Humanismus und Gewalt – Franz J. Hinkelammert

Wenn man heute über Humanismus spricht, muss man immer und notwendig über die Verdopplung des Humanismus sprechen. Wenn es heute darum geht, eine andere Welt möglich zu machen, geht es darum, das Humane zu fordern und zurückzugewinnen. Aber es ist offensichtlich, dass wir heute über den Humanismus und das Humane nur sprechen können, wenn wir gleichzeitig eine Kritik des Humanismus begründen. Eine andere Welt zu fordern oder gegenwärtig zu machen, ist nicht ein technisches Problem, obwohl viele technische `Probleme zu lösen sind. Es ist ein Problem der Rückgewinnung des Humanen, des Humanismus.

Wir stehen einer Welt der Entmenschlichung gegenüber. Aber die Entmenschlichung gibt sich selbst wieder als Dienst am Menschen aus.

Wenn wir uns in kritischer Form zum Humanismus verhalten wollen, brauchen wir eine Einsicht, die allem vorausgehen muss: Moderne ist Humanismus. Renaissance, Liberalismus, Sozialismus, sogar der Faschismus. Alle sprechen im Namen des Humanen, das zurückzugewinnen ist. Wir können gar nicht mehr anders sprechen. Aber es ist ein verdoppelter Humanismus. Es gibt eine klassische Formulierung des Humanismus, die von Marx stammt und von der Marx als dem kategorischen Imperativ spricht: “…alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ MEW, I, S.385

Dies ist allerdings nur eine Seite des modernen Humanismus. Aber es wäre natürlich naiv zu glauben, dass die Moderne dieser Humanismus ist. Im Kosovokrieg machte sich ein anderer Humanismus gegenwärtig, der natürlich nicht neu war, aber einen neuen Namen bekam: humanitäre Intervention. Humanitäre Interventionen verwandeln ganze Länder in verbrannte Erde: Serbien, Afghanistan, Irak, möglicherweise im nächsten Schritt Iran. Ein Krieg kann nur dann ein totaler Krieg sein, wenn er als humanitäre Intervention nicht nur interpretiert, sondern auch gelebt und erlebt wird. Und die humanitären Interventionen, die wir erlebt haben, sind alle totale Kriege, in denen es keine humanen Grenzen für die Gewalt gibt. Aber dies gilt auch für alle totalitären Gesellschaften. Nur im Namen der Rückgewinnung des Humanen können sie totalitär werden. Dies gilt auch für die gegenwärtige Totalisierung des Marktes durch die herrschende Globalisierungsstrategie: für sie ist unverzichtbar die Ideologie der unsichtbaren Hand des Marktes, die alle Barbarei, die man begeht, in Dienst am Menschen verwandelt.

Dies drückt sich auch im Namen der Gewaltministerien aus. Zuerst waren es Kriegsministerien, danach Verteidigungsministerien und in der Zukunft werden es sehr wahrscheinlich Ministerien für humanitäre Interventionen sein, eine Art umgekehrter Wohlfahrtsministerien. Aber alles ist Humanismus.

Dies ist die Verdopplung des Humanismus. Wenn wir daher sagen können, dass Moderne Humanismus ist, müssen wir immer hinzufügen, dass die Moderne ein verdoppelter Humanismus ist. Andernfalls verfallen wir einer reinen Illusion. Es ist die Verdoppelung von konkretem und abstraktem Humanismus.

