Der inhalt:
Editorial
Eine Kirche, die interveniert. Philipp Geitzhaus und Julia Lis
Rios Montt – mit Bibel und Maschinenpistole. Michael Ramminger
Zum schwierigen Gebrauch des Kompetenzbegriffs in der Bildung. Andreas Hellgermann
Papst kritisiert das kapitalistische System als Fetischismus. Norbert Arntz
Blockupy – Widerstand im Herzen des europäischen Krisenregimes. Katja Strobel
Liebe Freundinnen und Freunde des ITP,
wir sind noch voller Eindrücke von den Blockupy-Aktionstagen sowie von den Aufständen in der Türkei und Brasilien, die hier leider noch keinen Niederschlag finden konnten.
Im ITP hat sich in den letzten Monaten einiges verändert. Ludger Weckel ist zu Anfang des Jahres aus der ITP-Arbeit ausgestiegen. Katja Strobel ist kürzlich nach Frankfurt am Main gezogen und wird von dort aus nach ihren Möglichkeiten weiter mitarbeiten. Neben Michael Ramminger, Philipp Geitzhaus und Christine Berberich, die weiterhin präsent sind, engagieren sich nun Pilar Puertas, Cordula Ackermann und Julia Lis im ITP. Sie sind uns schon eine Zeit lang über das Befreiungstheologische Netzwerk oder Promotionsprojekte verbunden. Seit mehreren Monaten haben wir darüberhinaus mit weiteren Unterstützer_innen Treffen zu „Visionen und Strategien“ durchgeführt, um über die Zukunft des Instituts zu sprechen. Dabei ist deutlich geworden, dass viele im ITP einen wichtigen Ort für befreiungstheologische und politische Reflexion sehen, für Münster, aber auch darüberhinaus. Viele haben uns ihre Solidarität und ihre Bereitschaft zur Unterstützung signalisiert, in materieller Hinsicht oder durch Mitarbeit – bis hin zu Überlegungen, für die Mitarbeit im ITP nach Münster zu ziehen! Darüber haben wir uns sehr gefreut. Wir haben angefangen, über die Strukturen nachzudenken und zu überlegen, wie Kontinuität in der Arbeit gewährleistet werden kann. Dazu haben wir zunächst einmal den Trägerverein neu belebt. Es gibt nun einen auf fünf Personen erweiterten Vorstand und es wird regelmäßige gemeinsame Sitzungen von Vorstand, Büroteam und Unterstützer_innen geben, in denen an der Struktur und Sicherung des ITP gearbeitet wird. Es gibt die Möglichkeit, Mitglied im Verein zu werden und damit auch ein größeres Mitspracherecht in Anspruch zu nehmen. Wir erhoffen uns davon auch eine noch breitere Spendenbasis in Form von Mitgliedsbeiträgen. Das Formular zur Unterstützung auf der letzten Seite kann als Beitrittserklärung verwendet werden. Herzlich sind alle aufgefordert sich zu melden, die an der Weiterarbeit des ITP, am Verein und den „Strategien und Visionen“-Treffen interessiert sind! Wir freuen uns über Rückmeldungen und Ideen!
Durch das große Projekt „Konziliare Versammlung“ im letzten Jahr haben wir viele neue Kontakte geknüpft oder bestehende vertieft und ermutigende Begegnungen erlebt. Ein weiterer Schritt in Form eines ‚Konziliaren Ratschlags hat stattgefunden und ein weiteres Treffen ist in Vorbereitung. Weiterhin werden wir an dieser Idee einer Organisierung der christlichen Basisgruppen mitarbeiten und die Verbindung von Kirchenreform und Gesellschaftskritik weiter vorantreiben. Auch in diesem Rundbrief wird dies deutlich: Julia Lis und Philipp Geitzhaus stellen konkrete Überlegungen vor, wie sich eine „Kirche der Armen“ materialisieren könnte. Michael Ramminger weist auf ein wichtiges Urteil gegen den ehemaligen Diktator von Guatemala, Rios Montt, hin. Andreas Hellgermann analysiert den neuen Kompetenzbegriff in der Bildung. Norbert Arntz präsentiert ein hoffnungsvolle Analyse des Werdegangs des neuen Papstes Franziskus und Katja Strobel resümiert die gerade zu Ende gegangenen Blockupy-Aktionstage – Bilder hiervon illustrieren den Rundbrief. Wir wünschen allen einen ereignisreichen Sommer und Herbst mit Erfahrungen der Solidarität, die darauf verweisen, dass eine andere Welt möglich ist.
Ihr und Euer ITP-Team
Eine Kirche, die interveniert.
Philipp Geitzhaus und Julia Lis
Mit der Erinnerung an das Zweite Vatikanische Konzil ist die Hoffnung von Papst Johannes XXIII., dass die Kirche eine Kirche der Armen wird, wieder etwas mehr ins Bewusstsein der Christ_innen gekommen. Dieser Begriff klingt im hiesigen, mehrheitlich wohlhabenden Kontext, eher unverständlich.
Eine ‚Kirche der Armen’?
