir gehen, atmen und gleichzeitig spüren, daß wir über unsere eigenen Grenzen hinausgehen können.
Den Tod verspotten
Drittens gibt es einen Vers – er wird mehrfach wiederholt -, der das konkrete Leben betont: Iß freudig dein Brot, und trink vergnügt deinen Wein. […] In Zeiten größter Schweinerei bleibt nichts anderes, als in der Gegenwart zu leben, sie aber gleichzeitig abzulehnen durch eine entgegengesetzte Logik. Kohelet schlägt vor, am konkreten und sinnlichen Leben, an einem bestimmten, menschlicheren Lebensrhythmus festzuhalten. […]
Während die Logik einer Gesellschaft sich nur noch darum dreht, die Produktion zu beschleunigen, weil Zeit Geld ist, lädt uns Kohelet ein, die unvergängliche Zeit anzustreben statt die kurzen, vergänglichen Zeiträume. Und diese Zeit kann man nur erleben, wenn man das Leben in Gemeinschaft mit anderen teilt und genießt. Hierbei geht es weder um eine Erfahrung der Freude, die auf dem Rücken anderer ruht und zur Entmenschlichung führt, noch um eine zynische Ohnmacht angesichts der ökonomisch und politisch Ausgegrenzten. Die von Kohelet gemeinte Lebensfreude hat nichts zu tun mit dem „essen wir und trinken wir, denn morgen sind wir tot“. Es geht vielmehr darum, am konkreten und sinnlichen Leben festzuhalten inmitten einer Gesellschaft, die diesem Leben zuwiderhandelt. Es geht darum, den Tod zu verspotten, indem man am Leben festhält. […]
Alles hat seine Zeit
Der vierte Hinweis besteht in einer Reihe von Ratschlägen, die uns helfen, weise und listig in jedem Moment des alltäglichen Lebens unseren Weg zu gehen. Die Urteilskraft ist dabei das Wichtigste. […] Wenn es in einer „verkehrten Gesellschaft“ den Bösen gut geht und den Guten schlecht, wie sollen wir dann handeln? […] Wenn wir gut handeln, wird es uns schlecht gehen und wir werden dem Tod entgegengehen. Wenn wir schlecht handeln, werden wir, weil es nicht korrekt ist, eines fernen Tages die Konsequenzen zu tragen haben.
Also, was tun? Hier ist der Punkt, an dem uns Kohelet Urteilsvermögen und List vorschlägt: Sei nicht übermäßig gerecht und nicht exzessiv weise. Warum willst du dich zerstören? Und anschließend fügt er hinzu: Handele nicht unsinnig, damit du nicht vor der Zeit stirbst. Der Text will uns zeigen, daß man in dieser Zeit sehr klug seinen alltäglichen Weg gehen muß. Deshalb rät er uns mal hierhin, mal dorthin: zwei sind wichtiger als einer, Gemeinsamkeit macht stark, gebe acht darauf, was die Vögel hören, mache eine gute Mine zur schlechten Zeit, ein lebender Hund ist wertvoller als ein toter Löwe etc. Diesen vierten Hinweis verstehen wir nur im Licht der vorherigen. Nur wenn wir nämlich wissen, daß alles seine Zeit und Stunde hat, daß die Menschen keine Götter sind und daß es wichtig ist, das Leben zu genießen, als ob es ewig sei, können wir ohne große Probleme die Komplexität des alltäglichen Lebens erfassen.
Es ist klar, daß dies nicht die heutige Alternative ist. Aber Kohelet kann uns ein wenig helfen, in Zeiten großer Schweinereien klug, ohne allzugroße Angst zu widerstehen und damit das konkrete Leben für alle im Alltag zu fördern. Dies heißt für mich, heute die Gnade Gottes zu erfahren. Elsa Tamez ist Direktorin der Universidad Biblica in Costa Rica. Übersetzung: Ludger Weckel