Der ITP-Rundbrief Nr. 44 ist online und steht als PDF zum Download zur Verfügung. Der ITP-Rundbrief erscheint zweimal im Jahr und informiert über aktuelle theologische und politische Themen des ITP. Zum Inhalt:
Fendel, Peter: Umstrittene Erinnerung – wegweisende Erneuerung. Versammlung zum 50. Jahrestag des Katakombenpaktes.
Ramminger, Michael: Der kurze Sommer der Menschlichkeit. Zum Recht auf Bewegungsfreiheit.
Arbeitskreis ReligionslehrerInnen am ITP: Klarer Kopf und großes Herz – Konfrontative Didaktik im Religionsunterricht. Thesen für einen widerständigen Unterricht.
Geitzhaus, Philipp / Lis, Julia: „Anders Mensch sein in einer anderen Kirche für eine andere Welt“. Zum Abschluss des Erinnerungsprojekts an das II. Vatikanische Konzil.
Die ITP-Rundbriefe können auch per Post bezogen werden. Schreiben Sie dazu an unsere Kontaktadresse oder rufen Sie uns gerne an.
Liebe Freundinnen und Freunde des ITP,
nach fünf Jahren intensiver Arbeit daran, wie das Zweite Vatikanische Konzil erinnert werden kann und wie wir seine Impulse für die Frage nach Kirche heute aufgreifen können, haben wir mit der Versammlung „Katakombenpakt erinnern und erneuern!“ dieses Erinnerungsprojekt nun zum Abschluss gebracht. Wir nehmen viele Impulse daraus mit, viele offene Fragen und Anregungen und fühlen uns bereichert durch neu gewachsene Kontakte und Freundschaften, die auch uns neue Perspektiven für eine intensivere Zusammenarbeit erschlossen haben.
Einige Themen, die uns während des Projekts im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit den Zeichen der Zeit beschäftigt haben, wollen wir weiter aufgreifen und vertiefen. Insbesondere gehört dazu das Thema Flucht und Migration. So wollen wir uns auf unserer Mitgliederversammlung am 23. April intensiv mit diesem Thema beschäftigen und haben dafür Jürgen Ebach für einen Vortrag zu biblisch-theologischen Perspektiven auf Flucht und Migration gewonnen.
Und tatsächlich fordern die Auseinandersetzungen um Aufnahmeobergrenzen, die zunehmende Abschottung auf der Balkanroute und am Mittelmeer sowie Übergriffe auf Unterkünfte unsere – christliche – Solidarität. Insbesondere wird das seit Beginn dieses Jahres und den Ereignissen der Silvesternacht in Köln, die eine breite öffentliche Diskussion ausgelöst haben, deutlich. Nicht über sexualisierte Gewalt gegen Frauen wurde hier gesprochen und darüber, wie man diese gesellschaftlich wirksam bekämpfen und der Tabuisierung endlich entreißen kann. Vielmehr wurden die Übergriffe dazu benutzt wurden, Angst zu schüren und Stimmung gegen Geflüchtete zu machen. Auf diese Diskrepanz haben viele feministische Gruppen hingewiesen und so rief auch ein breites antisexistisches und antirassistisches Bündnis zu einer bundesweiten Demonstration zum Weltfrauen*tag in Köln am 12. März auf, an der auch wir uns beteiligt haben.
Die Auswirkungen der deutschen Flüchtlingspolitik enden nicht an den den deutschen Grenzen, wie in diesen Tagen der Pakt zwischen Merkel und Erdogan zeigt: Geld an die Türkei, damit sie die Grenzen sichert, Flüchtlinge an der Weiterreise behindert, ja mit Gewalt davon abhält, wird eingetauscht gegen deutsches Schweigen zu Erdogans Menschenrechtsverbrechen. Mit Sorge und Empörung verfolgen wir die daraus resultierende Brutalisierung im Umgang mit den Flüchtlingen und der kurdischen Bewegung, aber auch mit oppositionellen türkischen Intellektuellen und JournalistInnen und das Schweigen der Medien und breiter Teile der Zivilgesellschaft in der BRD dazu. Diesem Schweigen versuchen wir etwas entgegenzusetzen, auch durch unser Engagement innerhalb der Solidaritätsbewegung mit den KurdInnen in Rojava.