Der abstrakte Humanismus

Der abstrakte, umgekehrte und verkehrte Humanismus ist wahrscheinlich derjenige, der am unmittelbarsten sichtbar ist. Alle Kolonialisierung der Welt wurde im Namen von humanitären Interventionen durchgeführt, obwohl es diesen Namen noch nicht gab. In der Eroberung Amerikas durch Spanien und Portugal hatte dies noch einen religiösen Ausdruck. Nachdem die Eroberer anerkannten, dass auch die dortige Bevölkerung aus Menschen besteht, die eine ewige Seele haben, wurden sie erobert, um ihr ewiges Seelenheil zu sichern. Aber man vergaß die Menschenrechte nicht. Man erklärte die Bevölkerung für Kannibalen und für Menschen, die Menschenopfer begingen und rettete sie vom Kannibalismus und von Menschenopfern,, während man gleichzeitig in den Heimatländern Häretiker und Hexen vor den Kathedralen lebendig verbrannte und dazu das Te Deum sang. Der Mensch und die Sorge um den Menschen standen im Mittelpunkt. Der englische Imperialismus drückte das Gleiche säkular aus. Als Indien erobert wurde, trugen man die “Last des weißen Mannes”, um Indien endlich Kultur und das bürgerliche Gesetz zu bringen, von dem Locke gezeigt hatte, dass es die realistische Form ist, den Menschen in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen. Sie opferten sich für diese Mission, und verdienten sich als Gegenleistung, die Reichtümer Indiens nach England zu schaffen.

Auch die Sklaverei war Dienst am Menschen. Hamilton, einer der Founding Fathers der USA, erklärte die Sklaverei für notwendig, um die importierten Afrikaner zu “zivilisieren”. Diese Begründung machte Schule. Im sozialistischen China hatten die Lager das Ziel, Menschen “umzuerziehen”. Der abstrakte Humanismus hat nie Grenzen gekannt. Auch der GULAG war Dienst am Menschen. Man braucht nur die Reden von Wischinsky, dem Ankläger der Säuberungsprozesse in der Sowjetunion der 30er Jahre, zu lesen, um zu hören, dass selbst der GULAG notwendig war, um die Menschheit ins Licht des Kommunismus, die wahre humane Gesellschaft, zu überführen.

Dieser abstrakte Humanismus, der die Seele der Kolonialisierung der Welt der Welt auch heute noch ist, bestimmte aber auch die Begründung der bürgerlichen Gesellschaft und des Kapitalismus selbst. Es entstand eine wahre Spiritualität des Marktes. Mandeville erklärte: private Laster – öffentliche Tugenden. Adam Smith verwandelte dies in die unsichtbare Hand des Marktes: das Böse ist das Gute. Das Böse, daher gerade die Ausbeutung, ist nur scheinbar böse: die unsichtbare Hand des Marktes verwandelt es in einen Beitrag zum Allgemeininteresse, sodass es zum Guten wird. Die neoklassische Theorie verwandelte dies wiederum in die Behauptung von der automatischen Tendenz zum Gleichgewicht der Märkte und in dieser Form existiert es weiter im heutigen Neoliberalismus: das Böse ist das Gute, immer dann, wenn es im Rahmen des Marktes geschieht. Dies ist tausendmal widerlegt worden, aber die Ökonomen dieser Richtungen schauen einfach weg und wiederholen ihr Dogma. Ohne dieses Dogma ist tatsächlich der Kapitalismus nicht begründbar und deshalb wird es immer wieder immunisiert. Heute kann man dies in der Autobiografie von Greenspan nachlesen: The Age of Turbulence. Es ist eine wirkliche Spiritualität, die Greenspan davor bewahrte, in den konkreten Humanismus zurückzufallen.[1]

Dieser Dienst des abstrakten Humanismus am Menschen ist heute dabei, selbst den Rechtsstaat in sein Gegenteil zu verkehren. Der Rechtsstaat in den USA ist inzwischen vereinbar mit der Existenz von Konzentrationslagern wie in Guantánamo, der systematischen Folter und des Verschwindenlassens von Personen. Alles dies wird zum Teil des heutigen Gemeinsinns, des allgemeinen Volksempfindens. Auch die Folter wird zum Dienst am Menschen. In diesem Sinne kann die Nachricht über einen prominenten Folterer von Camp Delta in Guantánamo interessieren, die in der Washington Post erschien:

Van Natta beendete seine Aufgabe als Superintendent von Camp Delta im September. Er sagt, dass er heute stolz ist über das, was er und seine Truppen erreicht haben.