Meistens wird unter einer ‚Kirche der Armen‘ hierzulande eher eine Kirche für die Armen verstanden. Eine Kirche, die um sozialen Frieden bemüht ist, und Armenküchen und Tafeln organisiert. Oder aber: Eine Kirche, die nicht so viel hat, sich auf das Wesentliche, die Freude und Leichtigkeit konzentriert. Eine „schlanke Kirche“, die sich eine sommerliche Sorglosigkeit leisten möchte und kann.
Diese beiden Modelle verweisen auf grundlegende Probleme, die auftauchen, wenn von einer Kirche der Armen im gesellschaftlichen Kontext eines reichen, (post-)industriellen Landes wie der BRD gesprochen wird, in dem Kirche weitgehend ein Mittelstandsphänomen ist. Sie können als Problemanzeiger dienen, die auf die Schwierigkeiten des Verständnisses von „Armut“ verweisen. Denn was arm sein heißt, erschließt sich nicht ohne Weiteres und meistens gar nicht denen, die nicht mit Armut und Ausgrenzung konfrontiert sind.
Mit der Rede von einer armen Kirche könnte die Hoffnung auf und die glaubende Vorwegnahme einer Welt verknüpft sein, in der die Armgemachten und Ausgegrenzten im Zentrum stehen und zu Hauptakteur_innen werden: Eine Kirche, in der das inflationär verwendete und dadurch seines Aussagegehalts weitgehend beraubte Wort von der Nächsten- und Fernstenliebe sich übersetzen ließe in praktische Solidarität.
Solidarität: kollektives Handeln und Widerstehen
So eine Kirche fällt natürlich nicht vom Himmel und kann auch nicht idealistisch theologisierend herbeigeredet werden. Denn Solidarität lässt sich nicht theoretisch erlernen, sondern nur in kollektiven Prozessen, die den gesellschaftlichen Individualismus überwinden und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. So müssen einzelne Schritte auf dem Weg hin zu einer armen Kirche erarbeitet werden. Ein erster notwendiger Schritt ist es, ein ehrliches Bewusstsein davon zu bekommen, wer in der gegenwärtigen Gesellschaft die Verlierer_innen sind, d.h. wer in und an ihr leidet, wer armgemacht und ausgegrenzt wird. Dieser Schritt bestimmt den Standort, von dem aus Kirche weiter gedacht und gelebt wird.
Hier wären zum einen die Menschen zu nennen, die am meisten vom Krisenmanagement der EU-Troika betroffen sind. Gegenwärtig findet in den Ländern Südeuropas ein unvorstellbarer Verarmungsprozess statt (allen voran Griechenland, über 60% Jugendarbeitslosigkeit!). An den Außengrenzen Europas leiden Flüchtlinge unter der Abschottungspolitik der EU, die sie daran hindern soll, die „Festung Europa“ überhaupt zu betreten. Innerhalb der EU-Staaten hat sich ein Abschiebe- und Ausgrenzungssystem entwickelt. Nicht selten sind Flüchtlingsunterkünfte an die Stadtränder gelegt, was die Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilzunehmen, erheblich einschränkt. Frauen werden besonders benachteiligt. In der Krise sind es zumeist ihre Arbeitsplätze, die als erstes eingespart werden.
Damit das Wahrnehmen solcher Zustände nicht allein in lähmende Resignation mündet, darf Solidarität nicht bei einem abstrakten Gefühl stehen bleiben, sondern muss zum konkreten Handeln führen. Dazu gehört insbesondere die enge Verbundenheit mit (anderen) Betroffenen. Doch genauso notwendig ist die „prophetische Anklage“, also diese Verhältnisse öffentlich zur Sprache zu bringen. Beides, die verbindliche Verbundenheit mit den Verlierer_innen und das Anklagen der Unterdrückungsstrukturen, gehören zum „Gottesdienst“ Jesu. In ganz außergewöhnlicher Weise finden wir das in den Glücklichpreisungen und Wehrufen Jesu im Lukasevangelium (Lk 6, 20-26). Voraussetzung eines solchen Gottesdienstes in der Nachfolge Jesu ist eine Weise der Analyse der Gesellschaft, die Partei ergreift für die Benachteiligten und für jene, die gegen die herrschenden Verhältnisse der Unterdrückung aufbegehren.
Interventionsfelder einer ‚Kirche der Armen‘
In diesem Sinne Kirche zu sein und zu leben ist gegenwärtig nicht nur eine abstrakte Vorstellung, ein frommer Wunsch für die Zukunft oder ein Blick zurück in eine romantisierte Vergangenheit, sondern geschieht hier und jetzt, wenn auch marginal. Es geschieht etwa dort, wo sich christliche Gruppen lokal wie überregional für die Rechte von Flüchtlingen engagieren sowie in der Anklage der Unrechtsstrukturen, die diese der Chance auf ein würdiges Leben berauben. Hier sei auch an die wichtige Tradition des Kirchenasyls erinnert. Es geschieht im Einsatz gegen Aufrüstung und Waffenhandel, dem Menschenleben geopfert werden, wie dies die „Aktion Aufschrei. Stoppt den Waffenhandel“ anprangert.