Internationale Solidaritätsarbeit ist ein Arbeitsschwerpunkt, der uns schon seit jeher im ITP-Kontext beschäftigt. Im Fokus stand über lange Jahre die Chile-Solidarität und die chilenische christliche Basisbewegung mit der aus ihr hervorgegangenen Theologie. Aktuell erforschen wir insbesondere die Geschichte der „ChristInnen für den Sozialismus“ als einer Bewegung, die aus einer engen Verbindung von ChristInnen mit der Unidad Popular in Chile hervorgegangen ist. Nach dem Militärputsch 1973 wurden viele engagierte ChristInnen ermordet, verhaftet oder mussten ins Exil gehen. Das Projekt soll diese Bewegung und die sogenannte „Kirche des Volkes“ erstmalig dokumentieren und erinnern.
Aus diesen vergangenen Kämpfen, aus Erzählung und Erinnerung an sie wollen wir uns ermutigen und inspirieren lassen, nicht müde zu werden in unserem Engagement. Angesichts von Krieg und Terror, zunehmenden rechten Tendenzen wollen wir nicht mutlos werden, sondern beharrlich mit so vielen anderen an der Geschichte der Befreiung weiterschreiben. Vielleicht können für uns alle dabei die Worte ermutigend wirken, die Papst Franziskus vor Kurzem während der Messe an der mexikanisch-us-amerikanischen Grenze sprach: „Nie mehr Tod, noch Ausbeutung! Es ist immer noch Zeit, etwas zu ändern, immer gibt es einen Ausweg und immer gibt es eine Gelegenheit …“
Ihr und Euer ITP-Team
Umstrittene Erinnerung – wegweisende Erneuerung
Versammlung zum 50. Jahrestag des Katakombenpaktes in Rom, 11.-17. November 2015
Von Peter Fendel
Über 250 Personen, vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum, aus Basisinitiativen, aus Reformgruppen, aus theologischen Fakultäten in Deutschland und zahlreiche Einzelpersonen haben sich vom 11.-17. November in der Casa La Salle in Rom versammelt, um den „Katakombenpakt“ zu erinnern und zu erneuern. Das ITP war an der Vorbereitung und Durchführung federführend beteiligt, gemeinsam mit anderen AkteurInnen aus dem Bündnis Pro Konzil, das zum 50. Jubiläum des Konzils schon die Konziliare Versammlung in Frankfurt 2012 und seitdem mehrere „konziliare Ratschläge“ ausgerichtet hatte.
Erinnerung und Erneuerung
Das Programm richtete sich an den Polen der Erinnerung und Erneuerung des Paktes aus. Erinnerung meint dabei mehr als den historischen Rückgriff. Es ging uns darum, sich bewusst in der Tradition eines messianisch-prophetischen Christentums, einer dienenden Kirche an der Seite der Armen zu verorten, für die der Katakombenpakt geradezu sinnbildlich steht. Die Erneuerung des Paktes geschieht dort, wo diese Tradition heute fortgeschrieben wird. Dazu wollte die Versammlung in Rom einen Anstoß geben. Zahlreiche Vorträge und Podiumsdiskussionen griffen dieses Spannungsfeld zwischen Erinnerung eines kirchenhistorischen Ereignisses und seiner Fortschreibung nach dem Konzil bis heute auf. Vor allem in den Workshops ging es darum, wie die Erneuerung des Paktes heute gelingen kann. Eine Arbeitsgruppe von Studierenden erarbeitete in diesem Sinne eine Selbstverpflichtungserklärung zur Solidarität mit Geflüchteten, die schließlich von über 140 Teilnehmenden unterzeichnet wurde. In mehreren Exkursionen bestand zudem die Möglichkeit, Akteuren der „Kirche der Armen“ in Rom zu begegnen, zum Beispiel in der Basisgemeinde St. Paul vor den Mauern.
