ITP-Arbeitspapier Nr. 3: Franz Hinkelammert: Reflexionen zum Schuldenproblem

Letztes Jahr konnten wir alle die Wahl von Syriza in Griechenland und den damit einhergehenden Streit um die Staatsverschuldung Griechenlands miterleben. Viele waren empört über den Umgang der deutschen Bundesregierung mit der griechenischen Bevölkerung. Das ITP hatte zusammen mit vielen anderen Theologinnen und Theologen deshalb einen Aufruf zum Schuldenerlass veröffentlicht. Auf diesen Aufruf reagierte unser langjähriger Freund Franz Josef Hinkelammert (DEI, Costa Rica) mit einem Aufsatz zum Schuldenproblem und zur Entleerung der Menschenrechte im neoliberalen Kapitalismus. Der Aufsatz ist jetzt als ITP-Arbeitspapier erschienen (Broschüre und PDF Hinkelammert Schuldenkrise).

Das ITP-Arbeitspapier III „Reflexionen zum Schuldenproblem: Die Entleerung der Menschenrechte“ von Franz J. Hinkelammert ist ab sofort im Institut für Theologie und Politik erhältlich (Preis: 3 € zzgl. 1,50 € Versandpauschale).

Reflexionen zum Schuldenproblem: die Entleerung der Menschenrechte

von Franz Josef Hinkelammert

Im Juni dieses Jahres veröffentlichte das Institut für Theologie und Politik (ITP) in Münster eine Erklärung zur Schuldenproblematik, die sich insbesondere auf die Behandlung der griechischen Auslandsschulden in der gegenwärtigen Schuldenkrise bezog. Ich möchte meine Reflexionen hierüber in zwei Teilen durchführen. In einem ersten Teil möchte ich die Schuldenproblematik selbst , einschließlich ihrer theologischen Dimensionen, kommentieren. In einem zweiten Teil gehe ich dann auf den Konflikt um die griechische Auslandsverschuldung der letzten Jahre ein.

Teil I: Die Verschuldungsproblematik

Die Erklärung geht von einem Text aus, der seit etwa 2000 Jahren durchaus grundlegend für unsere westliche Kultur gewesen ist. Daraus folgt natürlich, dass dieser Text immer auch umstritten gewesen ist und das heute auch noch ist. Es handelt sich um das Vater-unser der christlichen Tradition, in dem folgende Bitte an Gott ausgesprochen wird: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unsern Schuldnern vergeben haben.“ Die Erklärung fasst die Bedeutung dieses Textes folgendermaßen zusammen:

„Schulden müssen erlassen werden, wenn sie nicht zurückgezahlt werden können und zu Verelendung und Armut führen. Nach der Bibel besteht die Schuld des Menschen vor Gott darin, unbezahlbare Schulden unerbittlich einzutreiben. Gott erlässt dem Menschen die Schuld, die er bei Gott hat, wenn Menschen die Schulden erlassen, die andere bei ihm haben. Die Bibel enthält die jahrtausende alte Weisheit, die sich auch heute in Griechenland bewahrheitet: Unbezahlbare Schulden zerstören das Leben des Schuldners. Die Vaterunser-Bitte ‚Und vergib uns unsere Schulden‘ verlangt Verzicht auf die Erfüllung von Gesetzen, die Menschen umbringen. Um des menschlichen Lebens willen, damit also Schuldner leben können, bittet das Vater-unser um Widerstand gegen das Gesetz, dass die Schulden bezahlt werden müssen.“

Das Institut für Theologie und Politik schickte im Juli an die Unterzeichner der Erklärung folgende Nachricht:

„Liebe UnterzeichnerInnen des Aufrufs ‚Und vergib uns unsere Schulden‘. In Griechenland ist unsere Erklärung als Ausdruck der Solidarität wahrgenommen worden, in Brasilien und in Lateinamerika als Vorlage für ähnliche Aktionen benutzt. Nur in der Bundesrepublik gibt es immer noch keine Resonanz. Der Tagesanzeiger in der Schweiz schrieb: ‚Was immer mit Griechenland noch wird, das Ergebnis ist klar: Die Austerität steht als Doktrin fester denn je. Es ist egal, dass ihre Resultate vernichtend sind, dass ihre Sprache langsam sowjetisch klingt und dass niemand auch nur das geringste Vergnügen an ihr hat. Oder an Europa. Es ist die einzige Idee, die der Politik noch geblieben ist.’“

Das hat mich interessiert, denn in den 80 und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben wir in Lateinamerika ganz ähnlich argumentiert, aber die deutsche Reaktion darauf war ganz so wie heute gegenüber Griechenland. Doch die Analyse ist deshalb gerade so wichtig, weil es für mich in vielen Fällen feststeht, dass viele derer, die auf diese Argumente nicht reagierten, durchaus für einen Schuldennachlass eintraten.

Schuldentheologie und Gesetzeskritik

Mir scheint jetzt wichtig zu sein, festzustellen, dass die Schuldentheologie, wie sie im Vater unser gemacht wird, mehr ist als nur diese Schuldentheologie. Sie ist gleichzeitig die Gesetzeskritik, die Jesus macht, die gerade im Falle der Schuldentheologie am weitesten entwickelt wird. Aber sie ist schon bei Jesus sehr definitiv.

Hier ist es dann wichtig, zu zeigen, wie Paulus genau diese Problematik behandelt. Er spricht nicht direkt von einer Schuldentheologie und daher von einer Kritik der Schuldenzahlung, sondern er integriert diesen ganzen Komplex in seine Gesetzeskritik, die gleichzeitig eine Gesetzestheologie ist. Seine Definition des Problems ist überraschend klar und sehr einfach verständlich. Er sagt: „Der Stachel des Todes ist das Verbrechen. Die Kraft des Verbrechens ist das Gesetz.“ (1 Kor 15,56)1

Paulus spricht hier in universaler und daher auch begrifflicher Form seine Kritik am Gesetz aus. In der paulinischen Form wäre jetzt die Schuldentheologie die folgende: Kann der Schuldner die Schuld nicht bezahlen, ist sein Leben bedroht. Aber der Gläubiger erfüllt ja gerade das Gesetz, wenn er trotzdem die Zahlung verlangt. Er hat jetzt despotische Gewalt über den Schuldner. Aber der Gläubiger als Despot hat ein gutes Gewissen, denn er erfüllt ja das Gesetz. Erfährt er jetzt einen Widerstand, ergibt sich genau das, was Paulus sagt, das Gesetz verwandelt sich nämlich in die Kraft, um alle nur möglichen despotischen Maßnahmen aufzuerlegen. Damit entsteht eben das Verbrechen, dessen Kraft das Gesetz ist. Und dieses Verbrechen nennt Paulus den Stachel des Todes.

Paulus hat genau dasselbe gesagt, wie es auch Jesus sagte. Nur sagte er es in Form einer reflektierten Analyse der Wirklichkeit. Wir könnten auch sagen: in Form einer Aussage der Sozialwissenschaften. Aber es geht dann nicht nur um die Schuldentheologie. Die Kritik Jesu am Sabbat hat genau den gleichen Charakter. Jesus fordert dort: „Der Mensch ist nicht für den Sabbat da, sondern der Sabbat ist für den Menschen da.“ Ist hingegen der Sabbat nicht für den Menschen da, wird der Mensch mit Hilfe des Sabbats einer despotischen Macht unterworfen, die wiederum ein Stachel des Todes ist.

Hier entsteht dann eine generelle Behauptung, wonach eben jedes Gesetz in sich einen Bruch im Sinne des Umschlagens ins Gegenteil hat. Wird es über die Grenze hinaus erfüllt, die dieser Bruch setzt, verwandelt sich das Gesetz in die Kraft des Verbrechens und damit in despotische Kraft und in den Stachel des Todes. Dies gilt nicht einfach für einige Gesetze. Es gilt für alle Gesetze, die einer formalen Erfüllung unterliegen. Es gilt daher auch für das Gesetz Gottes. An einem bestimmten Punkt schlagen sie ins Gegenteil um und haben einen Bruch.

Es gibt allerdings auch Gesetze, bei denen auch in unserer Gesellschaft nicht diese Despotie des Gesetzes zugelassen wird. Dies hat mich immer sehr interessiert. Nehmen wir etwa unsere Straßenverkehrsordnung. Sie bestimmt in Rechtsform, wie sich der Verkehrsteilnehmer zu verhalten hat. So bestimmt sie etwa, wer wo Vorfahrt hat. Damit ist die allgemeine gesetzliche Situation gegeben. Aber dann wird über den Bruch, der auch das Gesetz der Verkehrsordnung durchzieht, gesprochen und es wird verboten, auf die Vorfahrt zu bestehen. Hat ein anderer meine Vorfahrt nicht geachtet, darf ich ihn nicht überfahren, obwohl das Gesetz seiner Form nach dies offen lässt. Die Situation ist die gleiche wie im Fall der Zahlungsunfähigkeit von Schulden. Handelt es sich um Schulden, dürfen wir allerdings den Schuldner überfahren. Der despotischen Macht wird hier völlige Freiheit gegeben. Im Falle des Verkehrs aber nicht. Hier darf ich nicht das Gesetz erfüllen, wenn diese Erfüllung das Leben eines anderen, der das Gesetz gebrochen hat, bedroht. Kein deutsches Gericht kann heute die Todesstrafe verhängen. Aber der Finanzminister kann es, wenn es um unzahlbare Schulden geht.