Es geschieht auch – ganz aktuell – während der europäischen Blockupy-Aktionstage in Frankfurt, an denen sich christliche Gruppen, wie das Befreiungstheologische Netzwerk und auch wir vom ITP beteiligt haben, beim Protest gegen die europäische Krisenpolitik. Aktionstage wie diese symbolisieren das regelmäßige lokale Engagement der verschiedenen Initiativen in verdichteter Form und verhelfen damit zur Sichtbarmachung der einzelnen Kämpfe. Ein Engagement, das Früchte tragen will, muss notwendig auch gemeinsame Ausdrucksformen finden. So eine kollektive Sichtbarmachung hat auch die Funktion, den Glauben an eine solidarische Welt wider alle Plausibilitäten zu bezeugen.
Diese drei politischen Aktionsfelder stehen für eine kämpferische und zugleich zeichenhafte Praxis, die versucht, Hoffnung auf ein Leben in Fülle für alle zu entwickeln und einer solchen Hoffnung Gestalt zu geben.
Die Frage nach einer Kirche, die sich als Kirche der Armen verstehen will, nach ihrer Sinnhaftigkeit wie nach ihrer konkreten Gestalt, stellt sich aus einer solchen Perspektive noch einmal neu. So eine Kirche könnte vielleicht gedacht werden als intervenierende Kirche – als eine Kirche, die sich einmischt und dazwischengeht, wo die Rechte von Menschen mit Füßen getreten oder mindestens „unbeteiligt“ ignoriert werden. (1) Eine intervenierende Kirche in diesem Sinne ermöglicht damit in sich auch eine Umkehrbewegung, wie sie gegenwärtig nötiger ist denn je. ★
Anmerkung:
(1) Vgl. dazu Strobel, Katja: „Kirche der Armen“ hier und heute? Kritische Überlegungen zur Erinnerung an den Katakombenpakt, in: Institut für Theologie und Politik (Hg.): Der doppelte Bruch. Das umkämpfte Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils, Münster 2011, S. 78-80.
Rios Montt – mit Bibel und Maschinenpistole
Michael Ramminger
Am 10.05. diesen Jahres wurde der guatemaltekische Diktator Rios Montt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, insbesondere am Mayavolk der Ixil zwischen 1982 und 1983, zu achtzig Jahren Gefängnis verurteilt. Der vierzig Jahre währende Konflikt kostete 200.000 Menschen das Leben, eineinhalb Millionen Menschen wurden vertrieben. Zehn Tage später wurde das Urteil vom Verfassungsgericht kassiert und an das zuständige Gericht zurückverwiesen. Rios Montt war nur einen Tag im Gefängnis.
Ein wichtiges Beweismittel im Verfahren waren Filmaufnahmen der US-Amerikanerin Pamela Yates von 1983, die in voller Länge im Gericht vorgeführt wurden. Rios Montt erklärte sich bis zum vorläufigen Schluss des Verfahrens für unschuldig, im Verfahren dagegen wurde festgestellt, dass seine Regierung „Hunger, Massenmord, Vertreibung, Vergewaltigung, und Bombardierungen aus der Luft zur Zerstörung des Volks der Ixil“ angewendet habe.
Ein vorläufiges Urteil – ein nicht zu nehmender Sieg
Auch wenn es nur ein vorläufiges Urteil ist, ist es doch ein Sieg derjenigen, die sich über Jahrzehnte für eine Aufklärung dieser Verbrechen eingesetzt hatten. Erinnert sei nur an die Kommission für die Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses der katholischen Kirche. Nur zwei Tage nach Vorstellung des Berichts 1998 wurde Bischof Juan Gerardi ermordet.
Noch 1998, nach der Veröffentlichung des Berichts, versuchten die USA, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Der damalige US-Präsident Ronald Reagan beendete 1983 das von Jimmy Carter verhängte Embargo für Kriegsgerät gegen Guatemala und bezeichnete Rios Montt als einen Mann von großer persönlicher Integrität und Einsatzbereitschaft, der der Herausforderung „einer brutalen, vom Ausland unterstützten Guerilla“ (1) gegenüberstehe. Vielleicht kommt ja auch noch einmal die Zeit, in der die Unterstützer und Profiteure der lateinamerikanischen Diktaturen der Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und verurteilt werden.
Rios Montt, der Pastor einer evangelischen Kirche ist und einmal gesagt haben soll, dass ein guter Christ derjenige sei, der sich mit Bibel und Maschinenpistole zu helfen wisse, ist von einem guatemaltekischen Gericht verurteilt worden. Das ist sicher ein historischer Sieg der Betroffenen und engagierten Menschenrechtler_innen. Und auch für viele bei uns, die schon in den achtziger Jahren in der Guatemala-Solidaritätsarbeit aktiv waren, ein kleiner Sieg. ★
Anmerkung:
(1) http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=42069
Zum schwierigen Gebrauch des Kompetenzbegriffs in der Bildung
Andreas Hellgermann
Der folgende Text ist die stark gekürzte Version eines Arbeitspapiers für eine Veranstaltung des AK-Religionslehrer_innen im ITP. Bei Interesse schicken wir gerne das ganze Papier zu.