“Es handelt sich um das wichtigste Jahr, das ich bisher gelebt habe, denn ich bin überzeugt, dass wir Leben gerettet haben” sagte Van Natta, der jetzt zurückkehrt um das Hochsicherheitsgefängnis im Norden von Indianapolis zu leiten. „Wenn es so geschehen wird, wie ich es denke, dann wird dies als ein einzigartiges Gefängnis angesehen werden, so wie keines bisher. Wenn bekannt wird, dass die Informationen, die wir gesammelt haben, Leben gerettet haben, wird dies als eine sehr angemessene Tat angesehen werde. Sollte sich allerdings herausstellen, dass es keine Information (intelligence) gegeben hat, dann wird es als Produkt einer Supermacht angesehen werden, die ihre Macht unkontrolliert ausgeübt hat.“[2]

Es gibt eine Anekdote über den spanischen Großinquisitor Torquemada aus dem XV. Jahrhundert. Dieser entwarf einen Dialog, in dem er die Frage stellte: Ist es erlaubt, einen Häretiker nicht zu foltern? Und er gab die Antwort: Es ist nicht erlaubt, den Häretiker nicht zu foltern, denn dadurch würde man ihm die letzte Chance nehmen, um seine Seele zu retten.

Dies hat sich natürlich geändert, obwohl es weitergeht. Die Frage ist heute: ist es erlaubt, einen Terrorismusverdächtigen nicht zu foltern? Und die Antwort ist: Es ist nicht erlaubt, ihn nicht zu foltern, denn dadurch verliert man eine Chance, das Leben Unschuldiger zu retten. Im erwähnten Memorandum des Justizministeriums heißt es: …dass die internationalen Gesetze gegen die Folter gemäß dem jetzt bekannten Memo “möglicherweise verfassungswidrig sind, wenn sie auf die Verhöre angewendet werden”, die im Krieg von Bush gegen den Terrorismus durchgeführt werden…

Wenn ein Angestellter der Regierung einen gefangenen Verdächtigen foltert, “so würde er dies tun, um weitere Angriffe gegen die USA von Seiten des Terrornetzwerks Al Qaeda zu verhindern”, sagt das Memo des Büro für legale Beratung des Justizministeriums, das als Antwort auf eine Bitte des CIA nach legaler Beratung gegeben wurde. Es fügte hinzu, dass eine Argumentation, die sich auf “eine Notwendigkeit und auf Selbstverteidigung stützt, einen solchen Grad von Rechtfertigung gibt, dass diese jede kriminelle Verantwortung beseitigt.”[3]

Nicht zu foltern, verwandelt sich in einen Akt der Barbarei. Nicht zu foltern ist verfassungswidrig, ist inhuman, ist verantwortungslos, ist Zusammenarbeit mit dem Terrorismus. Die Folter ist lebensfördernd. Es handelt sich um einen säkularisierten Torquemada und es ist nicht leicht zu sagen, welcher nun der Schlimmere ist. Diese Art von Argumenten tauchen auf ganze vielen Seiten auf. Sie erschienen ebenfalls in Bezug auf den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Der Pilot des Flugzeuges, das die Atombombe auf Hiroshima abwarf, antwortet auf die Frage nach der wichtigsten Tat seines Lebens: „Offensichtlich wurde die Gruppe 509 für die Anwendung der Bombe formiert, trainiert und sie hatte die Aufgabe durchzuführen… Ursprünglich hieß es, dass Europa und Japan gleichzeitig bombardiert werden sollten. Ich traue mir zu sagen, dass ich Millionen von Leben gerettet habe durch das was ich getan habe. Eine Arbeit, für die ich 10 und einen halben Monat gebraucht habe…“[4]

Die Folter, die Atombombe, die Globalisierungsstrategie: alles rettet Leben. Hier wäre es sogar unverantwortlich und verfassungswidrig gewesen, die Atombombe nicht abgeworfen zu haben. Der Staatsterrorismus präsentiert sich als humanistischer Realismus, als die einzig wahre Form, das Leben zu sichern.[5]