Aber man sieht, dass der Bruch des Gesetzes immer da ist und wir uns zu ihm verhalten müssen. Immer ist es möglich, mit dem Bruch des Gesetzes despotische Macht zu erreichen, die dann das Recht einschließt, Todesurteile zu fällen und auszuführen, ohne dass irgendein Rechtssystem dagegen einschreiten kann. Wenn die Gesellschaft auf Todesurteile und Todesstrafen verzichtet, ist dies bisher immer so verstanden worden, dass es für Rechtsbrüche keine Todesstrafe mehr gibt. Die Todesstrafe, die sich aus der despotischen Macht des Gesetzes jenseits des besprochenen Bruchs ergibt, bleibt völlig freigestellt. Unser oberstes Gericht kann keine Todesstrafe verhängen. Doch unser Finanzminister kann die Todesstrafe über beliebige Zahlen von Menschen verhängen. Aber das Recht, dies zu tun, nennt gerade der heute herrschende Neoliberalismus die Basis der Freiheit des Menschen. Damit wird die Despotie zur Basis der menschlichen Freiheit gemacht und die Menschenrechte können beliebig abgeschafft werden und werden auch beliebig abgeschafft. Häufig gilt es sogar als Pflicht, sie abzuschaffen. Diese Pflicht gilt dann als Erfordernis der Freiheit unserer Neoliberalen. Zumindest aber gilt dies als die sogenannte wirtschaftliche Rationalität. Man gibt dieser Abschaffung heute den euphemistischen Namen „Reformen“, während es sich gerade um die Abschaffung vorheriger Reformen handelt.

Dieser Bruch im Gesetz mit seinem Umschlag des Gesetzes in sein Gegenteil ist der Ausgangspunkt aller Gesetzeskritik, aber auch aller Gesetzestheologie der Evangelien und bei Paulus. Wenn Paulus davon spricht, dass es unmöglich ist, das gesamte Gesetz einfach zu erfüllen, so ist diese Begrenzung nicht etwa die Folge der Unfähigkeit des Menschen, seine Begierde zu beherrschen, sondern bezieht sich auf die objektive Unmöglichkeit, das Gesetz zu erfüllen, (dies gilt etwa für den Galaterbrief im 3. Kapitel wie auch insbesondere im 7. Kapitels des Römerbriefs). Man kann eben nicht alle Schulden bezahlen, man kann nicht immer die Wahrheit sagen, man kann nicht immer das Privateigentum achten. Das Gesetz schlägt um und produziert seine eigene Unmöglichkeit der absoluten Erfüllung. Die absolute Gesetzeserfüllung ist der Tod, und, wenn man will, der kollektive Selbstmord der Menschheit. Es handelt sich, wie Paulus sagt, um den Stachel des Todes. Es geht also darum, das Gesetz immer dann zu suspendieren, wenn seine Erfüllung die Lebensmöglichkeit des Menschen zerstört. Der Stachel des Todes muss stumpf gemacht werden.

Ein deutscher Innenminister sagte gegenüber dem Gesetzesbruch durch das Kirchenasyl: Es gibt keine rechtsfreien Räume. Wenn es keine rechtsfreien Räume gibt, gibt es überhaupt kein menschliches Leben. Das Verbot aller rechtsfreien Räume ist der absolute Totalitarismus. Aber es ist der Traum unserer Verabsolutierer des Rechts. Gehen wir zurück zu unserem Problem der Zahlung einer unbezahlbaren Schuld. Es wird gefordert, solche Schulden nachzulassen. Das schafft auch einen rechtsfreien Raum. Aber er wird erfüllt durch Gerechtigkeit, die daraus begründet ist, dass das menschliche Leben zu vermenschlichen ist. Es handelt sich nicht um eine Norm, solche Schulden nachzulassen. Es handelt sich darum, diesen rechtsfreien Raum zu schaffen, der in dem vorhergehenden Beispiel das Kirchenasyl war. Es ist eine Forderung der Gerechtigkeit.

Was die Problematik dieses rechtsfreien Raumes angeht, weist Paulus die Möglichkeit einer Lösung auf. Der rechtsfreie Raum ist nicht etwa leer, aber er kann durch kein formales Gesetz definitiv geordnet werden:

„Bleibt niemandem etwas schuldig, es sei denn de gegenseitige Liebe. Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Die Gebote: Du sollst nicht ehebrechen! Du sollst nicht töten! Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht begehren! Und was es sonst an Geboten geben mag, werden ja in diesem einen Wort zusammengefasst: ‚liebe deinen Nächsten; das bist du selbst‘. Die Liebe fügt dem Nächsten nichts Böses zu. So ist die Liebe die Vollendung des Gesetzes.” (Röm 13,9-10)

Ich habe die übliche Übersetzung etwas geändert. Diese sagen so gut wie immer‚ liebe deinen Nächsten wie dich selbst’. Ich habe stattdessen geschrieben: ‚liebe deinen Nächsten: das bist du selbst.’ Ich habe damit die Übersetzung gewählt, die Lévinas vertritt und von der er sagt:

„Was bedeutet ‚wie dich selbst‘? Buber und Rosenzweig kamen hier mit der Übersetzung in größte Schwierigkeiten. Sie haben gesagt: ‚wie dich selbst‘, bedeutet das nicht, daß man am meisten sich selbst liebt? Abweichend von der von ihnen erwähnten Übersetzung, haben sie übersetzt: ‚liebe deinen Nächsten, er ist wie du“. Doch wenn man schon dafür ist, das letzte Wort des hebräischen Verses, ‚kamokha‘, vom Beginn des Verses zu trennen, dann kann man das Ganze auch noch anders lesen: ‚Liebe deinen Nächsten; dieses Werk ist wie du selbst‘; ‚liebe deinen Nächsten; das bist du selbst‘; ‚diese Liebe des Nächsten ist es, die du selbst bist‘.“2

Eine ganz ähnlich Übersetzung wählt Dick Boer:

„Und mit ‘lieben’ ist in diesem Zusammenhang nicht die Liebe gemeint, die es zwischen Geliebten gibt – und die im Hohen Lied in ihrer ganzen lustvollen Herrlichkeit besungen wird. Diese Liebe kann auch gar nicht geboten werden. Das Lieben deines Nächsten will sagen: solidarisch zu sein, neben dem anderen stehen, der sich ohne dich nicht retten kann – wie du dich ohne ihn nicht retten kannst.”3

Ich habe dann eine interessante Reflexion bei Brigitte Kahl gefunden, die gerade zeigen kann, dass Paulus tatsächliche diese Vorstellung von Nächstenliebe hat, wenn er von ihr spricht:

„Einer der gemeinschaftspraktischen Schlüsselbegriffe in der paulinischen Neu-Definition von Selbst und Anderen ist das griechische allelon, das in Gal 5-6 nicht weniger als siebenmal vorkommt. Es wird allgemein als (mit)einander übersetzt, heisst aber wörtlich anders-anders (von allos-allos) und impliziert so den Anderen als entscheidendes Kriterium alles Selbst-sein.”4

Brigitte Kahl kommt von daher dann auch zu der Vorstellung des Verbrechens, das in Erfüllung des Gesetzes begangen wird und seine Kraft vom Gesetz selbst herleitet:

„…die Logik der Sünde und des ‘Fleisches’, die dieses vom Gesetz etablierte Andere zum Objekt der Unterwerfung und Vernichtigung und Vernichtung macht, dessen Ausgrenzung, Ausbeutung und Instrumentalisierung dem herrschenden Gesetz nicht zuwiderläuft.”5

Daraus kann man schließen, dass auch Paulus die Nächstenliebe so auffasst, wie es die Übersetzung von Lévinas sagt, die wiederum von Rosenzweig und Buber abgeleitet ist.

Daraus folgt dann, dass für Paulus die Legitimität eines jeden Gesetzes davon abhängt, ob es mit diesem Kriterium vereinbar ist. Ist es das nicht, muss man den rechtsfreien Raum eben erklären, der aber genau diese Nächstenliebe in dieser Formulierung als Kriterium hat und nicht irgendein Gesetz.

Diese eher authentische Übersetzung dessen, was als Nächstenliebe gilt, öffnet eine durchaus neue Sicht auf die gegenwärtige Welt. Es handelt sich um Tendenzen, die spirituelle Dimension des Handelns und gerade auch des politischen Handelns neu zu entdecken und weiter zu denken. Während das bürgerlich-kapitalistische Denken eine sehr klare spirituelle Dimension hat, ist dies für das kritische Denken sehr viel schwieriger. Aber man kann der Spiritualität des bürgerlichen Denkens nicht begegnen, wenn man nicht selbst eine dem Handeln entsprechende Spiritualität entwickelt.

Die Kritik der Spiritualität des bürgerlich-kapitalistischen Denkens ist insbesondere von Marx in seiner Theorie des Fetischismus vorgestellt worden. Sie wurde allerdings danach sehr wenig weiterentwickelt, wie dies etwa bei Walter Benjamin der Fall ist. Ebenfalls geschah dies in der Entwicklung der Befreiungstheologie in Lateinamerika.

Aber erst heute finden wir großangelegte Versuche, eine neue Spiritualität im Handeln selbst zu entdecken und fortzuführen. Ich glaube, dass dies insbesondere in Südafrika mit der Resistenz gegen die Apartheid deutlich zum Ausdruck kam, um dann nach der Demokratisierung Südafrikas weitergeführt zu werden. Ich beziehe mich hier auf die Grundlegung dieser Aktion im Humanismus Ubuntu, einem Humanismus sehr langer Tradition im südlichen und östlichen Afrika. Der wurde speziell vom anglikanischen Bischofs Desmond Tutu vertreten, und ist heute sogar Teil der südafrikanischen Verfassung. Seine Formulierungen sind divers, aber es gibt Formulierungen, die von unserem Standpunkt aus Aufmerksamkeit erregen. Es ist z.B.: Ich bin, wenn du bist oder auch: ich bin, wenn ihr seid. Die Nähe zur Formulierung der Nächstenliebe bei Rosenzweig und Buber und daher auch bei Lévinas ist erkennbar.

Ein anderes Beispiel ist das einiger lateinamerikanischen Länder mit hohem Anteil der indigenen Bevölkerung. Sie führen eine Vorstellung ein, die dann auch in der Verfassung selbst auftaucht, die man Suma Qamañay nennt, die vielfach mit gut leben übersetzt wird. Aber hier ist gutes Leben nicht etwa aristotelisch zu verstehen, sondern bedeutet: Gutes Leben ist dann gut, wenn auch der andere ein gutes Leben hat und dies auch für die Natur gilt. Sie hat eine lange geschichtliche Tradition in diesen Ländern, die noch aus vorkolumbianischer Zeit stammt. Dies wird insbesondere in Bolivien und Ecuador herausgestellt, aber es ist auch in anderen Ländern gegenwärtig.