Explosiver als gedacht
Dieser inhaltliche Bogen zwischen Erinnerung und Erneuerung war in Rom heftig umstritten. Die Zusammensetzung der Teilnehmenden war, insbesondere dank der 90 Studierenden, deutlich heterogener als gedacht: die ganze Explosivität des Themas wurde greifbar. Manche haben versucht, diese Spannungen als Generationenkonflikt zu deuten. Wir sind der Auffassung, dass es vielmehr um unterschiedliche inhaltliche Positionen ging, um unterschiedliche Auffassungen von Theologie und davon, wie wir uns Kirche vorstellen. Was bedeutet es, heute Kirche an der Seite der Armen zu sein? Was heißt es, den Katakombenpakt eben nicht nur „diskursiv“, sondern auch ganz praktisch, im konkreten Engagement zu erneuern? Es war letztlich ein großes Verdienst der Versammlung, Kommunikation genau darüber in Gang zu bringen. So waren die Tage für viele von sehr dichten und ehrlichen Auseinandersetzungen geprägt. Diese Auseinandersetzungen machen uns immer noch nachdenklich. Sie zeigen jedenfalls, wie umstritten das Projekt einer „Kirche der Armen“ ist. Das ist keine Konsensidee, der man mal so im Vorbeigehen zustimmen kann, weil es gerade angesagt ist. Nein, es geht um existentielle Fragen, um Positionierung und um Grundoptionen: was bedeuten eigentlich Glaube, Kirche, ChristInsein, Theologie? Die Diskussion darüber möchten wir jedenfalls gerne weiterführen.
Ein Zeichen im Zentrum der Weltkirche
In diesem Sinne war es gut, dass wir gerade in Rom versammelt waren. Im Aufruf hieß es: „Setzen wir ein Zeichen im Zentrum der (Kirchen-)Macht, dass der Katakombenpakt kein historisches Relikt ist, sondern dass seine Anliegen auch heute von ChristInnen aufgegriffen und im konkreten Engagement an der Seite der Armgemachten und Marginalisierten gelebt werden!“ Durch den Versammlungsort ist es uns tatsächlich gelungen, eine breite Öffentlichkeit herzustellen und den Pakt weit über den deutschen Kontext hinaus bekannt zu machen. In Anbetracht der Umstrittenheit und des prekären Status der „Kirche der Armen“ und des „Franziskus-Projekts“ im weltweiten Kontext ist es gut, dass wir in Rom präsent und sichtbar waren. Dies gelang unter anderem durch die Zusammenarbeit mit Council 50 (Konzilsprojekt Wir sind Kirche) und der Ordenskommission Iustitia et Pax.
Kirchengeschichte live…
Ein Höhepunkt der Versammlung war sicherlich der Festakt in den Domitilla-Katakomben am 16. November, dem Gedenktag des Katakombenpaktes und zugleich der 1989 ermordeten Jesuiten in El Salvador. Dass an diesem Tag Bischof Luigi Bettazzi (Mitunterzeichner des Paktes) und Jon Sobrino SJ in den Katakomben mit uns die Messe feiern konnten, war für die beiden und für viele der Teilnehmenden sehr bewegend. Bischof Bettazzi wertete den Pakt als Samenkorn, das sie damals eingepflanzt hätten und das jetzt, ganz unverhofft, zu einem großen Baum geworden sei. Es war bewegend, in diesem Moment mitten im kirchengeschichtlichen Geschehen zu stehen, in einer Dynamik, die vor 50 Jahren ihren Anfang genommen hat, und die genau jetzt geschieht, wenn wir weitertragen, was damals begonnen hat, in „einer anderen Kirche für eine andere Welt.“
Der kurze Sommer der Menschlichkeit
Von Michael Ramminger
Erinnern wir uns: Seit dem Frühjahr 2015 hatten sich immer mehr MigrantInnen, bis zu 3.000 täglich, von Griechenland aus auf den Weg in den europäischen Norden gemacht. Dann wurde diese Route kurzfristig geschlossen, bis sich am 31. August unter den Geflüchteten das Gerücht verbreitete, dass die Grenzen für 48 Stunden geöffnet seien, und man ungehindert weiterreisen könne und sich der #marchofhope in Gang setzte. Das Grenzregime von Dublin war offensichtlich zusammengebrochen.