Der chilenische General Gordon, in der Zeit von Pinochet Chef des Sicherheitsdienstes CNI, der die Folterlager in Chile im Namen der nationalen Sicherheit verwaltete, sagte: “Die nationale Sicherheit ist wie die Liebe: es gibt nie genug davon” (El Mercurio, Santiago de Chile, 4.12.83). In der Sprache Orwells war er der Chef des Liebesministeriums im Dienst von humanitären Interventionen, die besagen: Krieg ist Frieden.

Camdessus, ehemaliger Präsident des Weltwährungsfonds, liebte es zu seiner Zeit, Reden zu halten zum Thema “Markt und Reich Gottes”. Darin sprach er dann von der “Option für die Armen”, wie sie die Befreiungstheologie vertrat. Tatsächlich ist sie ein Ausdruck eines konkreten Humanismus, ganz parallel zum zitierten kategorischen Imperativ von Marx. Er feierte sie begeistert. Aber er warnte davor, den Realismus zu verlieren und bestand darauf, dass die realistische Form, die Option für die Armen zu verwirklichen, eben die Strategie des Weltwährungsfonds ist. Wer die Option für die Armen realistisch vertritt, kann dies nur tun, indem er die strukturellen Anpassungen des Weltwährungsforums verwirklicht. Camdessus erklärte, dass der Markt die vollkommenste, dem Menschen mögliche Annäherung an das Reich Gottes ist. Der Vatikan war so begeistert, dass er Camdessus nach dem Ende seines Mandats zum Mitglied seiner Kommission iustitia et pax ernannte und damit die vorherige Soziallehre abschaffte. Das alles ist Spiritualität des Marktes und seine Sakralisierung.

Der Dienst am Menschen hört damit nicht auf. Auch der Faschismus war Dienst am Menschen, obwohl nicht als abstrakter Humanismus. Ganz im Gegenteil. Er stammt in einem wesentlichen Teil aus einer Kritik am abstrakten Humanismus. Aber er sucht nicht die Rückgewinnung des konkreten Humanismus, sondern, in der Nachfolge Nietzsches, die Abschaffung allen Humanismus, damit der Mensch sich als Mensch verwirkliche. Karl Schmitt fand dafür die Formel: Humanität-Bestialität und fügte hinzu: Wer Menschheit sagt, will betrügen. Im heutigen Sinne etwa: wer Humanität sagt, will Petroleum erobern. Es überrascht dann nicht, wenn der Gründer der spanischen Falange Juan Antonio Primo de Rivera sagte: Wenn ich das Wort Humanität höre, habe ich Lust, die Pistole zu ziehen.

Schmitt sucht daher einen Krieg, der nicht durch diesen abstrakten Humanismus verfälscht ist, und in dem sich reale Feinde gegenüberstehen, die sich nicht gegenseitig in absolute Feinde verwandeln und dann totale Kriege fabrizieren. Diese Medizin war sicher viel schlimmer als die Krankheit, aber man muss zumindest verstehen, in welche Perversionen der Dienst am Menschen führen kann. Man musste schließlich sogar die Juden abschaffen, da die Tradition des Humanismus (was einschließt: der Utopie) sehr viel mit der jüdischen Tradition zu tun hat oder überhaupt von daher kommt. Man glaubte daher, das Übel an der Wurzel auszurotten, wenn man die Juden ausrottet.

Schmitt sieht im Humanismus die Ursache dafür, dass der Krieg in totalen Krieg verwandelt wird. Aber die Abschaffung des Humanismus hat den bisher totalsten Krieg der Weltgeschichte überhaupt gebracht.