Wir werden natürlich sehen müssen, wie weit dies fähig ist, der Spiritualität des Marktes und des Geldes entgegenzutreten.

In all diesen Formen des Denkens gibt es eine noch zu erwähnende gemeinsame Position. Sie ist gegenwärtig in einem entsprechenden Denken über die Emanzipation des Menschen: die Emanzipation ist und muss die Befreiung des anderen Menschen sein. Aber indem sie das ist, gilt auch die Umkehrung: die Befreiung befreit ebenfalls den Unterdrücker. Der Sklavenbesitzer, der seine Sklaven befreit, befreit im gleichen Akt auch sich selbst. So befreit sich auch der Mann, der keinen Widerstand ausübt gegen die Emanzipation der Frau. Auch diese Befreiung muss man fördern, damit die Emanzipation Bestand hat.

Es stellt sich dann aber schnell heraus, dass der Unterdrücker diese Art Freiheit nicht zu akzeptieren bereits ist. Er liest lieber Nietzsche, bei dem er eine ganz andere Emanzipation sucht, nämlich: die Befreiung von allen Emanzipationen.

Es ergibt sich eine Auseinandersetzung zwischen grundsätzlichen Positionen. Eine geht davon aus, dass einer in der Auseinandersetzung mit dem anderen siegt, ihn unterwirft und sich ihm überordnet. Dies gilt dann als die rationale Lösung und faktisch ist es die Lösung durch Konkurrenz auf dem Markt. Die andere Position geht davon aus, dass der Unterworfene jeweils zu befreien ist und dass dies auch im Verhältnis zur Konkurrenz die bessere Lösung ist. Dann ist die rationale Lösung diejenige, die es ermöglicht, dass niemand in eine extreme Position der Unterwerfung kommt. Nehmen wir ein Beispiel: von der Marktkonkurrenz her beurteilt, ist die Situation der Arbeitslosigkeit eine Situation, die irrelevant ist für das Urteil über die Rationalität der Wirtschaft. Die Wirtschaft ist rational einfach deswegen, weil sie auf dem Markt beruht. In der anderen Sicht ist eine Wirtschaft, in der es eine relevante Arbeitslosigkeit gibt, wirtschaftlich irrational einfach deshalb, weil diese Situation ungerecht ist im Sinne des Gemeinwohls. Im Falle des Marktkalküls ist die Rationalität ein simplizistisches Denken in der Beziehung von Zweck und Mitteln der instrumentellen Vernunft. Im Falle der Gemeinwohlgerechtigkeit hingegen wird die Beziehung von Zweck und Mittel unter dem Gesichtspunkt der Lebensmöglichkeiten aller bestimmt. Die Rationalität einer Aktion ist nie ableitbar aus ihrem instrumentellen Funktionieren: Man darf den Ast nicht absägen, auf dem man sitzt. Wird dies unter dem Gesichtspunkt der Weberschen Analyse als ein Werturteil erklärt, über das die Wissenschaft nicht befinden kann, ist dies offensichtlich ein ganz ideologischer Simplizismus. Den Selbstmord abzulehnen ist kein Werturteil, sondern Voraussetzung allen irgendwie rationalen Handelns und daher der Existenz von Werturteilen ebenfalls.

Dies führt zu deiner neuen Auseinandersetzung um die Rationalität. Es entsteht eine neue Auseinandersetzung um die Rationalität, die gewissermaßen über die Aufklärung des XVIII. Jahrhunderts hinausgehen will und dabei das Rationalitätskonzept dieser Aufklärung in Zweifel zieht. Dies ergibt sich bereits dadurch, dass ja diese erste Aufklärung auf eine Rationalität des Marktes und der Marktgesetze aufbaute. Nach heutiger Diktion wird gesagt: sie ist eurozentrisch. Dies schließt eben das Marktzentrische und das Gesetzzentrische mit ein. Die neuen Diskussionen sind das Ergebnis der Emanzipationsbewegungen, die im XIX. Jahrhundert einsetzten (vor allem die Emanzipation der Sklaven, der Frauen und der Arbeiterschaft), denen im XX. Jahrhundert die Emanzipationen vom Kolonialismus und der Natur nachfolgten.

Diese Emanzipationen sind etwas Neues. Die Emanzipation, von der die Aufklärung des XVIII. Jahrhunderts sprach, ist zwar Vorbedingung für diese Emanzipationen, enthält sie aber nicht. Ihre Vertreter in der Französischen Revolution wurden allesamt von der Revolution selbst ermordet (Olympe de Gouges, Toussaint Louverture, Babeuf). Aber nachdem einmal die bürgerliche Gesellschaft gegründet war, formierten sich diese Emanzipationen auf der Basis des Konzepts des citoyen. Darauf folgten dann die Emanzipationskämpfe um die Menschenrechte gegenüber den Machtstrukturen dieser bürgerlichen Gesellschaft. Es handelt sich jetzt um Volksbewegungen, die ihren Platz wollen und die jetzt selbst neue Grundlagen des Gemeinwohls definieren und verteidigen. Es handelt sich offenbar um ein Gemeinwohl, das weitgehend anders formuliert und vertreten wird als dies mit dem Gemeinwohl aristotelisch-thomistischer Herkunft des Mittelalters der Fall war.

Es entsteht jetzt ein aufklärerisches Denken, das diese Emanzipationskämpfe voraussetzt und sich heute unter dem Titel der Antikolonialität installiert. Es geht dann um neue Perspektiven eines Denkens, dass nicht eurozentrisch unterworfen ist. Es geht darum, das Denken selbst und die Subjektbildung eines jeden zu entkolonialisieren. Eurozentrik bedeutet in diesem Zusammenhang, die Unterwerfung gerade der Unterworfenen unter das Denken der europäischen Herrschaft im weitesten Sinne. Das Denken des Unterworfenen wird selbst kolonialisiert und kann dann keinen alternativen Weg mehr gehen. Es kann aber eben auch nicht den Weg des Eurozentrismus selbst gehen. Es geht den Weg des Opfers des Eurozentrismus und entwickelt eine ganze Kultur dieses Opferseins des Eurozentrismus. Es geht daher um eine Aufklärung, die nicht etwa die instrumentelle Rationalität abschafft, sondern sie einer erweiterten Rationalität unterwirft, die die Rationalität der freien Entwicklung eines jeden als Bedingung der freien Entwicklung aller ist. Mir scheint heute einer der wichtigsten Vertreter dieses Denkens Ramón Grosfoguel zu sein.

Aber in allen Fällen wird auch die Gesetzlichkeit in der Form gesehen, wie dies bei Paulus der Fall ist.

Paulus spricht in bezug auf dieses Phänomen davon, dass über dem Gesetz ein Fluch liegt. (Gal, 3,10) Es handelt sich darum, diesen Fluch aufzulösen. Es handelt sich also nicht darum, jetzt diesen Fluch zu verfluchen. Es handelt sich darum, ihn aufzulösen.

Im zweiten Thessalonikerbrief, der ganz zweifellos nicht von Paulus stammt, wird ganz anders gesprochen. In diesem Brief spricht der Autor vom Antichristen als dem Menschen der Gesetzlosigkeit. Schon daraus kann man sehen, dass der Brief nicht von Paulus sein kann. Paulus hat zwar nie vom Antichristen gesprochen. Hätte er aber davon gesprochen, wäre es für ihn keineswegs der Mensch der Gesetzlosigkeit, sondern der Mensch des absoluten Gesetzes, des Gesetzes ohne rechtsfreie Räume. Man sieht schon hieran, dass der Autor nicht Paulus sein kann und man sieht ebenfalls, dass der Autor den Brief gegen Paulus und seine Gesetzesauffassung schreibt.

Die Aufweichung der paulinischen Gesetzeskritik

Diese paulinische Gesetzeskritik, die aus der Botschaft Jesu abgeleitet ist, ist in der darauf folgenden Geschichte des Christentums weitgehend verdrängt worden. Bei Augustinus bereits wird der paulinische Stachel des Todes durch die Begierde (die Konkupiszenz) ersetzt. Die Problematik des Schuldennachlasses oder der Gesetzeskritik spielt bei Augustinus nicht die geringste Rolle. Dies wird dann Teil unserer Kultur bis hin zur heutigen Psychoanalyse, die an die Stelle dieser Konkupiszenz die libido setzt. Das Wort libido taucht in den anticatalinarischen Reden von Cicero auf und bezeichnet die Aufständischen, die angeblich durch die libido (die hier das gleiche bedeutet wie die Konkupiszenz) zu diesem Aufstand verführt wurden. Bei Nietzsche taucht dann eine entsprechende Vorstellung unter den Namen Neid oder Ressentiment auf. Dass etwa die Kritik ein Ergebnis des Stachels des Todes sein könnte, der das Verbrechen ist, das seine Kraft von der Umkehrung der Gesetze ableitet, die dem Vertreter dieser Gesetze eine despotische Macht gibt, bleibt völlig unsichtbar. Es kommt erst in der Moderne mit der Analyse von Marx zurück, die aber auch nicht einfach das letzte Wort ist. Doch es wird klar: kritisches Denken ist ein Denken, das sich diesem Stachel des Todes stellt und ihn nicht durch die libido ersetzt, sondern eher ergänzt.

Die paulinische Formulierung dieses Stachels des Todes, die Paulus wiederum aus der Jesusbotschaft ableitet, verschwindet aber nicht einfach. Doch sie überlebt nur auf marginale Weise, häufig als Häresie. Aber es gibt einige Formulierungen, die ihre Gegenwart im Mittelalter zumindest bezeugen. Es handelt sich um Formulierung wie z.B. summa lex, maxima iniustitia (die höchste Gesetzlichkeit ist die maximale Ungerechtigkeit) oder fiat iustitia, et pereat mundus (es sei Gerechtigkeit, auch wenn darüber die Welt vergeht) Diese Aussprüche finden sich häufig. Sie drücken aus, dass die totale Gesetzlichkeit der Tod ist. Zwar werden sie nicht zu einer allgemeinen Gesetzeskritik verarbeitet. Sie machen aber diese Grundhaltung gegenwärtig, aus der die Gesetzeskritik entstanden ist.