Angela Merkel hatte die Grenzöffnungen mit den Worten: „Wenn wir jetzt anfangen müssen, uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“ verkündet. Aber dieser Satz kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass staatlicher- und überstaatlicherseits die „Festung Europa“ trotz permanenten Notstandes bis dato hervorragend funktioniert hat. Die daraufhin einsetzende große Welle der Solidarität, der FluchthelferInnen, derjenigen, die Flüchtende an den Bahnhöfen versorgt und weitergeleitet haben, ist Gott sei dank auch ein Reflex auf die regierungsamtliche Ignoranz gegenüber den Herausforderungen und Nöten der Menschen gewesen.
Aber schon während des „kurzen Sommers der Migration“, während noch überall Menschen die Flucht ermöglicht wurde und während sie begleitet wurden, setzte dann auch wieder eine der massivsten Verschärfungen des Asylrechts der letzten Jahre ein. Es wurden sogenannte Transitzonen, nichts anderes als Haftanstalten, entlang der deutschen Grenzen und hotspots an den EU-Außengrenzen gefordert, es begannen Verhandlungen mit EU-Staaten zur besseren Außengrenzensicherung, die Grenzsicherungsbehörde Frontex soll gestärkt werden, und gerade wurde das Asylpaket II vorbereitet, mit dem der Familiennachzug eingeschränkt werden soll und Asylschnellverfahren und beschleunigte Abschiebungen ermöglicht werden. Ganz zu schweigen von den Milliardengeschenken an die Türkei zur Sicherung der Grenze nach Syrien.
Nur eine kurze Unterbrechung?
War es also nur eine kurze Unterbrechung der Kaltherzigkeit für die Elenden dieser Welt? Schon wird wieder zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen, zwischen richtigen und falschen, zwischen guten und bösen Flüchtlingen unterschieden. Die einen, die gebildeten Syrer, sind mit unserer so „offenen“ Gesellschaft und Kultur kompatibel, vielleicht sogar nützlich für die Wirtschaft, wo sie qualifizierte Arbeitskräfte sucht. Die anderen … – sind es nicht.
Und auch die Stimmung in der Gesellschaft ändert sich. Zwar nutzt kaum jemand die angesichts der vielen Toten im Mittelmeer eh zynische Rede davon, dass das „Boot voll sei“. Aber bis in die gesellschaftliche Mitte hinein macht man sich darüber Gedanken, wie viele Flüchtlinge unsere Gesellschaft verträgt, in anderen Worten, wann denn die Obergrenze erreicht sei. Könnte es sein, dass diese dort erreicht ist, wo die Anderen keine „Bereicherung“ durchaus auch im wörtlichen Sinne mehr sind, sondern eine Störung? „Wir brauchen Zuwanderer, die wir uns selbst aussuchen, die qualifiziert sind und den Staat mitfinanzieren. Die meisten Flüchtlinge, die derzeit kommen, genügen diesen Kriterien nicht“, sagte Ifo-Chef Hans-Werner Sinn unlängst in einem Interview.