Meines Erachtens kann man die Einführung und Bedeutung des Kompetenzbegriffs in der Bildungsdiskussion nur verstehen, wenn man zugleich sieht, wie sich ökonomische Denkweisen im Laufe der letzten 50 Jahre verändert haben und mehr und mehr Eingang gefunden haben zum Beispiel auch in die Bildungspolitik der gesamten EU und damit im Rahmen von europäischen Angleichungsprozessen („Bologna“) auch in die jeweilige nationalstaatliche Bildungspolitik. …
Kompetenz statt Wissen
Einen verstärkten Einzug in die Bildungsdiskussion hält der Begriff auf unterschiedlichen Wegen, vor allem im Kontext der Handlungsorientierung. Er bietet sich geradezu als Gegenbegriff zu einer rein Wissen vermittelnden Auffassung von Bildung – dem vielbeschworenen „Nürnberger Trichter“ – an, bei dem der Lehrer Wissen als Inhalt, den er hat, an den Schüler weitergibt. …
Dem steht mit dem Kompetenzbegriff nun eine Vorstellung gegenüber, bei der es nicht mehr um die Aufnahme von irgendwann einmal einsetzbarem Wissen geht, sondern um die Entwicklung von Fähigkeiten, also um Verhalten. … Weinert (Psychologe) hat Kompetenzen beschrieben als
„die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen … sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“. (1)
Spätestens durch die PISA-Studie (Lesekompetenz, mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz) wird der Begriff prominent.
Inwiefern begegnen sich nun der Kompetenzbegriff auf der einen und bestimmte Entwicklungen im ökonomischen Denken des 20. Jahrhunderts auf der anderen Seite? …
Im Zentrum dieses (aktuellen, Anm. Red.) neoliberalen Weltverständnisses steht ein Menschenbild, das von Gary Becker, einem maßgebenden Ökonomen des Neoliberalismus, folgendermaßen beschrieben wird und das unter dem Stichwort „homo oeconomicus“ auch Eingang findet in den neuen Lehrplan für die Höhere Berufsfachschulen (HBFS):
„In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist … seien es wiederkehrende oder seltene Entscheidungen, handle es sich um emotionale oder nüchterne Ziele, reiche oder arme Menschen, Männer oder Frauen, Erwachsene oder Kinder, kluge oder dumme Menschen, Patienten oder Therapeuten, Geschäftsleute oder Politiker, Lehrer oder Schüler.“ (2) …
Kompetenz, Kapital und Bildung
Das Interessante ist, dass damit einer Verbindung zu allen anderen Wissenschaften menschlichen Verhaltens, bspw. der Pädagogik ein Raum eröffnet wurde, der nun immer weiter gefüllt wird. Dreh- und Angelpunkt hierfür ist die aus dieser Grundauffassung resultierende „Humankapitaltheorie“ (die vor allen Dingen von den beiden Nobelpreisträgern Becker und Schultz entwickelt worden ist): Damit wird alles das, was der Mensch bekommt, als Ertrag bzw. Einkommen auf sein Kapital betrachtet, und alle Veränderungen sind Investitionen zur Vergrößerung des vorhandenen Kapitals – eben des Humankapitals. Dementsprechend sind Bildung und Erziehung auf der individuellen und auf der gesellschaftlichen Ebene immer als Investitionen in das vorhandene und zu vergrößernde Humankapital anzusehen.
An dieser Stelle treffen sich der in die Bildung eingeführte Kompetenzbegriff und die Humankapitaltheorie. Bei dem, was in Schule und Ausbildung gelernt wird, geht es jetzt nicht mehr darum, die Welt zu verstehen, sich in ihr orientieren und sie verändern zu können, sondern darum, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, die wie jedes andere Kapital auch eingesetzt werden können, um entsprechende Erträge zu erzielen. Spätestens zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird die Humankapitaltheorie von der OECD aufgegriffen und zur Basistheorie ihrer Untersuchungen (Bspw. PISA) und Empfehlungen. … Dementsprechend ist die Vorstellung der OECD von Humankapital:
„Das Humankapital ist der Bestand an Fähigkeiten und Kenntnissen, die der einzelne besitzt oder – normalerweise durch Bildung und Ausbildung – entwickelt und sodann als Gegenleistung für ein Einkommen auf dem Arbeitsmarkt anbietet.“ Dieses Humankapital wird verstanden als „in Individuen verkörperte Kenntnisse, Fähigkeiten, Kompetenzen und Eigenschaften, die die Erzeugung persönlichen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wohlergehens ermöglichen“. (3)
Der Idealschüler als zukünftiger Unternehmer