Unsere gewöhnliche Vorstellung vom Gesetz ist ganz anders. Sie geht davon aus, dass die Gerechtigkeit darin besteht, die Gesetze zu erfüllen. Muss man aber akzeptieren, dass ein bestimmtes Gesetz zur Ungerechtigkeit führt, muss man das Gesetz ändern und es durch ein besseres Gesetz ersetzen, das dann in seiner Erfüllung jeweils zum gerechten Handeln führt. Gerechte Gesetze sind also die Gesetze, deren Erfüllung zu einem gerechten Handeln führt. Das aber ist in der jesuanisch-paulinischen Gesetzesauffassung nicht so. Alle Gesetze, auch das Gesetz Gottes, führen zur Ungerechtigkeit, wenn man die Gerechtigkeit in der Erfüllung des Gesetzes sieht. So ist etwa die Pflicht, Schulden zu bezahlen, ein gültiges Recht, das keineswegs abzuschaffen ist. Aber es führt zur Ungerechtigkeit, wenn man die Gerechtigkeit in seiner bloßen Erfüllung sucht. Die Erfüllung muss jeweils beurteilt werden und das Gesetz ist zu suspendieren, wenn sein Erfüllung die Lebensmöglichkeiten des Schuldners zerstört. Eine solche Pflicht kann dann natürlich auch wieder durch ein einschränkendes Gesetz vorgeschrieben werden, aber auch dieses Gesetz unterliegt dann wieder dem Urteil, ob es nun tatsächlich oder in einem bestimmten Fall die Lebensmöglichkeiten des Schuldners zerstört. Tut es das, muss es wiederum suspendiert werden.

Die heute eher dominante gegenteilige Position hierzu ist wohl die Kantsche. Für Kant ist die Erfüllung des Gesetzes das Kriterium der Gerechtigkeit, nicht das Leben des durch das Gesetz betroffenen. So sagt er zum Beispiel (dem Sinn nach): dass die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragt, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet hat, ein Verbrechen sein würde. Das „du sollst nicht lügen“ gilt absolut. Wenn ein potentieller Mörder nach dem von ihm gesuchten Opfer fragt, muss ich ihm die Wahrheit sagen, auch wenn ich weiß, dass er ihn ermorden will. Das Gesetz gilt über alle seine möglichen realen Konsequenzen hinaus. In der paulinischen Interpretation wäre man sogar verpflichtet, dem potentiellen Mörder notfalls die Unwahrheit zu sagen und dies wäre dann die „wahre“ Antwort.

Aber die Kantsche Art, die Erfüllung der Gesetze zu begründen, bleibt für unsere heutige Kultur weiterhin die grundlegende. Sogar noch die Disksursethik von Habermas und Appel nimmt im Prinzip diesen Standpunkt ein. Deshalb sucht sie immer nach „gerechten“ Gesetzen und nicht nach der Gerechtigkeit in der Anwendung von Gesetzen. Die letztere Konsequenz wird aber auch bei Marx gezogen, wenn er von dem „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“6 spricht. Aber auch Marx führt diese Reflexion nicht zu Ende, da er davon ausgeht, dass es im Kommunismus keine Warenproduktion mehr gibt und folglich das Problem der Gesetzeskritik selbst entfällt. Davon können wir aber heute nicht mehr ausgehen.

Dies ist dann der Grund, dass wir heute diese Gesetzeskritik, die vom inneren Bruch im Gesetz ausgeht, der die Bedeutung des Gesetzes in ihr Gegenteil verändert, wieder aufnehmen müssen. Die Kantsche Auffassung von definitiv „gerechten“ Gesetzen ist in keiner Form noch haltbar.

Die Unsichtbarkeit der ursprünglichen Schuldenkritik

Ich glaube, dass es notwendig ist, diese Art von Reflexionen zu machen, wenn man verstehen will, warum die Erwähnung der Schuldenkritik bei Jesus und Paulus so wenig Anklang findet. Diese Art Schuldenkritik ist für unsere Gegenwart völlig unsichtbar gemacht worden. Wir könnten uns dann fragen, wie sich dies äußert.

Dazu eine Anekdote, die ich schon häufig erzählt habe, die aber völlig wahr ist. Im Jahre 2000 war das vom Vatikan erklärte Jubeljahr. Dieses Jahr sollte gerade an das Schuldenproblem Lateinamerikas anknüpfen. Ich bekam einen Brief von einem protestantischen Hilfswerk, in dem sie mir erklärten, dass sie für die Fastenzeit verschiedene Texte wollten, die auf das Schuldenproblem anspielen und die man für die Gottesdienste der Fastenzeit benutzen könnte. Ich habe dann einen Text geschickt, der dem Entwurf des Instituts für Theologie und Politik sehr ähnlich ist und ebenfalls von der entsprechenden Vater-unser-Bitte ausging. Nach kurzer Zeit bekam ich Antwort: Leider sei aller Raum für die geplante Veröffentlichung schon besetzt. Aber man würde mir das abgemachte Honorar bezahlen.

Der Zufall wollte es, das ich kurz danach von einem katholischen Hilfswerk einen Brief bekam, der ganz ähnlich lautete wie der vorherige Brief des protestantischen Hilfswerks. Ich schickte daraufhin den fast gleichen Text dahin. Und ich erhielt einen fast gleichen Antworttext wie ich ihn vorher bekommen hatte, einschließlich des Honorars.

Einige Monate danach bekam ich einen ganz ähnlichen Brief von Nueva Sociedad, der von den deutschen Sozialdemokraten in Lateinamerika auf Spanisch veröffentlichten Zeitschrift, obwohl ein bisschen anders formuliert. Aber es ging um das gleiche Problem. Ich schickte wieder einen Text und bekam wieder einen Brief, der besagte, dass leider schon über den Raum disponiert sei, sie mir aber das Honorar schicken würden. Das Ganze war wie verrückt.

Aber es kann wohl kein Zufall sein. Die mir diese Briefe geschickt hatten, sahen doch sicher alle die Forderung, Schulden nachzulassen oder zu verringern, mit Sympathie an. Es handelt sich deshalb keineswegs um eine böse Absicht. Warum dann die Ablehnung? Ich glaube, es ist die Ablehnung eines Arguments. Wir müssen dann genau ansehen, was das Vater-unser eigentlich sagt. Es ist natürlich klar, dass es sich nur auf Schulden bezieht, die unbezahlbar sind und die deshalb den Schuldner ruinieren, wenn er gezwungen wird, sie zu bezahlen.

Die Schulden des Menschen bei Gott sind überhaupt keine Schulden, die bezahlt werden müssen oder können etc. Es wird aber geschuldet und der Schuld muss entsprochen werden. Man schuldet nämlich Gott, dem Nächsten, der bei uns verschuldet ist, die Schulden nachzulassen (sofern ihre Zahlung den Schuldner ruinieren würde).

Dies aber impliziert, dass dieser Schuldennachlass im Namen der Gerechtigkeit gefordert wird. Diese Schulden nicht nachzulassen, ist ungerecht. Das ist ungerecht, auch wenn der Schuldvertrag ein gültiger Vertrag ist. Die Forderung lässt sich nicht auf Mitleid oder Barmherzigkeit reduzieren, obwohl immer auch Mitleid dazu gehören kann. Doch es geht um Gerechtigkeit. Es nicht zu tun, ist nicht einfach eine Sünde, sondern ein Verbrechen. (Ich erinnere mich daran, dass Schäuble vor Jahren in seiner zynischen Art sagte: Mit den Schulden und ihrem Nachlass ist es nicht so wie bei den Sünden in der Kirche. Bei diesen geht man in den Beichtstuhl und kommt ohne Sünden wieder heraus). Man kann ein Beispiel geben. Wenn wir einen Bettler treffen, können wir ihm ein Almosen geben. Ob man es gibt oder nicht, wird nicht als Frage der Gerechtigkeit behandelt, sondern die Haltung wird auf Mitleid reduziert. Wahrscheinlich ist auch dies nicht so einfach richtig, aber es wird so behandelt. Der Schuldennachlass des Vater-unser aber ist ganz sicher anders. Es ist eine Pflicht, die Schulden nachzulassen. Eine Pflicht vor Gott und dem Nächsten. Es ist das, was man Gemeinwohl nennen könnte und, wie ich meine, auch nennen sollte. Es ist allerdings nicht das aristotelisch-thomistische Gemeinwohl. Sondern es ist das Wohl aller, wie es Jesus und ebenso auch Paulus versteht, obwohl Paulus die Schuldenzahlungen nicht direkt erwähnt. Das Gemeinwohl hier ist das Wohl aller und man schuldet es im Namen der Gerechtigkeit. Man schuldet es dem Vater-unser nach Gott, aber diese Schuld Gott gegenüber entpuppt sich letztlich als eine Schuld allen Menschen gegenüber, letztlich auch eines jeden sich selbst gegenüber. Daher ist sie die einzig wahre Form der Selbstverwirklichung. Es handelt sich nicht um ein Selbstopfer. Bei Jesus ist diese Gemeinwohlschuld überall gegenwärtig und wird immer gleichzeitig als eine Schuld Gott gegenüber gesehen. So etwa: Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat. Das ist eine Forderung des Gemeinwohls, aber sie ist gleichzeitig Schuld gegenüber Gott.

Übrigens handelt es sich um einen Begriff des Gemeinwohls, der das aristotelisch-thomistische Gemeinwohl weit hinter sich lässt. Gerade heute scheint mir diese Neufassung des Begriffs notwendig.

Geht man hiervon aus, kann man die allgemein sichtbare Gleichgültigkeit gegenüber der Schuldenbitte des Vater-unser verstehen. Es ist nicht, dass nicht verstanden würde, was sie besagt. Man lehnt sie ab, weil man verstanden hat, was sie sagt. Man besteht darauf, dass alles auf ein Mitleid reduziert wird, das im Grunde den andern darauf reduziert, Objekt zu sein. Statt einer Pflicht folgt man dann eben nur einer Neigung. Die Schulden zu erlassen, hat jetzt den Charakter eines Almosens. Es ist nicht mehr ein vernünftiger Akt, der aus der Gerechtigkeit entspringt und Pflicht ist, sondern ein eher irrationaler Akt der sich im Gefühlsleben der Person des Gläubigers abspielt. Vom Standpunkt dieser Wirtschaftsvorstellung ist es ein Akt, der der wirtschaftlichen Rationalität widerspricht, während es sich in der Vorstellung der jesuanisch-paulinischen Gesetzeskritik um einen Akt handelt, der der wirtschaftlichen Rationalität entspringt. Die Schulden nachzulassen, ist, auch wirtschaftlich gesehen, der rationale Akt. Er ist Teil eines schöpferischen Zusammenlebens.