Es bleibt wohl an den Geflüchteten
Es bleibt wohl an den Geflüchteten, unseren Gesellschaften Menschlichkeit abzuzwingen und ihr Recht auf ein gutes Leben nicht einzuklagen, sondern es sich zu nehmen. Das ist für unsere Gesellschaften, deren Grenze der Menschlichkeit in der Regel dort aufhört, wo wir es nicht mehr nur mit „Opfern“ zu tun haben, sondern mit selbstbewussten Menschen, die sich ihren Weg zu uns auch erzwingen, eine unangenehme Sache. Asyl ist eben keine großherzige Geste, sondern ein Menschenrecht, im Übrigen auch Gottesrecht: „Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen.“ (Ex 22,20)
Realistisch oder idealistisch?
Am 03. September 2015 sagte Franziskus anlässlich des Welttags der Migranten noch einmal: „In der Tat breitet die Kirche ihre Arme aus, um unterschiedslos und unbegrenzt alle Völker aufzunehmen und um allen zu verkünden: ‚Gott ist die Liebe‘ (1 Joh 4,8.16).“ Die einen mögen es idealistisch finden, ich meine, es ist die einzig realistische Perspektive, den Weltproblemen Herr zu werden. Zwei bis drei Milliarden Euro an die Türkei ist kein profitabler Einsatz für die Bekämpfung der Fluchtursachen, es ist eher die Resignation vor der strukturellen Unmenschlichkeit unserer Welt. Unsere Aufgabe als ChristInnen wird es sein, das Recht auf Bewegungsfreiheit zu verteidigen und zugleich weltweit die Möglichkeit für Menschen durchzusetzen, dort zu bleiben, wo sie am liebsten sind.
Anmerkungen:
Philipp Ratfisch, Helge Schwiertz: Antimigrantische Politik und der „Sommer der Migration“. Als download: http://www.rosalux.de/publication/42062/antimigrantische-politik-und-der-sommer-der-migration.html
Hans-Werner Sinn zur Flüchtlingskrise: „Merkel hätte sich bedeckter halten müssen“, in: Spiegel Online, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/hans-werner-sinn-zur-fluechtlingskrise-kritik-an-merkel-a-1061993.html
Klarer Kopf und großes Herz – Konfrontative Didaktik im Religionsunterricht
Thesen für einen widerständigen Unterricht
vom Arbeitskreis ReligionslehrerInnen im ITP
Als wir als Arbeitskreis 2012 auf der Konziliaren Versammlung in Frankfurt mit unserem Konzept eines „Messianisch-widerständigen Religionsunterrichts“ an die Öffentlichkeit traten, stand eine grundsätzliche Kritik an der Kompetenzorientierung als – provokant formuliert – „neoliberale Gehirnwäsche“ im Vordergrund. Es folgten 2015 – im ITP-Rundbrief 43 – Thesen zur Zurichtung unserer Schülerinnen und Schüler durch diese subtilen Herrschaftstechniken neoliberaler Bildungskonzepte. Nun möchten wir den Widerstand dazu in den Blick nehmen und fragen, wie wir als LehrerInnen das „Gegengift“ entwickeln können. Dazu haben wir 14 Thesen formuliert. Wir sind gespannt auf Ihre und eure Reaktionen.
Paulo Freire:
„Für den echten humanistischen Erzieher wie den echten Revolutionär ist die Wirklichkeit, die von ihnen mit anderen zusammen verwandelt werden muss, Gegenstand des Handelns, nicht aber der Mensch selbst. Unterdrücker behandeln Menschen in der Absicht, sie zu indoktrinieren und einer Wirklichkeit anzupassen, die als solche unangetastet bleiben soll.“
Was ist eine gute Lehrerin?
1. Die Lehrerin ist über die Maßen wichtig. Sie muss einen klaren Kopf und ein großes Herz haben.
2. Man darf nicht meinen, dass man ohne Standpunkt in den Unterricht gehen kann. Eine gute Lehrerin muss im Unterricht Position beziehen.