Zur Rückgewinnung des konkreten Humanismus

Ohne Zweifel, heute geht es um die Rückgewinnung des konkreten Humanismus. Aber diese Rückgewinnung setzt voraus, dass man den Humanismus kritisch und daher in seiner Verdopplung sieht. Andernfalls ist man naiv und beginnt den gesamten Prozess von Neuem. Der konkrete Humanismus hat in sich die Tendenz, in abstrakten Humanismus und damit in Gewalt umzuschlagen. Er verwandelt sich dann in den kategorischen Imperativ zur Gewalt. Dies ist nicht einfach eine Folge menschlicher Bosheit, sondern folgt aus der conditio humana selbst. Wir können für diesen Umschlag ein Wort benutzen, das Marx für den Umschlag der französischen Revolution in Bonapartismus benutzt: Thermidor. Ständig steht der Thermidor des Humanismus vor der Tür.

Jede Position der Rückgewinnung des konkreten Humanismus muss daher immer diese Tendenz zum Thermidor mitreflektieren, und dies auf allen Seiten. Dies gilt nicht nur für das System, es gilt letztlich für alle menschlichen Beziehungen. Auf allen Ebenen wird diese Gefahr sichtbar und muss reflektiert und antizipiert werden. Es ist nicht möglich, diese Gefahr zu beseitigen, weil alle Institutionalisierungen immer gleichzeitig diese Gefahr mitinstitutionalisieren. Alle Institutionen sind Verwaltung des Todes, trotz der Tatsache, dass man ohne sie nicht leben kann. Aber als Verwaltung des Todes entwickeln sie unvermeidlich die Tendenz zum Thermidor von Seiten des abstrakten Humanismus mit seinem kategorischen Imperativ zu töten und alles Menschliche zu zerstören. Auch dies auf allen Ebenen, nicht nur der des Marktes. Die Negation des Menschen wird zur Illusion des Menschlichen, die Gewalt zum wahren Dienst am Menschen. Dies geschieht insbesondere, wenn eine Institution selbst zur Gegenwart des Menschlichen erklärt wird, wie das in der Totalisierung des Marktes oder des Plans geschieht. Die Institution selbst verwandelt sich dann in den kategorischen Imperativ zur Gewalt.

Alle Menschenrechte des konkreten Menschen werden aufgelöst. Der Markt ist nicht mehr flexibel, wenn er totalisiert wird, daher müssen die Menschen flexibel werde. Damit verlieren sie ihre Menschenrechte.

Natürlich gibt es nicht nur den abstrakten Humanismus. Parallel dazu entwickeln sich die großen Emanzipationsbewegungen der Moderne, die vor allem nach der französischen Revolution entstehen. Hier wirkt ein konkreter Humanismus: Sklavenemanzipation, Frauenemanzipation, Emanzipation der Arbeiterklasse, auf die dann in der Zeit bis heute viele neue Emanzipationsbewegungen folgen. Die Geschichte dieser Bewegungen zeigt, dass sie , auch wenn sie vom konkreten Humanismus ausgehen, selbst Teil des Problems der Verdopplung des Humanismus sind. Die sozialistische Arbeiterbewegung hat mit dem Stalinismus ihren großen Thermidor erlebt, der sehr viel Analogien ausweist mit dem Thermidor des Napoleon Bonaparte. Analysiert man diese Thermidore, so ist auch der christliche Thermidor nicht sehr weit entfernt, der im 3. und 4. Jahrhundert mit dem Kaiser Konstantin und Augustinus das Christentum in sein Gegenteil umschlagen lässt. Alle diese Thermidore haben gemeinsam, dass in ihnen ihre Ursprünge aus dem konkreten Humanismus zur Häresie abgestempelt werden.