Jesus fasst das Urteil über diese Ungerechtigkeit in einem Gleichnis zusammen:

„Deshalb ist es mit dem Himmelreich wie mit einem König, der Abrechnung halten wollte mit seinen Knechten. Da er nun anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der zehntausend Talente schuldig war. Da er nicht zahlen konnte, befahl der Herr, ihn zu verkaufen samt seiner Frau und seinen Kindern und seiner ganzen Habe und (so) die Zahlung zu leisten. Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an: ‚Habe Geduld mit mir, ich will dir ja alles bezahlen.‘ Da erbarmte sich der Herr jenes Knechtes, ließ ihn frei und erließ ihm die Schuld. Kaum war aber jener Knecht draußen, da traf er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war. Den packte er, würgte ihn und sagte: ‚Bezahle, was du schuldig bist.‘ Da fiel der Mitknecht ihm zu Füßen und bat ihn: ‚Habe Geduld mit mir, ich will es dir ja bezahlen.‘ Aber der wollte nicht, sondern ging hin und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt hätte. Als nun seine Mitknechte sahen, was da vor sich ging, empörten sie sich darüber, gingen hin und berichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war. Da ließ der Herr ihn zu sich rufen und sprach zu ihm: ‚Du böser Knecht, jene ganze Schuld habe ich Dir erlassen, weil Du mich gebeten hast. Hättest nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmen müssen, so wie ich mich deiner erbarmt habe?‘ Und voll Zorn übergab ihn der Herr dem Gericht, bis er ihm die ganze Schuld bezahlt hätte. So wird auch mein himmlischer Vater mit euch verfahren, wenn nicht jeder von euch seinem Bruder von Herzen verzeiht.” Mt 18,23-35.

Hier entspricht der Ungerechtigkeit eine Strafe, die zur Rückkehr der Ungerechtigkeit verurteilt.

Ich glaube, wir müssen darauf dringen, diesen gesamten Zusammenhang zu diskutieren. Andernfalls bleiben wir auf der Oberfläche des Problems. Es geht hier um das Problem, das Helder Camara ansprach, als er sagte: Wenn ich dem Hungernden ein Stück Brot gebe, nennt man mich einen Heiligen. Wenn ich aber frage, warum gibt es überhaupt Hunger, dann nennt man mich einen Kommunisten.

Die Ersetzung der ursprünglichen Schuldentheologie durch Anselm von Canterbury

Für diese Diskussion aber scheint es mir notwendig, nicht nur das Verschwinden der jesuanisch-paulinischen Schuldenkritik und Schuldentheologie zu sehen, sondern ebenso die theologische Herausarbeitung einer völlig veränderten Schuldentheologie, die an die Stelle der jesuanisch-paulinischen Schuldentheologie tritt. Sie ist fast das genaue Gegenteil der ersten Schuldentheologie. Es handelt sich um die Schuldentheologie Anselms von Canterburys aus dem 11. Jahrhundert, die auch heute noch die christliche Theologie des westlichen Christentums in fast all ihren Richtungen weitgehend beherrscht.

Diese Schuldentheologie Anselms geht zwar auch von der Frage der Schulden des Menschen vor Gott aus, aber in der ersten und ursprünglichen Schuldentheologie liegt die Initiative beim Menschen. Die Schulden bei Gott sind nicht zu bezahlen und sollen auch nicht bezahlt werden. Aber der Mensch kann sie auflösen. Er löst sie dadurch auf, dass er selbst seinen Mitmenschen gegenüber deren Schulden immer dann nachlässt, wenn sie unbezahlbar geworden sind. In der Theologie Anselms gibt es den Schuldenerlass überhaupt nicht. Anselm geht sogar soweit zu sagen, dass Gott diese Schulden ohne Bezahlung gar nicht erlassen kann, weil das eine Ungerechtigkeit wäre. Gott aber ist ein gerechter Gott. Die Schuldenzahlung ist einfach als solche gerecht. Gott kann die Schulden nur verzeihen, wenn sie bezahlt sind.

Hier führt dann Anselm die unbezahlbaren Schulden ein. Alle Schulden des Menschen vor Gott – es sind die Schulden, die der Mensch als Sünden anhäuft und die Beleidigungen Gottes darstellen, da sie seinen Willen nicht achten – sind unbezahlbar. Für Anselm sind es daher Schulden, die nur durch Blut gezahlt werden können. Aber da das Blut des Menschen den göttlichen Stolz niemals besänftigen kann, ist dieses Blut des Menschen zwar eine Zahlung, kann aber nicht die Schulden bezahlen. Doch es wird und muss ständig bezahlt werden – alles menschliche Leiden ist Zahlung dieses Blutes – ohne jemals die Schuldensituation lösen zu können. Anselm konstruiert dann von der Theologie her das Blut eines Menschen, der gleichzeitig Gott ist, das dies erreichen kann. Das ist für ihn der Gottessohn Christus, der dann auf die Welt kommt, um sterbend sein Blut zur Zahlung der Schulden des Menschen bei Gott zu vergießen. Er kommt überhaupt nur auf die Welt, um dieses sein Blut für die Menschen zu vergießen und sie dadurch zu erlösen. Er kommt nicht um zu leben, sondern er kommt um zu sterben. Dies ist dann der Ausdruck der Liebe Gottes. Gott kann die Schulden des Menschen nicht erlassen, weil seine Gerechtigkeit ihn daran hindert und er schickt seinen göttlichen Sohn aus lauter Liebe in die Welt, um durch seinen Tod das Blut zu vergießen, dass dann fähig ist, die Schulden bei Gott zu bezahlen und damit den Menschen zu erlösen. Aber diese Erlösung ist nicht automatisch gegeben. Der Mensch muss sie sich verdienen, indem er jetzt den Willen Christi tut und damit verdient, durch das Blut Christi erlöst zu werden. Aber dieser Wille Christi ist selbst wieder Blutzahlung des Menschen. Alles erstickt geradezu im Blut.7

Das ganze ist eine Projektion in den Himmel, die dann im 14. und 15. Jahrhundert mit dem frühen Kapitalismus auf die Erde kommt. Luther, der dem Frühkapitalismus sehr kritisch gegenüber stand, ist hier eine Ausnahme. Er weigerte sich, die Anselmsche Schuldentheologie zu übernehmen. Doch nach Luther übernahm sie dann auch die lutherische Kirche, sodass sie fast einstimmig das westliche Christentum bis heute beherrscht.8

War die erste Schuldentheologie ein Aufruf an die Menschen, menschlich zu werden, so ist diese Anselmsche Schuldentheologie der Aufruf an die Menschen, sich bedingungslos diesem unmenschlichen neuen Schuldensystem zu unterwerfen, das dann nach dem 14. Jahrhundert vom Himmel auf die Erde kommt und jetzt der kapitalistischen Behandlung der Schulden die Begründung gibt. Sie ruft auf, sich dem unmenschlichen System bedingungslos zu unterwerfen. Die erste Schuldentheologie ruft zur Menschlichkeit auf, die zweite zur Unmenschlichkeit. Auf diese neue Situation angepasst, können wir dann das Buch von Thomas Kempis, Imitatio Christi, als Quelle benutzen.

Diese zweite Schuldentheologie wird dann natürlich säkularisiert und bleibt als solche völlig herrschend. In den herrschenden Tendenzen des Neoliberalismus kommt das klar zum Ausdruck. Wer kein Geld hat, hat auch kein Lebensrecht und die Tatsache, dass er kein Geld hat, ist der Beweis, dass er nicht bereit ist, unter den wirtschaftlich angeblich rationalen Bedingungen der neoklassischen Wirtschaftspolitik selbst seinen Unterhalt zu verdienen. Er verdient ihn dann auch nicht. Er muss mit Blut seine Unfähigkeit, das zu tun, was er diesem Wirtschaftssystem schuldet, zahlen. Leon Bloy sagte: Das Geld ist das Blut der Armen. Dies ist seine Antwort auf den Leviathan von Hobbes, von dem Hobbes sagt, dass das Geld das Blut des Leviathans ist. Es ist als Blut des Leviathans das Blut der Armen. Dieses Blut fließt jetzt wieder vor allem in Griechenland und wird in unseren Banken zur klingenden Münze.

Alle Schuldenproblematik, aber auch alle Geldproblematik, wird damit zur Blutmystik. Die Autoritäten dieser Blutmystik können dann nur zum extremen Sadismus tendieren, jedenfalls ist es ihre konstante Versuchung. Es ist der Sadismus derer, die die Leiden der Verurteilten genießen können, da sie rein menschliche Genüsse nicht mehr hoch bewerten können. Der Sadismus ist das Schmieröl für die Entmenschlichung durch die Machthaber, die hier Gläubiger sind.

Teil II: Der Konflikt um die Auslandsverschuldung Griechenlands

Die deutschen Schuldenkrisen des 20. Jahrhunderts

Ich möchte jetzt noch ein anderes Problem ansprechen, das viel aktueller ist und im Zusammenhang mit der Diskussion über das Gemeinwohl innerhalb der Schuldenzahlung aufgezeigt werden muss. Es handelt sich um die Schuldenkrisen Deutschlands im 20. Jahrhundert, in dem Deutschland drei große Schuldenkrisen durchgemacht hatte. Es handelt sich um die Schuldenkrise nach dem I. Weltkrieg, um die Schuldenkrise nach dem II. Weltkrieg und die Schuldenkrise nach der Wiedervereinigung, von der wir kaum ein Bewusstsein haben. Ohne die Diskussion dieser deutschen Schuldenkrisen können wir uns nur schwer ein Urteil über das bilden, was wir heute Griechenland antun.