3. Eine gute Lehrerin muss das auch von ihren Schülern und Schülerinnen im Unterricht verlangen. Eine gute Lehrerin stellt sich gegen eine im neoliberalen Bildungskonzept erstrebte Haltung der Standpunktlosigkeiten, die in der Handlungsorientierung durchgehend gefragt ist.
4. Eine gute Lehrerin motiviert die Schüler, sich auf die Suche nach Wahrheit zu begeben. Eine standpunktlose Aneinanderreihung von Positionen ergibt nur einen Lernzuwachs ohne emanzipierende Bildungsperspektive. Für eine gute Lehrerin sind Lernen und Emanzipation aufeinander bezogen.
5. Ein guter Lehrer stimmt dem Satz, „Jeder darf seine eigene Meinung haben“, zu. Aber er weigert sich, daraus abzuleiten, dass alle Meinungen gleichermaßen gültig sind. Deshalb lehnt er diesen Satz als Gespenst postmoderner Beliebigkeit und der daraus resultierenden Meinung, das sei Demokratie, ab.
6. Diese falsch verstandene Individualisierung greift ein guter Lehrer an. Er führt die Vorstellung, alle Meinungen könnten gleichberechtigt nebeneinander stehen, ad absurdum. Er bringt die Schüler dazu, Widersprüche zu erkennen und mit Argumenten und Erfahrungen Lösungsvorschläge in Konflikten zu erarbeiten.
7. Wenn Individualisierung dazu führt, dass du nicht mehr siehst, wer dich beherrscht, dann kannst du „den Aufseher nicht erschlagen“ (Exodus), denn diese falsch verstandene Individualisierung ist notwendige Voraussetzung für den Internalisierungsprozess im neoliberalen Bildungskonzept, um den eigenen Aufseher ausbilden zu können.
8. Instrumente der Internalisierung sind Handlungsorientierung und Standardisierung. In der Moderne diente Standardisierung ursprünglich noch dem Bestreben, dass alle das Gleiche wissen sollten. Das neoliberale Bildungskonzept dagegen zielt auf das Verhalten als Selbststeuerung ab, daher „Handlungsorientierung“ als oberste Maxime.
9. Handlungsorientierung wird über den Methodenbegriff und – einsatz durchgesetzt oder anders gesagt, Methoden dienen dem Verhaltenstraining. In sich kreative Methoden, in denen viel Freiraum gegeben wird, können zur Kontrolle eingesetzt werden. Daher nutzt eine gute Lehrerin alle Möglichkeiten, diesen Prozess durchschauen zu lernen, indem die Schülerinnen dafür sensibilisiert und kritisch aufmerksam gemacht werden.
10. In einem guten Unterricht lernen die Schüler einen reflektierten und ideologiekritischen Umgang mit Methoden, damit sie die subtilen Formen von Kontrolle und Herrschaft über sich und ihr eigenes Verhalten sehen lernen. Eine gute Lehrerin stellt damit die Möglichkeit bereit, den „Aufseher“ zu erschlagen.
11. Eine gute Lehrerin nutzt daher auch alle Möglichkeiten, Beurteilungen sowie andere Standardisierungen zu vermeiden, denn sie bilden das Fundament permanenter Selbstkontrolle. Das heißt, eine gute Lehrerin unterwandert alle Formen dieser Handlungsorientierung als Zurichtungspraxis (Zeitwächter, Selbstbeurteilungen usw.) und übernimmt auch nicht bewusstlose Begriffe des neoliberalen Bildungskonzeptes wie „Sprinteraufgaben“ statt Extraaufgaben. Sie macht Defizite im Bewertungssystem deutlich und sucht gemeinsam mit den Schülern nach Lösungen.