Aber die Selbstreflektion des Humanismus kann sich nicht auf die Reflexion ihrer emanzipatorischen Ziele beschränken. Sie muss auch ihre Mittel reflektieren. Das Verhältnis der Emanzipation zu ihren Zielen kann sich nicht auf einen Zweck-Mittel-Kalkül reduzieren lassen. Die Mittel bestimmen mit, welche Ziele erreichbar sind. Die Ziele schließen daher auch Mittel aus, die unter dem Gesichtspunkt des Zweck-Mittel-Kalküls anwendbar erscheinen. Dies betrifft gerade die Gewalt als Mittel des Emanzipations- und Humanisierungsprozesses. Die Gewalt kann nicht ein Mittel der Emanzipation sein, wenn versucht wird, sie als strategischen Teil des Weges einzusetzen. Dies impliziert keineswegs einen absoluten Pazifismus, der, wenn er zum Prinzip wird, eine große Tendenz entwickelt zum abstrakten Humanismus des Krieges für den Frieden. Gewalt kann immer nur äußerstes Mittel sein, es sei den, sie geschieht realistisch als Selbstverteidigung. Aber selbst als äußerstes Mittel muss sie ständig unter Kritik stehen. Ständig muss daher gelten, dass Gewalt und Emanzipation im Widerspruch stehen. Kein Krieg ist ein gerechter Krieg, auch wenn er unvermeidlich sein sollte.

Es ergibt sich ein Gesichtspunkt des Subjekts, der jedem realistischen Urteil unterliegen muss: Ich bin, wenn Du bist. Keine Konflikt darf diese Grundbeziehung eines jeden ethischen Urteils zum Verschwinden bringen.

Das Labyrinth der Moderne

Diese Analyse des Humanismus in seiner Verdoppelung zeigt uns, in welchem Sinne die Moderne Humanismus ist. Wir können es auch anders ausdrücken: In der Moderne wird Gott Mensch, der menschlich ist. Das besondere daran ist, dass alle religiöse Bedeutung dieser Annahme in Klammern steht. Dies gilt für atheistische Überzeugung genauso wie für religiöse. Dies ist ein Spezifikum der Moderne.

Es handelt sich um die Basiskategorie der Moderne. Als Kategorie durchdringt sie alles, aber sie taugt nicht als Unterscheidung zwischen der einen oder anderen Form ihrer Realisierung. Sie gilt für das Gute und das Schlechte. Sie impliziert unmittelbar keine Ethik, aber ist in allen Ethiken, die im Namen der Moderne, auch der Postmoderne, auftauchen, präsent. Alles ist Humanismus, alles kann als Dienst am menschlichen Sein verstanden werden.

Die Moderne ist ein Labyrinth. Ohne den Faden der Ariadne gibt es keine Orientierung. Dieser Faden der Ariadne ist das Wissen, das in der Moderne Gott Mensch geworden ist: auf sehr unterschiedliche, auch gegensätzliche und manchmal pervertierte Weise. Daraus entstand eine Welt, in der sich nicht einmal das Inhumane ohne Bezug auf das Humane verwirklichen kann, der Hass nicht ohne Bezug auf die Liebe.

Sich dessen bewusst zu werden, wäre der Wandel, den die Moderne braucht. Das ist keine Postmoderne, sondern Moderne im Bewusstsein dessen, was sie ist. Es wäre die andere Moderne, die andere Welt, um die es ginge. Eine Menschheit, die sich von einem konkreten Humanismus aus spezifiziert.

Dass Gott Mensch wurde, ist Ergebnis eines zweitausendjährigen historischen Prozesses. Es lässt sich nicht auf ein bestimmtes Ereignis reduzieren, dass in Bethlehem vor zweitausend Jahren geschah, auch wenn der Prozess hier seinen Ausgangspunkt nahm. Walter Benjamin sagte, dass der Kapitalismus das Ergebnis einer Transformation der christlichen Orthodoxie in Kapitalismus gewesen sei. Ich glaube, dass dies stimmt. Aber es ist mehr. Die Moderne ist das Resultat einer Transformation des Christentums selbst und nicht nur der christlichen Orthodoxie.