Für alle drei Schuldenkrisen Deutschlands gilt, dass Deutschland nicht ein einziges Mal seine Schulden bezahlt hat.

Die erste Schuldenkrise ergab sich anlässlich der Friedensverhandlungen von 1919 in Versailles. Diese Verhandlungen waren so grotesk wie es die deutschen Verhandlung in diesem Jahre 2015 mit den Griechen waren. Es wurde gar nicht wirklich verhandelt, sondern erpresst, bis der Schuldner „freiwillig“ alle Bedingungen annahm. Wenn wir verstehen wollen, wie Deutschland in Versailles behandelt wurde, brauchen wir nur zu verstehen, wie Griechenland durch Deutschland heute behandelt worden ist. Die Drohung ist in jedem Falle, die überlegene Macht des Gläubigers so auszunutzen, dass im Schuldnerland noch schlechtere Bedingungen als die Bedingungen der erpressenden Länder für das entsprechende Land entstehen. Es ist eine Erpressungsstrategie, die auch der Weltwährungsfonds ständig angewendet hat. Es handelt sich um eine Despotie, die überhaupt keine demokratische Kontrolle zulässt. Deutschland erholte sich nicht von den damit geschaffenen wirtschaftlichen Problemen, obwohl in den 20er Jahren mehrere Schuldenschnitte erfolgten. 1933, nach der Machtübernahme durch den Nazismus, hat das Nazi-Regime einfach die Zahlungen eingestellt und ein Moratorium erklärt. Die Gläubigerländer reagierten kaum, was unter anderem darauf schließen lässt, dass sie dieses Regime mit sehr sympathischen Augen ansahen.

Keynes, der Mitglied des englischen Verhandlungsteams in Versailles gewesen war, schrieb danach ein Buch, in dem er seine Annahme entwickelte, dass dieser erpresste Vertrag eine neue Katastrophe hervorbringen könnte. Tatsächlich ist sehr deutlich, dass die durch die Schuldenzahlungen produzierten wirtschaftlichen Schwierigkeiten mit der Möglichkeit eines Aufstiegs der Nazipartei in den 20er Jahren sehr eng verknüpft ist.

Die tatsächlichen Zahlungen waren nicht in der Lage, die Schulden abzutragen, schafften allerdings eine interne Katastrophe in Deutschland, die einer der Ausgangspunkte des II. Weltkriegs wurde.

Nach dem II. Weltkrieg ergab sich die zweite Schuldenkrise, die aus den Schulden von vor dem Krieg, aus den Kriegsschulden selbst und aus allen Reparationsforderungen hervorgingen. Die USA aber verfolgten von Anfang an eine ganz andere Strategie als die nach dem I. Weltkrieg. Sie gingen davon aus, dass die Schulden, die in der Kriegszeit erwachsen waren, überhaupt nicht zu bezahlen seien. Ihr Projekt war von Anfang an das Projekt eines Wiederaufbaus Westeuropas. Dieses Projekt war nur im Fall eines generellen Schuldenschnitts möglich. In diese Politik wurde auch die Bundesrepublik nach der Währungsreform von 1948 eingeschrieben.

Die USA taten dies aber offensichtlich nicht vorwiegend deshalb, weil sie etwa aus den Erfahrungen mit der Schuldenpolitik nach dem I. Weltkrieg gelernt hätten. Dies ist nur zum Teil der Fall. Der Hauptgrund war wohl, den kalten Krieg zu führen und zu gewinnen. Dazu brauchte man ein „menschliches Antlitz“ für den Kapitalismus und verfolgte dieses nicht nur durch die Dynamisierung des Wirtschaftswachstums, sondern insbesondere auch durch die außerordentliche Erweiterung des Sozialstaats in allen westeuropäischen Ländern. Diese bereits eingeschlagene Politik wurde dann im Londoner Schuldenabkommen 1953 festgeschrieben. Danach wurde die Mehrheit der Schulden Deutschlands erlassen, während die restlichen Schulden auf unbefristete Zeit in Form von Moratorien gestundet wurden, die nicht verzinst wurden. Die Behandlung der etwa zu fordernden Reparationen wurde auf den Zeitpunkt nach der Wiedervereinigung Deutschlands verschoben, um sie in dem dann folgenden Friedensvertrag zu behandeln und darüber zu entscheiden.

Die ganze Ausrichtung dieser Schuldenpolitik zeigt sich auch sehr deutlich in der Politik gegenüber der Sowjetunion. Die USA hatte der Sowjetunion im Krieg einen Unterstützungskredit von zehn Milliarden Dollar gegeben. In diesem Falle forderte die USA die Rückzahlung dieser außerordentlichen Summe gegenüber einem Land, das lange Jahre an der Grenze der Hungersnot lebte. Man versuchte ihm gegenüber genau die gleiche Politik anzuwenden, die man nach dem I. Weltkrieg Deutschland gegenüber durchgesetzt hatte.

Durch diese Politik Westeuropas gegenüber konnten die USA relativ leicht den Wiederaufbau nach dem Krieg ermöglichen, sodass sie als Ergebnis davon den kalten Krieg gewannen.

Die Identitätskrise des Kapitalismus und die Aufhebung der Menschenwürde

Als dieser aber gewonnen war, ergab sich für fast sämtliche kapitalistischen Länder eine schwierige Situation, die letztlich nur durch ideologische Gründe erklärbar ist. Man hatte eine sozialstaatliche Demokratie begründet, die eine weitgehende Achtung wirklich allgemeiner Menschenrechte durchsetzte und in ihrer Tendenz die Identität der Gesellschaft als kapitalistischer Gesellschaft weitgehend veränderte. Der kapitalistische Kern der Gesellschaft war zwar keineswegs abgeschafft, aber er war relativiert worden. Das Bewusstsein dieses Identitätsverlustes der kapitalistischen Gesellschaft setzte sich in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch. Er führte zu dem Versuch, der jetzt weiterhin im Gange ist, den nackten Kapitalismus zurückzugewinnen und das Wesen des Menschen darauf zu reduzieren, Humankapital zu sein.

Damit werden dann tatsächlich auch die Menschenrechte abgeschafft. Sie werden durch eine völlig metaphysische Auffassung des Privateigentums und der Rechte des als Humankapital angesehenen Menschen als Eigentümer ersetzt. Etwa das Recht auf den eigenen Körper wird als Privateigentum gesehen, selbst die Folter folglich als eine Eigentumsverletzung durch die Verletzung von Rechten, die im Namen des Privateigentums vertreten werden. Die Folter ist dann eine Enteignung des Körpers, und eine Enteignung kann eben auch legitim sein. Damit ist dann die Menschenwürde als Bezugspunkt aller Menschenrechte faktisch abgelöst. Marx hatte diese Menschenwürde noch betont, indem er sagte, dass „der Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ sei. Diese Analyse der Menschenrechte läuft völlig parallel zu der Betonung der Menschenwürde in der christlichen Tradition. Marx hat diese seine Betonung der Menschenwürde nie aufgegeben oder verlassen, obwohl sie in der marxistischen Tradition häufig übergangen wurde. Diese gesamte Tradition wird jetzt innerhalb der kapitalistischen Länder als abgeschafft erklärt. Dies taten zuerst der Nazismus und der Faschismus, heute aber tut es die extremistische Auffassung der kapitalistischen Gesellschaft als einer Gesellschaft des totalen Marktes. Sie wird durch den heute als gültig erachteten Neoliberalismus ausgedrückt. Mit Stolz verkündet er das Ende der Menschenrechte und führt da, wo er kann, eine Politik durch, die voraussetzt, dass die Menschenrechte keine Geltung mehr haben.

Wenn heute Frau Merkel von unseren westlichen Werten spricht, kann sie sich eigentlich nur auf diese Form entwerteter Werte beziehen. Sie und Herr Schäuble haben ja gerade diese hohen Werte unserer heutigen kapitalistischen Gesellschaft gegenüber der jetzigen griechischen Regierung von Tsipras sehr klar angewandt, indem sie die Schuldenzahlung zu absoluter Notwendigkeit erklärten, und zwar gerade in dem Sinne dessen, was wir weiter oben als Formulierung zitierten: fiat iustitia, et pereat mundus (es sei Gerechtigkeit, auch wenn darüber die Erde untergeht). Das pereat mundus gilt zumindest für sehr viele Griechen heute. Etwas Ähnliches wurde ebenfalls durch eine Kampagne heutiger spanische Regierungskreise ausgedrückt, die in Katalonien verbreitete: Es gibt nicht mehr genug für alle.

Die Gesellschaft ohne Menschenrechte

Ich will nur einige Zitate von neoliberalen Gurus bringen, die man beliebig vermehren könnte. Ich gehe vom Gründer dieses Neoliberalismus, Ludwig von Mises, aus. Sowohl Friedrich v. Hayek wie auch Milton Friedman betrachteten ihn als ihren Lehrmeister. Er sagte:

„Man geht immer von einem fundamentalen Irrtum aus, der weit verbreitet ist. Es ist der Irrtum, dem gemäß die Natur dem Menschen unverzichtbare Rechte gegeben hat aus dem bloßen Grunde, weil er geboren wurde.“9

In einem ganz ähnlichen Sinne sagte Hayek:

„Ganz so wie die Vorväter, die in Höhlen wohnten, muss auch der heutige Mensch die traditionelle demographische Kontrolle akzeptieren: Hungersnöte, Pestkrankheiten, Kindersterblichkeit etc.“10

Ebenfalls sagte Hayek in einem anderen Interview in Santiago 1981:

„Eine freie Gesellschaft braucht Moral, die sich in letzter Instanz auf die Erhaltung von Leben reduziert: nicht auf die Erhaltung allen Lebens, denn es könnte notwendig sein, individuelles Leben zu opfern, um eine größere Zahl anderer Leben zu retten. Daher sind die einzigen Regeln der Moral diejenigen, die zu einem ‚Kalkül des Lebens‘ führen: das Eigentum und der Vertrag.”11

Das „Eigentum und der Vertrag“ können überhaupt keine Menschenrechte vermitteln, sondern uns nur ihr Ende mitteilen.