12. Der Lehrer im neoliberalen Bildungskonzept ist kein neutraler Coach, wie behauptet wird, sondern ihm ist sehr wohl die Rolle des Systemvertreters zugewiesen. Die gute Lehrerin ist sich dessen bewusst und macht ihren Schülern diese ihr zugedachte zwiespältige Rolle kenntlich – im Gegensatz zum unsichtbar bleibenden „Aufseher“. Eine gute Lehrerin macht das Kontrollsystem sichtbar und versucht – wo möglich – es kreativ zu unterlaufen.
13. In der Mittelstufe spüren Schüler und Schülerinnen, dass in der Schule, in der Welt etwas nicht stimmt. Der gute Lehrer will gerade diese Schüler unterrichten und entwickelt für diese Jahrgangsstufe eine Unterrichtsreihe: „Die Maschen der Macht. Machtgeschichten. Von was werdet ihr beherrscht, wem nützt das?“
14. Wer oder was raubt den Schülern ihre Kraft? Welche Art von Disziplin wird ihnen auferlegt? Die Verbindung von Disziplin und Freude durch die Anstrengung ist verloren gegangen. Es wird ihnen nichts mehr zugetraut.
„Anders Mensch sein in einer anderen Kirche für eine andere Welt“
Zum Abschluss des Erinnerungsprojekts an das II. Vatikanische Konzil
Von Philipp Geitzhaus und Julia Lis
Es ist nun mehr als fünf Jahre her, dass wir hier im Institut für Theologie und Politik (ITP) begonnen haben, das Zweite Vatikanische Konzil als (umkämpftes) Ereignis zu erinnern. Nun stehen wir am Abschluss dieses Projekts und blicken zurück auf drei große Veranstaltungen: die Konziliare Versammlung 2012, „gott.macht.sprache“ 2014 und die Versammlung „Katakombenpakt erinnern und erneuern!“ 2015. Viele der Aufbrüche, die im Laufe des Projekts begonnen wurden, werden uns auch in den nächsten Jahren begleiten.
Erinnerung wiederaneignen
Als wir 2010 dieses Projekt während des Pontifikats von Benedikt XVI. begannen, geschah dies vor dem Hintergrund einer kirchlichen Wetterlage, in der vielen christlichen Gruppen ein kalter Wind entgegenkam. Eine Hermeneutik, die versuchte das Konzil in seiner erneuernden Kraft zu schmälern, die Betonung auf das Unveränderliche statt auf das Neue zu legen, machte sich großkirchlich breit. In dieser Situation das Zweite Vatikanische Konzil zu erinnern, bedeutete, einen Versuch seiner Wiederaneignung zu unternehmen. Schon die Konziliare Versammlung in Frankfurt ermöglichte in gewisser Weise eine Gegenerinnerung zur vorherrschenden kirchlichen Interpretation. 2015 wurde diese aneignende Erinnerung an das Konzil einen Schritt weitergetrieben, als wir an den Katakombenpakt als einen Aufbruch hin zur Kirche der Armen und zur Befreiungstheologie erinnert haben. Ob das Konzil nur im Licht des Katakombenpaktes richtig gelesen werden kann und dieser somit einen hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis des Konzils liefert oder ob umgekehrt der Katakombenpakt eine Folge und Weiterführung des Konzils darstellt und von diesem so erst hervorgebracht werden konnte, bleibt sicherlich zu diskutieren. Feststeht aber, dass für eine Interpretation des Konzils, die dieses als Aufbruch der Kirche hin zur Welt aus dem Geist des Evangeliums heraus liest, beide in einem Zusammenhang stehen.