Und auch für die EU ist die Verbindung von Bildung und Ökonomie, vermittelt über den Kompetenzbegriff, zur Standard- bzw. Idealvorstellung geworden. Der Idealbürger der EU ist selbstverständlich der Unternehmer bzw. besitzt unternehmerische Kompetenz, was 2006 als Beschluss des EU-Parlaments formuliert worden ist:
„Definition: Eigeninitiative und unternehmerische Kompetenz ist die Fähigkeit des Einzelnen, Ideen in die Tat umzusetzen. Dies erfordert Kreativität, Innovation und Risikobereitschaft sowie die Fähigkeit, Projekte zu planen und durchzuführen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Unternehmerische Kompetenz hilft dem Einzelnen nicht nur in seinem täglichen Leben zu Hause oder in der Gesellschaft, sondern auch am Arbeitsplatz …“ (4)
Religionsunterricht als „Lieferant“
Und der Religionsunterricht wird „Lieferant“ für die entsprechenden Werte und soll damit seinen Beitrag zur verantwortungsbewussten Unternehmensführung leisten, was dann im neuen Lehrplan HBFS folgendermaßen formuliert wird: Der Religionsunterricht hat eine „Kompensationsfunktion“. Sie bezieht sich „auf sinnstiftende Interpretationsangebote zu Ökonomie, Gesellschaft, Technik und Mensch, die sich in hermeneutischen und kulturkritischen, historisch-systematischen, aber auch in kreativen Zugängen niederschlagen.“ Zu dieser Entwicklung gäbe es viel zu sagen. Hier nur eine kritisch Anmerkung von Paulo Freire:
„Indem man so von der eigenen Welt abgekoppelt wird, verliert man die Möglichkeit, kulturelle Wegweiser auszubilden, die einen befähigen, die Welt zu verstehen, wie auch in ihr zu handeln und sie zu transformieren. Darum ist die neoliberale pragmatische Einstellung in aggressiver Weise darauf aus, einen Bruch zwischen einem selbst und seiner Welt zu bewirken, indem man eine tiefgehende Verbindung zwischen einem selbst und dem Markt geltend macht. In anderen Worten, der Fokus der Erziehung in der neoliberalen Welt ist darauf gerichtet, wie man ein kompetenter Verbraucher wird, wie man ein kompetenter Verteiler von Wissen wird, ohne irgendwelche ethischen Fragen zu stellen.“ (5) ★
Anmerkungen:
1) zitiert nach: Eckard Klieme, Was sind Kompetenzen und wie lassen sie sich messen?, in: Pädagogik 6/04
2) Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982, S. 7
3) OECD 2001 und 2002 zitiert nach: Jörg Nicht, Thomas Müller, Kompetenzen als Humankapital in: Initial – Berliner Debatte Februar 2010
4) EMPFEHLUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 18. Dezember 2006 zu Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen, in: Amtsblatt der Europäischen Union, 18. Dezember 2006, S. 17 u. 18
5) Paulo Freire, Eine Antwort, in: ders., Bildung und Hoffnung, herausgegeben von Peter Schreiner, Norbert Mette, Dirk Oesselmann, Dieter Kinkelbur, Münster, New York, München, Berlin 2007, S. 136
Papst kritisiert das kapitalistische System alsFetischismus
Norbert Arntz
Immer deutlicher zeichnen sich die Konturen des neuen Pontifikats ab: Papst Franziskus hat vor wenigen Tagen mit scharfen Worten die Ursachen für die Krise benannt, in der wir stecken. Manche – vor allem die medial hergestellte Öffentlichkeit – reden von der Finanz- und Wirtschaftskrise. Andere reden von einer moralischen Krise. Der Papst bezeichnet sie als
„anthropologische Krise – die Negation des Primats des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des alten goldenen Kalbes (vgl. Ex 32,15–34) hat ein neues und grausames Bild gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur der gesichtslosen Wirtschaft ohne wirklich menschliche Ziele und Zwecke!“ (1)
Die gegenwärtige Krise des Kapitalismus ist nicht nur die Folge einer schlecht angewandten Wirtschaftsform. Sie ist vielmehr die Folge einer pervertierten Religion, die der Papst als „Fetischismus des Geldes“ bezeichnet. Diese Religion schafft Götzen, die den Menschen in Sklaverei treiben und sogar ums Leben bringen. So seine Deutung des Einsturzes der Textilfabrik in Dhaka/Bangladesh, bei dem mehr als eintausend Menschen ums Leben gebracht wurden. Mit seltener Eindeutigkeit verurteilte Papst Franziskus am 1. Mai die Arbeitsbedingungen als menschenverachtend, als „Sklaverei“, die nach Artikel 4 der UN-Menschenrechtserklärung verboten ist. Und drastisch bezeichnete er das Handeln, das den Arbeitsbedingungen zu Grunde liegt, als Sünde. Die Befreiung der Armen aus unmenschlichen Verhältnissen, die Befreiung zum Leben – das ist Gottes Dienst an unserer Befreiung.