Die Transformation ist nicht-intentional. Von hier aus kann verstanden werden, dass das Christentum seinen Ort nicht in der Moderne sieht, die tatsächlich säkular ist. Aber wenn Gott Mensch geworden ist, folgt daraus in letzter Konsequenz eine säkulare Welt. Zweifelsohne fühlt sich das Christentum fremd, ja sogar einem Feind gegenüber stehend. Aber um sich zu rekonstituieren, muss es entdecken, dass es dies aus dem säkularen Innersten der Moderne tun muss.

Diesen Weg nahm die Theologie der Befreiung. Wenn die Theologie ihn nicht geht, wird sie sich nicht rekonstituieren können und unwiderruflich zurückgeworfen werden.

Noch eine letzte Bemerkung. Der Doppelcharakter des Humanismus ist eine Ausweitung der Marxschen Analyse del Doppelcharakters der Ware. Ich bin überzeugt, dass seine Analyse zum unverzichtbaren Teil der Kritik der politischen Ökonomie werden muss.


 

[1] Er erfuhr dies, nach Naomi Klein, durch ein Buch von Ayn Rand. „Was sie tat…, war, mich zum Nachdenken darüber zu bewegen, warum der Kapitalismus nicht nur effizient und praktisch ist, sondern auch moralisch“, sagte Greenspan 1974. Er hatte seine Gewissensprobleme gelöst und diente sein ganzes weiteres Leben dem Menschen.

[2] VanNatta ended his tour as superintendent of Camp Delta in September. Today, he says he is proud of what he and his troops accomplished: “That was the most important year I ever spent, because I think we saved lives,” said VanNatta, now back running the maximum-security prison north of Indianapolis. “If it comes out the way I think it will, it will be viewed as the most unique prison environment ever created. If it comes out that the information we collected did save lives, it will be viewed as one of the smartest moves ever made. If it’s proven that there was no intelligence, then it’s going to be viewed as a superpower using its power unchecked.” Torture Policy The Washington Post Company, [1] washingtonpost.com Wednesday, June 16, 2004; Page A26. Staff writers John Mintz, R. Jeffrey Smith and Dana Priest in Washington and David B. Ottaway in Saudi Arabia contributed to this report. Im Drama de Benedetti “Pedro y el Capitán” spricht der Capitan, der der Folterer ist, ganz genau die Sprache von VanNatta. S. Benedetti, Mario: Pedro y el Capitán. Nueva Imagen. Mexico, 1979.

[3] that international laws against torture „may be unconstitutional if applied to interrogations“ conducted in President Bush’s war on terrorism according to a newly obtained memo… If a government employee were to torture a suspect in captivity, „he would be doing so in order to prevent further attacks on the United States ba the Al Qaeda terrorist network“, said the memo from the Justice Department’s office of legal counsel, written in response to a CIA request for legal guidance. It added that arguments contering on „necessity and self-defense could provide justifications that would eliminate any criminal liability“ later… Nach: Memo Offered Justification for Use of Torture, Justice Dept. Gave Advice in 2002, by Dana Priest and R. Jeffrey Smith, Washington Post Staff Writers, Tuesday, June 8th, 204, Page A01. washingtonpost.com

[4] Interview mit Paul Tibbets, Oberst, der mit 27 Jahren als Chefpilot am 6. August 1945 die Atombombe über Hieroshima abwarf. Die Bombe trug den Namen little boy und das Flugzeug den Namen der Mutter des Piloten, Enola Gay. Das Interview machte Andrés Jiménez, Journalist der columbianischen Zeitschrift Semana. Hier zitiert nach La Nación, San José, 22.8.99.

[5] Diese Argumente sind Erben von vorherigen konservativen Argumente. So sagte Kardinal Höffner, ehemaliger Erzbischof von Köln: „Das Schwertrecht des Staates ist eine eindringliche Anerkennung der Unantastbarkeit höchster menschlicher Güter, besonders des menschlichen Lebens. Die Heiligkeit der Gottesordnung wird durch die Todesstrafe auch in diesem Äon als ‚mächtig’ erwiesen.“ (Höffner, Josef, Christliche Gesellschaftslehre, Kevelaer 1975, 23l).