Die K(irchen)-Frage stellen
Wo aber kann heute eine solche erinnernde Interpretation von Konzil und Katakombenpakt geschehen? Und wer ist das Subjekt jener Erinnerung im Geiste einer befreienden Erzählung? Solch eine Erzählung kann nur dort tradiert werden, wo Orte und Räume entstehen, in denen Menschen sich als Erinnerungsgemeinschaft begreifen. Eine Erinnerungsgemeinschaft ist aber dann etwas anderes als ein nostalgischer Kreis, wenn in ihr der Gegenwartsbezug und damit die Relevanz des Erinnerten lebendig bleibt. Unsere Versammlungen waren Orte der Begegnung, Orte einer solchen Erinnerungsgemeinschaft. Und sie eröffneten wieder Räume, uns gemeinsam zu organisieren, im Wissen darum, dass eine Kirche, die die Veränderung der Welt auf das Reich Gottes hin mit anderen zusammen vorantreiben möchte, nicht aus vereinzelten Gruppen und Individuen bestehen kann, sondern zur Aufgabe hat, zu einem Volk Gottes zu werden.1
Doch besteht so ein Volk Gottes heute einfach so weiter (oder lässt es sich reaktivieren)? Das 2. Vatikanische Konzil heute zu erinnern, bedeutet auch nach „Kirche“ zu fragen und sich dabei einzugestehen, welchen immensen Bedeutungsschwund das Christentum in seiner traditionellen Verfasstheit innerhalb der Großkirchen in den letzten 50 Jahren erfahren hat. Das liegt nicht zuletzt daran, dass im gegenwärtigen neoliberalen Kapitalismus die Kirchen in ihrer identitätsbildenden wie in ihrer sinnstiftenden Funktion zunehmend an Bedeutung verloren und somit auch als „sozialisierende, traditionsstiftende Instanz“2 unwichtig geworden sind. Die Frage nach der Organisierung eines befreienden Christentums stellt sich vor diesem Hintergrund mit besonderer Brisanz.
Handlungsfähig werden
Wenn das II. Vatikanum mehr sein soll als eine bloße Erinnerung, sondern auch heute Menschen bewegen soll, die Zeichen der Zeit zu erkennen, sie im Lichte des Evangeliums zu deuten und daraus Widerstand zu entwickeln, gegen all das, was heute Menschen unterdrückt, dann geht es insbesondere um unsere gemeinsame Handlungsfähigkeit. Mit den Worten von Papst Franziskus gilt es nach den Opfern dieser Globalisierung der Gleichgültigkeit und nach der Verwüstung des „gemeinsamen Hauses“, der „Mutter Erde“, zu fragen, wie zuletzt bei der Versammlung in Rom 2015 geschehen. Tatsächlich hat sich mit Papst Franziskus während unserer Erinnerungsarbeit für diese Themen ein Zeitfenster geöffnet, das wir nutzen wollen. Doch nicht nur seine furchtlose Kritik an den Verhältnissen, sondern vor allem, dass er zu Veränderungen anstiftet und ermutigt, die Dinge von der Basis her selbst in die Hand zu nehmen, sollte Ansporn sein: „Sie sind Aussäer von Veränderung“3. Diesen Impuls wollen wir aufgreifen und weiterführen: In diesem Sinn verstehen wir unsere Erinnerungsarbeit gemeinsam mit vielen als den Anfang eines Anfangs, hin zu einer Kirche, die uns neu zu Menschen werden lässt im Dienste einer anderen, gerechten, möglichen Welt Gottes.
1Eindrucksvoll hat dies die Botschaft der Konziliaren Versammlung formuliert vgl. Hoffen und Widerstehen! Botschaft der Konziliaren Versammlung 18.-21. Oktober 2012 in Frankfurt, in: ITP (Hg.): „Anders Mensch sein in einer anderen Kirche…“ Werkbuch II, Münster 2014, S. 48.
2Ramminger, Michael: Katholizismus in der Warteschleife, in: ITP (Hg.): „Anders Mensch sein in einer anderen Kirche…“ Werkbuch II, Münster 2014, S. 41, auch einzusehen unter http://www.itpol.de/?p=1988.
3Ansprache von Papst Franziskus beim Welttreffen der Sozialen Bewegungen, 09.07.2015, http://www.itpol.de/?p=1804.