Gottes Ehre ist der lebendige Mensch
Bereits in der Predigt am Ostersonntag auf dem Petersplatz hatte der Papst einen Leitgedanken von Oscar Romero, dem 1980 ermordeten Erzbischof von San Salvador, aufgegriffen, als er sagte:
„Eben das bedeutet Ostern: Der Exodus, der Auszug des Menschen aus der Sklaverei der Sünde, des Bösen zur Freiheit von Liebe und Güte. Denn Gott ist Leben, pures Leben, und Gottes Ehre ist der Mensch, der lebt, wir selbst.“ (vgl. Irenäus, Adv. haereses, 4,20,5-7)
„Gloria Dei vivens pauper“ hatte Oscar Romero wenige Wochen vor seiner Ermordung bei seiner Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde am 2. Februar 1980 in der Universität Löwen/Belgien ausgerufen und damit den Gedanken des Kirchenvaters Irenäus aktualisiert: Gott wird geehrt, wo und wenn die Menschen, insbesondere die Armgehaltenen, leben können. (2) Von diesem Geist inspiriert hatte Papst Franziskus bereits als Kardinal Bergoglio bei der Bischofsversammlung von Aparecida/Brasilien (2007) kein Blatt vor den Mund genommen, als es um die Globalisierung ging. Als Leiter der Redaktionskommission sorgte er mit dafür, dass das Schlussdokument eine Globalisierung der Solidarität forderte:
„Eine Globalisierung ohne Solidarität wirkt sich negativ auf die ärmsten Schichten aus. Dabei geht es nicht allein um Unterdrückung und Ausbeutung, sondern um etwas Neues, um den gesellschaftlichen Ausschluss. Durch ihn wird die Zugehörigkeit zur Gesellschaft, in der man lebt, untergraben, denn man lebt nicht nur unten, oder am Rande bzw. ohne Einfluss, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht nur ‚Ausgebeutete‘, sondern ‚Überflüssige‘ und ‚menschlicher Abfall‘.“ (Nr. 65). (3)
Sehen-Urteilen-Handeln, die Option für die Armen und die Hoffnung auf den Gott des Lebens – seit der Wahl des Erzbischofs von Buenos Aires zum Bischof von Rom mehren sich die Zeichen, dass diese Optionen aus dem Glauben nicht im Reden stecken bleiben:
– ein bescheidenes Auftreten,
– die Wohnung in der Casa Santa Marta, statt im Päpstlichen Palast;
– die Betonung des Dienstamtes als Bischof von Rom;
– die Fußwaschung am Gründonnerstagabend in einer Jugendstrafanstalt. Zwei junge Frauen nehmen daran teil, eine davon Muslima.
Die Schule des Franziskus
Nicht zu überhören ist, aus welcher Schule Papst Franziskus kommt: Aus der Schule des Franz von Assisi, der ein Mann der Armut war, ein Mann des Friedens, ein Mann, der die Schöpfung liebt und bewahrt. Des Papstes Worte bei der Pressekonferenz erinnern an Dokumente der Bischofsversammlung von Medellín 1968. In Medellín 1968 hatte die lateinamerikanische Kirche ihr Damaskuserlebnis. Die „koloniale Kirche“ Lateinamerikas nimmt den Schrei der Armen auf und bekennt sich zur „Armut der Kirche“. In dem entsprechenden Dokument heißt es:
„Eine arme Kirche nimmt folgende Haltung ein: Sie klagt den ungerechten Mangel der Güter dieser Welt und die Sünde an, die ihn hervorbringt; sie predigt und lebt die geistliche Armut als Haltung der geistlichen Kindschaft und Offenheit gegenüber Gott“. (Medellín 14.5) (4)
Medellín wiederum verweist zurück auf den „Katakombenpakt für eine dienende und arme Kirche“ (siehe Rundbrief Nr. 32, Dez. 2009). Papst Johannes XXIII. hatte dazu inspiriert, als er vor der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962 sagte: „die Kirche ist die Kirche aller, vornehmlich aber die Kirche der Armen“. Der Pakt wurde in den Domitilla-Katakomben am 16. Nov. 1965 von 40 Bischöfen unterschrieben, später schlossen sich noch rund 500 weitere an. In ihrer Erklärung hieß es:
„Wir werden uns bemühen, so zu leben, wie die Menschen um uns herum üblicherweise leben, im Hinblick auf Wohnung, Essen, Verkehrsmittel und alles, was sich daraus ergibt. Wir verzichten ein für allemal darauf, als Reiche zu erscheinen, wie auch wirklich reich zu sein, insbesondere in unserer Amtskleidung (…) und in unseren Amtsinsignien, die nicht aus kostbarem Metall – weder Gold noch Silber – gemacht sein dürfen, sondern wahrhaft und wirklich dem Evangelium entsprechen müssen.“
Der Katakombenpakt umfasst 13 Selbstverpflichtungen. Darunter auch solche mehr politischer und ökonomischer Art. Die Bischöfe des Katakombenpaktes beendeten damit für sich den „konstantinischen Pakt“, der mehr als 1500 Jahre das Leben der Bischöfe bestimmt hatte. Aktualisiert und verschärft Papst Franziskus den Katakombenpakt, wenn er den Kapitalismus als Religion grundsätzlich kritisiert und ihm auf diese Weise das Evangelium wieder entreißt, dessen er sich bemächtigt hatte? ★
Anmerkungen:
(1) http://www.vatican.va/holy_father/francesco/speeches/2013/may/documents/papa-francesco_20130516_nuovi-ambasciatori_ge.html
(2) Oscar A. Romero, Die politische Dimension des Glaubens – Erfahrungen der Kirche in El Salvador. In: Basisgemeinden und Befreiung. Lesebuch zur Theologie und christlichen Praxis in Lateinamerika. Hrsg. Antonio Reiser und Paul G. Schoenborn. Jugenddienst-Verlag, Wuppertal 1981, S. 158 ff.