Der ehemalige Kanzlerkandidat der sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) hat hierfür kürzlich einen sehr klaren Ausdruck gefunden, wie der Tagesspiegel schrieb:

„Peer Steinbrück belehrt mit seinem neuen Buch ‚Vertagte Zukunft‘ die SPD. Sein Rat: Rückt in die Mitte. Mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates sei die Partei nicht auf der Höhe der Zeit.“12

Man sieht: Hier haben Menschenrechte keinen Platz. Das Regime von Pinochet war für Friedman einfach nur ein freiheitliches Regime, das eine diktatorische Form hatte. Es gibt in der neoliberalen Vorstellung keine Menschenrechte, der Mensch ist einfach nur „Humankapital“.

Das ist jetzt der Aufruf, definitiv den demokratischen Sozialstaat aufzugeben. Aber ohne Sozialstaat kann es keine realistische Anerkennung der Menschenrechte geben. Es gibt nur noch ihre völlige Entleerung unter der Perspektive politischer Sonntagspredigten. Steinbrück erklärt, dass das bedeutet, in die Mitte zu rücken. Das ist Teil seiner Demagogie, die vorgibt, zu denken, was die Mittelklasse denkt. Das gilt dann als Zentrum und Mitte. Doch das ist Unsinn. Auch der Nazismus war hauptsächlich ein Denken der Mittelklasse, aber doch wohl nicht eine Position der Mitte. Auch das, was Steinbrück der Mittelklasse vorschlägt, ist keine Position der Mitte, sondern die Position eines neuen Extremismus des Marktes, und zeigt, dass er dabei ist, den Totalitarismus des totalen Marktes definitiv durchzusetzen. Das aber ist das Ende der Menschenrechte. Die Vertretung der Menschenrechte und der Menschenwürde wird zur Ausnahme, obwohl der Gebrauch dieser Worte geradezu inflationiert.

Das hat dann auch eine sehr symbolische religiöse Perspektive. Unter den Bedingungen, die die Erpressung durch unsere Markttotalitären den Griechen aufzwang, war eine ganz besonders primitive Bedingung: die griechische Regierung solle an den Sonntagen die Öffnung aller Geschäfte durchsetzen. Ich will jetzt nicht auf das vollkommen Lächerliche einer solchen Forderung eingehen. Aber sie zeigt etwas: Der Sonntag wurde früher immer als Tag des Herrn bezeichnet. Das bedeutete eben als Tag Gottes. Unsere Schäubles wollen dabei bleiben. Der Sonntag soll der Tag Gottes bleiben. Aber sie wollen einen anderen Gott aufzwingen, der das Geld ist. Und diesen Gott sollen auch die Griechen jeden Sonntag in ihren Einkaufszentren feiern. Diese Forderung, gerade und vor allem, wenn sie von deutscher Seite vorgebracht wird, wird von einem Land erhoben, in dem bisher die Geschäfte sonntags nicht öffnen dürfen. „Der Warengott ist der wahre Gott“, so vertraten schon vorher deutsche Soziologen diese gleiche Denkhaltung.13 Was jetzt noch fehlt, ist, dass endlich der Deutschen Bank das Eigentum an der Akropolis zugesprochen wird, um auch Zeus genüge zu tun.

Man sieht, dass hier eine völlige ideologische Umwertung stattgefunden hat. Etwas, was tendenziell natürlich schon vorher da war, wird jetzt definitiv umgesetzt.

Das, was hier gesagt wird, finden wir bereits in den Worten von Primo de Rivera, dem Gründer der spanischen faschistischen Falange: „Wenn ich das Wort Humanität höre, habe ich Lust, die Pistole zu ziehen.“ Im Neoliberalismus hören wir das gleiche mit anderen Worten. Der Neoliberalismus ist tatsächlich ein legitimer Nachfolger des Faschismus.

Die Kritik an der Wirtschaft der Nachkriegszeit

Dem entspricht eine sehr oberflächliche, streng dogmatische Kritik daran, was die Ökonomie der Nachkriegszeit eigentlich gebracht hatte. Faktisch wurde von den 80er Jahren an die Interpretation dieser Zeit weitgehend umgestellt. Die Ökonomie der Nachkriegszeit und ihre Stellung zur Verschuldungskrise wurde kaum noch erwähnt. Der wohl bedeutendste Wirtschaftswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, Keynes, wurde kaum noch diskutiert und kaum noch an den Universitäten studiert. An die Stelle seiner Theorie trat eine Marktanalyse, deren Objekt nicht mehr ist, als das Lob dafür, viel Geld zu verdienen und die Mechanismen zu studieren, die dabei helfen können. Die Wirtschaftswissenschaften verarmten dramatisch und hatten nur noch das eine Zentrum, das diese neoklassische Wirtschaftslehre war, die über jeden Zweifel erhaben war. Es gab auch kaum noch das Studium der Konjunkturzyklen. Das war nicht mehr nötig, denn es gibt ja keine Konjunkturanalyse mehr, sondern nur noch die punktuelle Diskussion von Konjunkturbewegungen. Die wichtigste Erklärung für die Arbeitslosigkeit war der Hinweis auf die Faulheit der Menschen und ihre Weigerung, Arbeitsplätze anzunehmen, die nicht ihren Vorstellungen von dem, was sie verdienen müssen, entsprechen. Der Mensch hat nur Wunschvorstellungen, die sich realistisch anpassen müssen. Dass der Mensch Bedürfnisse hat, fällt diesen Ökonomen nicht ein. Für sie gibt es nur Kaufanreize und Nutzeneinschätzungen, wobei der Nutzen einfach nur eine psychologische Tendenz ist und sonst nichts.

Diese neue Art die Wirtschaft zu denken, zu interpretieren und zum Objekt der Politik zu machen, verband sich mit einem Geschichtsvorfall. Dieser war der chilenische Militärputsch von 1973, auf den dann die erste Regierung von Thatcher und dann ab 1980 die Regierung Reagans folgten. Besonders in Lateinamerika wurde diese Wirtschaftsart durch den Staatsterrorismus der totalitären Diktaturen der Nationalen Sicherheit durchgesetzt.

Dies führt uns dann zur dritten deutschen Schuldenkrise, die tatsächlich von den Kommunikationsmedien kaum herausgestellt wurde. Sie bezieht sich auf die Schulden an Reparationen, von denen der Londoner Schuldenkongress sagte, dass sie nach der Wiedervereinigung im darauf folgenden Friedensvertrag zu regeln seien. Diese Situation wurde einfach bürokratisch geregelt. Man sprach fast nicht von einem Friedensvertrag. Stattdessen war die Wiedervereinigung ein Beitritt der Länder der DDR zur Bundesrepublik. Dadurch verweigerte Deutschland faktisch die Zahlung von Reparationen. Die anderen Länder akzeptierten, sodass hierüber kein Konflikt entbrannte. Aber Deutschland bewegt sich am Rande des Betrugs.

Doch ein Konflikt ergab sich später in den Auseinandersetzungen der deutschen Regierung mit der neuen griechischen Regierung unter Tsipras im Jahre 2015. Die Griechen forderten die Anerkennung der deutschen Regierung ihrer Zahlungsverpflichtung für eine Zwangsanleihe, die Griechenland in der Zeit der Besetzung durch deutsche Truppen im II. Weltkrieg durch die Naziregierung auferlegt wurde. Es handelte sich um etwa 8 Milliarden Reichsmark.

Die Mitglieder der griechischen Regierung heute brachten diese deutschen Schulden in die Diskussion über die griechische Verschuldung ein. Schäuble hingegen unterbrach sofort diese Diskussion und erklärte, eine solche Schuld bestehe nicht mehr. Zwar hatte das Nazideutschland diese Summe bekommen, aber in den dem Krieg nachfolgenden Schulddiskussionen hätte Griechenland auf die Zahlung dieser Schulden verzichtet. Deutschland braucht keine Schulden zu bezahlen, Griechenland aber muss jeden Pfennig bezahlen, nichts wird geschenkt. Dies erklärt ja auch Frau Merkel ständig.

In Wirklichkeit hatte Griechenland nach dem Krieg nicht freiwillig auf diese Schuldenzahlung verzichtet. Es war vielmehr durch die USA gezwungen worden, die äußerstes Interesse für den deutschen Wiederaufbau, aber überhaupt kein Interesse am griechischen Wiederaufbau hatte. Das Interesse für den Wiederaufbau Deutschlands war einfach durch den beginnenden kalten Krieg gegeben. Der kapitalistische Wiederaufbau war völlig untypisch. Der Sozialstaat wurde gefördert, die Schulden nachgelassen, die hohen Einkommen außerordentlich hoch versteuert und vieles mehr. Der Grund dafür war der kalte Krieg. Die Kosten für den Sozialstaat waren tatsächlich Kriegskosten. Daher wurden sie, sobald der Sieg im kalten Krieg sichtbar wurde, sofort wieder mit aller Kraft zurückgenommen und es begann der systematische Abbau des Sozialstaats unter den Regierungen von Pinochet, Thatcher und von Reagan. Der eventuelle Wiederaufbau Griechenlands war unter diesem Gesichtspunkt völlig uninteressant. Griechenland wurde gezwungen, „freiwillig“ auf alle möglichen Forderungen an Deutschland zu verzichten. Diese Freiwilligkeit war genau die gleiche wie es die angebliche Freiwilligkeit der Unterwerfung von Tsipras unter das despotische Diktat von Schäuble heute ist. Dieser Art „Verpflichtungen“ haben nicht die geringste legitime Gültigkeit. Man versteht dann aber, warum wir heute fast nichts zu hören bekommen von der Wirtschaftsordnung, die nach dem II. Weltkrieg begründet wurde und bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts weitergeführt wurde. Der Grund ist sehr einfach. Es handelte sich um eine Wirtschaftsordnung, die sich heute nicht einmal die europäische Linke vorzuschlagen traut. Sie gilt heute als linksradikal. Sie ist fast das genaue Gegenteil der heute vom Neoliberalismus angeführten Wirtschaftsordnung. Außerdem hat sie die höchsten Wachstumsraten hervorgebracht, die bisher in der europäischen Wirtschaft aufgetreten sind. Diese Zeit ist daher die wirkliche Widerlegung alles dessen, was heute gegen den Sozialstaat und für die absolute Privatisierung unserer Wirtschaft vorgebracht wird. Daher spricht man gar nicht über diese Zeit. Sie wäre das große Argument gegen alles das, was man uns heute als rationale Wirtschaft anbietet. Einer dieser Zeit entsprechenden Wirtschaftspolitik würde sich auch die heutige griechische Regierung keineswegs verweigern. Ganz im Gegenteil. Es ist das Äußerste, was sie sich erträumen kann. Aber als Argument ist dies heute schlechthin verboten und unsere Kommunikationsmedien respektieren fast gänzlich dieses Verbot. Es gibt nur einige seltene Ausnahmen.