(3) „Aparecida 2007 – Schlussdokument der 5. Generalversammlung des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik“, in: Stimmen der Weltkirche Nr. 41. Hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz – Bonn 2007.
(4) Vgl. das Kapitel 14 „Armut der Kirche“. In: Die Kirche Lateinamerikas. Dokumente der II. und III. Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopates in Medellín und Puebla. Stimmen der Weltkirche Nr. 8. Hrsg. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn o.J.
Blockupy – Widerstand im Herzen des europäischen Krisenregimes
Katja Strobel
Die Wirtschaftskrise hat die EU- und Weltwirtschaftspolitik weiterhin ökonomisch und ideologisch fest im Griff. Das zeigen die neoliberalen Sparprogramme, die Millionen Menschen v.a. in den südlichen europäischen Ländern in die Armut treiben und auch hierzulande weiter Lohndumping und die Ausweitung von prekärer Leiharbeit befördern. Protestbewegungen sind in Deutschland weiterhin kaum hörbar. Dennoch gelang es 2012 und 2013 Blockupy-Aktionen und Demonstrationen in Frankfurt, Bankenmetropole und Sitz der Europäischen Zentralbank, zu organisieren. Mitarbeiter_innen des Institut für Theologie und Politik und Freund_innen aus dem Befreiungstheologischen Netzwerk und dem Konziliaren Ratschlag schlossen sich an.
Erfolgreiche Aktionen und
Polizeigewalt: Die Bestie zeigt ihr Gesicht
Im Unterschied zum letztem Jahr war der Freitag als Blockade- und Aktionstag in der Frankfurter Innenstadt ein Erfolg: Die EZB konnte am Freitag Vormittag in strömendem Regen stundenlang weitgehend blockiert werden. „Krisenakteure markieren!“ war die Losung der Aktionen am Nachmittag. In der Zeil, einer der umsatzstärksten Einkaufsmeilen Europas, am Abschiebeflughafen und am Standort der „Deutschen Annington“, „Nummer eins“ der privaten Immobilienfirmen, konnten starke Zeichen des Widerstands gesetzt werden. In den Medien war diesmal von den Inhalten die Rede, um die es ging: Kapitalismuskritik in Form des Protestes gegen die Produktionsbedingungen in der (Textil-)Industrie, gegen Immobilienspekulation, Mietwucher und Beschneidung von Lebensraum, gegen das tödliche Abschiebe- und Abschottungssystem. Am Samstag sollte wieder eine große Demonstration eines breiten Bündnisses stattfinden. Doch der Demonstrationszug wurde wenige hundert Meter nach dem Loslaufen gegen 12:30 gestoppt und diejenigen, die – freiwillig oder unfreiwillig – ausharrten, bis 22 Uhr durch einen Polizeikessel festgehalten. Hundertschaften stürmten die Demonstration und trennten brutal den „antikapitalistischen Block“ (in Wahrheit nur einen Teil davon) ab. Stundenlang wurden sowohl im Kessel eingesperrte Demonstrant_ innen als auch solche außerhalb mit Schlagstöcken und Pfefferspray angegriffen. Erlebnisberichte und rechtliche Beurteilungen dazu sind im Internet nachzulesen. Ein paar Stichpunkte sollen genügen: Ca. 275 Verletzte wurden durch die Demo-Sanitäter_innen behandelt, zu vielen wurden sie nicht durchgelassen. Journalist_innen wurden angegriffen und in ihrer Arbeit behindert. Einige von uns erfuhren die Polizeigewalt am eigenen Leib. Marie Veit bringt diese Erfahrungen theologisch auf den Punkt:
„Das Kreuz bekommt die Füße auf die Erde. Es bekommt den gleichen brutalen, sachlichen Sinn, den es am Anfang hatte. Leiden als solches hätte keinen Sinn; der Kampf und das Ziel, um dessentwillen er geführt wird, bringt den Sinn mit sich. Anfängliche Erfahrungen dieser Art werden ja auch bei uns, in einer sonst extrem leidensvermeidenden, auf „Sicherheit“ bedachten Gesellschaft wieder gemacht, wenn Initiativen den Zusammenstoß mit der Staatsmacht riskieren. Noch wirken sie wenig in die Beschwichtigungsreligion hinein.“ (1)
Solidarität heißt Widerstand
Was auch festgehalten werden muss: Es war auch eine Erfahrung der Solidarität, denn tausende von Demonstrierenden ließen sich nicht spalten und weigerten sich, die Demonstration ohne diejenigen im Kessel fortzusetzen. Den Eingekesselten gelang es, die Stimmung hochzuhalten, es gelang trotz der Provokationen, dass von den Demonstrierenden keine Eskalation ausging. Gegen 22 Uhr, nachdem um die 1000 Demonstrant_innen, oft unter Schlägen und Anwendungen von Schmerzgriffen, abgeführt und erkennungsdienstlich behandelt worden waren und der Kessel damit ‚aufgelöst‘ war, wurde der Tag mit einem lautstarken Protestzug zum Hauptbahnhof beendet. In mehreren europäischen Städten fanden Solidaritätsdemonstrationen mit den Eingekesselten in Frankfurt statt. Aus dem Schauspielhaus wurden Wasser und Lebensmittel an Seilen in den Kessel heruntergelassen. Für die Proteste im nächsten Jahr, in dem die neue EZB eröffnet werden soll, ist dies ein gutes Zeichen. Wichtig festzuhalten ist allerdings auch: Ernsthafter Widerstand gegen kapitalistische Krisenpolitik soll verhindert werden. Alles, was über eine Demonstration, die niemanden stört, hinausgeht, wird brutal verhindert und kriminalisiert. Damit werden die Bündnisse einen Umgang finden müssen.
Im Institut für Theologie und Politik und in den Netzwerken, in denen wir mitarbeiten, werden wir weiterhin über die Ausbreitung der deutschen „Agenda 2010“ als neoliberales Lohndumping- und Sozialabbau-Vorbild aufklären, Protest und Widerstand organisieren. In der Zuversicht, dass es zunehmend mehr Menschen werden, die sich nichts mehr vormachen lassen und sich mit uns zusammen für eine andere Gesellschaft einsetzen.
Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit für alle – in echt jetzt
Dies bedeutet, existenzielle Bedürfnisse wahrzunehmen und für sie zu kämpfen – sowohl derjenigen, die in den ärmeren Ländern offensichtlich ihrer Lebensmöglichkeiten beraubt werden, als auch hier, wo eine Leistungs- und Anpassungskultur und Hungerlöhne vielen den Atem und Mittel zum Leben rauben. Marie Veit beschreibt, dass dies die lange vernachlässigte Aufgabe der Kirchen ist:
„Die Kirchen, aus denen wir kommen, reden zwar von Gnade, lehren aber weitgehend mehr Selbstentlarvung und Selbstaggression. „Wir selbst“ sind etwas, das zu bekämpfen, zu unterdrücken und zu beherrschen ist. Wir sollen uns nicht so wichtig nehmen; unseren Hunger nach Liebe, nach Wahrheit, nach nicht-entfremdeter Arbeit, den Hunger danach, Gerechtigkeit zu erleben und nicht nur Macht, den Hunger nach einer brüderlich-schwesterlichen Gesellschaft, in der wir gebraucht werden, aber auch selbst wichtig sind. Frühzeitig genug wird dieser Hunger den Kindern schon ausgetrieben, vielmehr: tief in sie hineingetrieben, verdrängt und eingesperrt, so daß sie lernen, ihn zu überspielen und zu vergessen. So kommt die tiefste Lüge in unser Leben.“ (2)
Lüge und Sünde: So zu tun, als sei diese Gesellschaft die beste aller möglichen. Statt dessen gilt es, unseren Glauben ernstzunehmen und zu erwarten, dass alles anders werden kann, dass weltliche Maßstäbe und Machtausübung nicht das letzte Wort haben. Dazu noch einmal Marie Veit:
„’Sünde‘ des einzelnen liegt zuerst und zutiefst gerade nicht in dem, was wir tun, auch nicht in den Motiven unseres Tuns; sondern sie liegt in unserer Bereitschaft, uns das Wichtigste ausreden zu lassen, sie liegt darin, daß wir zu wenig erwarten. Dem Gott, der unser Vertrauen ‚erwartet‘, entspricht der Mensch, der die Erfüllung seines Lebens ‚erwartet‘. Sünde besteht dann darin, daß wir nicht insistieren auf dem Hunger nach Nicht-Entfremdung; daß wir resignieren und dann religiöse Surrogate annehmen, etwa die nicht-inkarnierte Idee der Gnade. Gott insistiert. Man kann sich nicht vorstellen, was sonst aus der Menschheit würde. Wir selbst sind schneller bereit, unsererseits das Vertrauen zum Menschen aufzugeben, nur noch zu denen zu reden, die ohnehin schon unserer Meinung sind, die Mächtigen für zu böse oder zu betriebsblind zu halten, die desinformierten Massen für hoffnungslos gleichgültig. Wir wollen raschere Erfolge sehen, wir wollen nicht „ohnmächtig“ sein. Immer aufs neue müssen wir uns hiervon bekehren, um zu werden, was wir sind: Mitglieder der Widerstandsbewegung des ohnmächtigen Gottes.“ (3)
Ohne Heroismus, aber mit Entschlossenheit und den Erfahrungen der Solidarität der Widerstandstage im Rücken können wir zusammen mit den Genoss_innen sagen: Jetzt erst recht! Wie ein Slogan in der Demonstration mit einem Zitat Rosa Luxemburgs aber implizit theologisch auf den Punkt brachte: „Ich war, ich bin, ich werde sein: Die Revolution wird alle befrei’n!“★
Anmerkungen:
(1) Marie Veit: Theologie muss von unten kommen. Ratschlag für Linke, Wuppertal 1991, 68f.
(2) A.a.O., 82f.
(3) A.a.O., 83f.