Eine dieser Ausnahmen ist der große Finanzspekulant George Soros. In einem Spiegelinterview sagt er:

„SPIEGEL ONLINE: Was erwarteten Sie eigentlich für Europa, als der Zweite Weltkrieg endlich zu Ende ging? Konnten Sie überhaupt daran glauben, dass der Kontinent jemals Frieden finden würde?

Soros: Unser großes Glück nach dem Ende des Krieges war der Marshall-Plan. Ohne ihn ist die Europäische Union überhaupt nicht denkbar, er war ihr Geburtshelfer. Der Plan war wahrscheinlich das erfolgreichste Entwicklungshilfeprojekt der Weltgeschichte. Und er zeigte, zu welch guten Taten die Vereinigten Staaten fähig waren, die damals weltweit so dominant waren wie heute Deutschland in Europa. Amerika konzentrierte sich auf den Wiederaufbau des Kontinents, auf dem es gerade noch erbittert Krieg geführt hatte. Das ist der große Unterschied zum heutigen Verhalten Deutschlands: Amerika war bereit, die Sünden der Vergangenheit vielleicht nicht zu vergessen, aber zu vergeben. Deutschland hingegen scheint es bloß um Sanktionen und Strafe zu gehen, ohne dass das Land dem Rest Europas eine ähnlich positive Vision bietet, wie sie damals die Amerikaner auch den Deutschen boten.“14

Nimmt man jetzt die Schulden Deutschlands für diese Zwangsanleihe, zu der Griechenland unter der deutschen Besetzung gezwungen wurde und wendet man darauf die üblichen gewaltsamen Bankenstrategien an, so handelt es sich um Schulden, die seit über 70 Jahren nicht bedient wurden und die nach kapitalistischer Logik für diese gesamte Zeit zu verzinsen sind. Tut man dies, so sind diese deutschen Schulden heute viel höher als die heutige griechische Auslandsverschuldung insgesamt. Wir reden nicht einmal darüber. Aber wenn die Griechen sich heute verspäten, müssen sie natürlich für jeden entsprechenden Zeitraum Zinsen, möglichst sogar höhere als normale Zinsen bezahlen.

Natürlich wird man nichts davon erwähnen. Quod licet Iovi, non licet bovi. Für diese ganze Auseinandersetzung spielen die Gesetze überhaupt keine Rolle, sondern sie sind der Vorwand, unter dem immer der Stärkere Recht bekommt. Man muss wissen, wer stärker ist und folglich mehr Geld hat, um zu wissen, wer Recht hat. Dafür gibt es natürlich Ausnahmen, aber sie sind eben nur das: seltene Ausnahmen.

Ich möchte diese Analyse mit einem Zitat aus einem Interview mit dem Historiker Heinrich August Winkler in der Süddeutschen Zeitung vom 18.08.2015 beenden:

„Süeddeutsche: Im Falle Griechenlands gibt es noch die Frage der Reparationen für die deutsche Besatzung und Verbrechen während den Zweiten Weltkriegs. Sollte Berlin seine Meinung ändern und zahlen?

Winkler: Wenn man dieses Kapitel noch einmal anginge, würde man die Büchse der Pandora öffnen. Es gäbe einen Dominoeffekt. Auch andere Länder würden entsprechende Forderungen stellen, und zwar nicht nur an Deutschland. Rom etwa könnte auch von Griechenland und den Nachfolgerepubliken Jugoslawiens zur Kasse gebeten werden, auch von Äthiopien und Libyen, wo die Italiener Kriegsverbrechen begangen haben. Die ehemaligen Kolonien könnten ebenso Forderungen stellen an frühere Kolonialmächte und so weiter. Das wäre das Ende von internationaler Rechtssicherheit und würde die Weltwirtschaft in gewaltige Turbulenzen stürzen, von den politischen Verwerfungen ganz zu schweigen. Deshalb sollten wir die Reparationsfrage nicht neu aufgreifen. Das lehrt auch die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.“15

Das Argument ist zwar richtig, aber es hat eine besondere Form. Es sagt die Wahrheit, benutzt aber diese Wahrheit um zu lügen. Winkler macht es zu einem Argument eines Deutschland-Egozentrikers. Er kann gar nicht gleichzeitig an andere denken, und schon überhaupt nicht an Griechenland. Was Winkler sagt, ist, dass die Zahlungen, die Deutschland für die Schäden des II. Weltkriegs schuldet, zu einer Katastrophe für Deutschland und möglicherweise auch Europa führen müssten. Daraus schließt er völlig richtig, dass solch ein Zahlungsprozess einfach deshalb zu vermeiden ist, weil er nicht mit dem Gemeinwohl vereinbar ist.

Was er aber nicht sagt und geradezu betrügerisch verschweigt, ist, dass dies gerade im gleichen Maß das Argument dafür ist, die griechische Auslandsschuld zu erlassen. Die Zahlung zerstört jedes Gemeinwohl dieses Landes und auch Europas und die Gerechtigkeit verlangt, die Schuld zu erlassen.

Nach Winkler gilt ein solches Argument zwar für Deutschland, aber doch nicht etwa für Griechenland. In dem gesamten Interview wird eine geradezu skandalöse Menschenverachtung gegenüber den Griechen sichtbar und fühlbar. Als ich das Interview las, hörte ich von weitem und noch sehr leise die Töne des Deutschlandlieds: Deutschland, Deutschland über alles. Man kann sie heute in Deutschland überall hören, obwohl wohl niemand sie singt. Jedenfalls bin ich einer von denen, die diese Töne ständig hören und sich dann abwenden.

Marx spricht hier von Ideologie im Sinne eines „falschen Bewusstseins“. Paulus sagt von dieser Art Argumenten, dass sie „die Wahrheit in der Ungerechtigkeit gefangen“ halte (Röm, 1,18).

1 Ich übersetze mit Verbrechen das, was normalerweise mit Sünde übersetzt wird. Ich glaube, dass der Ausdruck Sünde nicht das wiedergibt, was bei Paulus gemeint ist. Vielleicht ist nicht jede Sünde ein Verbrechen, aber ganz sicher ist jedes Verbrechen eine Sünde. Unsere herrschenden Vorstellungen von der Sünde sind ganz anders. Sie werden am deutlichsten mit einem sehr alten Filmtitel: „Auf der Alm da gibts kein Sünd.“ Das Wort Sünde ist einfach nicht mehr geeignet, das zu übermitteln, was Paulus tatsächlich sagte.2 Lévinas, Emmanuel: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. Alber. Freiburg/München 1999. S.115.
3 Boer, Dick: Erlösung aus der Sklaverei. Versuch einer biblischen Theologie im Dienst der Befreiung. Edition ITP-Kompass, Münster 2008, S.108.
4 Kahl, Brigitte: Paulus und das Gesetz im Galaterbrief: römischer Nomos oder jüdische Toras? In: Duchrow, Ulrich/ Carsten Jochum-Bortfeld (Hg.): Befreiung zur Gerechtigkeit. Liberation toward Justice. LIT Verlag. Berlin 2015, S. 97, Anm. 38.
5 Kahl, Brigitte a.a.O. S. 106.
6 Marx, Karl: Einleitung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW 1, Berlin 1981, S. 385.
7 Vgl. hierzu Hinkelammert, Franz J.: Luzifer und die Bestie. Eine fundamentale Kritik jeder Opfertheologie. Luzern 2009. Dort insbesondere Teil II. Und Hinkelammert, Franz J.: Der Totalitarismus des totalen Marktes: Der Thermidor des Christentums und die anderen Thermidore. Siehe besonders Kapitel II: Der Thermidor des Christentums als Ursprung der christlichen Orthodoxie. Die christlichen Wurzeln des Kapitalismus und der Moderne. Zu finden unter www.pensamientocritico.info.
8 Vgl. Aulén, Gustaf: Christus Victor: An historical study of the three main types of the idea of the atonement. New York 1961. S. 127.
9 Mises, Ludwig von: La mentalidad anticapitalista (1956). Madrid, Unión Editorial 2011, S. 79. Siehe hierzu auch das ausführliche Buch zu diesem Thema: Biagini, Hugo E./ Fernández Peychaux, Diego: El neuroliberalismo y la ética del más fuerte. Editorial Universidad Nacional, Heredia, Costa Rica, 2015.
10 Hayek, Friedrich von: (1981) Zeitschrift Realidad. Santiago, Nr. 24 Jahr 2.
11 Hayek, Friedrich von. Entrevista Mercurio 19.4.81.
12 http://www.tagesspiegel.de/politik/vertagte-zukunft-peer-steinbrueck-belehrt-die-spd/11485670.html (abgerufen am 13.09.2015). Zur Ideologie des Neoliberalismus vgl. auch: Hinkelammert Franz J.: Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus. Exodus. Freiburg (Schweiz) / Münster 1985. Hier besonders das Kapitel über Milton Friedman S. 81-104.
13 Bolz, Norbert/ Bosshart, David: Kult-Marketing. Die neuen Götter des Marktes. Econ. Düsseldorf, 1995.
14 Interview mit George Soros auf Spiegel online, 05.03.2014: ttp://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/george-soros-mahnt-deutschen-grossmut-gegenueber-krisenlaendern-an-a-956656.html (abgerufen am 13.09.2015).
15 http://www.sueddeutsche.de/politik/historiker-winkler-warum-die-buerger-ueber-europas-einigung-abstimmen-sollten-1.2611820 (abgerufen am 13.09.2015).