Offener Brief von Evo Morales, Präsident Boliviens, zur Rückkehr-Richtlinie der Europäischen Union:
Bis zum Ende des II. Weltkriegs war Europa ein Kontinent von Migranten. Millionen von Europäern brachen nach Amerika auf, um es zu kolonisieren und den Hungersnöten, Finanzkrisen, Kriegen, totalitären Regimen und der Verfolgung ethnischer Minderheiten zu entfliehen. Heute betrachte ich den Prozess der sogenannten Rückkehr-Richtlinie mit Sorge. Über den Text, der am 5. Juni 2008 von den Innenministern der Europäischen Gemeinschaft verabschiedet wurde, muss am 18. Juni vom Europäischen Parlament entschieden werden. Ich empfinde, dass er auf drastische Weise die Bedingungen der Verhaftung und Ausweisung von Migranten ohne Papiere verschärft, ganz gleich wie lange sie sich schon in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft aufhalten und wie ihre Arbeitssituation, ihre familiären Beziehungen, ihr Wille zur und ihre Erfolge bei der Integration sind.
In die Länder Latein- und Nordamerikas gelangten die Europäer in Massen, ohne Visum und ohne, dass ihnen die hiesigen Behörden Bedingungen gestellt hätten. Immer waren sie willkommen und sind es immer noch in unseren Ländern des amerikanischen Kontinents, der damals die ökonomische Misere Europas und ihre politischen Krisen aufsaugte. Sie kamen auf unseren Kontinent, um die Reichtümer auszubeuten und sie nach Europa zu überführen mit hohen Kosten für die Urbevölkerung Amerikas. Wie im Falle unseres reichen Bergs von Potosi und seinen wunderbaren Silberminen, die es erlaubten, vom 16. bis zum 19. Jahrhundert die Geldmasse für den europäischen Kontinent zu produzieren. Die Personen, die Güter und Rechte der europäischen Migranten wurden dabei immer respektiert.
Heute ist die Europäische Gemeinschaft das wichtigste Ziel der Migranten der Welt, was eine Folge ihres positiven Images als eines Kontinents des Wohlstands und der öffentlichen Freiheiten ist. Die große Mehrheit der Migranten kommt nach Europa, um zu diesem Wohlstand beizutragen, nicht um ihn auszunutzen. Sie nehmen die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienstleistungsbereich, im Bauhandwerk, in der Dienstleistung an Personen und in Krankenhäusern ein, die keine Europäer einstellen können bzw. wollen. Sie tragen zur demographischen Dynamik des europäischen Kontinents bei, zur Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Arbeitenden und Nicht-Arbeitenden.
Uns geben unsere Migranten die Entwicklungshilfe , die die Europäer uns nicht geben, denn nur wenige europäische Länder erreichen das Minimum von 0.7% ihres Bruttosozialprodukts als Entwicklungshilfe. Lateinamerika hat im Jahre 2006 68000 Millionen Dollar an Überweisungen durch Migranten bekommen, d.h. mehr als die Summe der ausländischen Investitionen in unseren Ländern. Auf Weltniveau erreichen sie 300.000 Millionen Dollar, die die 104 000 Millionen übersteigen, die an Entwicklungshilfe geleistet werden. Mein eigenes Land, Bolivien, erhielt mehr als 10% seines Bruttoinlandsprodukts durch Überweisungen von Migranten (1.100 Millionen Dollar), ein Drittel der Einnahmen unserer jährlichen Ausfuhr an Erdgas.
Das heißt, die Migrationsflüsse sind nützlich für die Europäer und auf marginale Weise für uns in der Dritten Welt, denn wir verlieren ja auch Millionen unserer qualifizierten Arbeitskräfte, in die auf die eine oder andere Weise unsere Staaten, obwohl sie arm sind, menschliche und finanzielle Ressourcen investiert haben.
Bedauerlicherweise erschwert die „Rückkehr-Richtlinie“ auf dramatische Weise diese Realität. Wenn wir auch begreifen, dass jeder Staat und jede Gruppe von Staaten ihre Migrationspolitik souverän bestimmen kann, so können wir doch nicht akzeptieren, dass die fundamentalen persönlichen Rechte unserer lateinamerikanischen Brüder, Schwestern und Landsleuten verweigert werden. Die Rückkehr Richtlinie erlaubt die 18monatige Einsperrung von Migranten , die keine Dokumente haben, vor ihrer endgültigen Ausweisung oder „Entfernung“ gemäß der Ausdrucksweise der Regel… 18 Monate! Ohne Urteil und Gerechtigkeit! So wie bisher die Regel formuliert worden ist, verletzt sie die Artikel 2,3,5,6,7,8 und 9 der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte von 1948. Im besonderen lautet der Artikel 13 der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte folgendermaßen:
1. Jede Person hat das Recht sich frei zu bewegen und ihren Wohnsitz in einem Staatsgebiet zu bestimmen.
2. Jede Person hat das Recht, jedwedes Land zu verlassen, inklusive das eigene und auch in ihr eigenes Land zurückzukehren.
Und, das Schlimmste von allem: Es existiert die Möglichkeit, Familienmütter und Minderjährige, ohne ihre familiäre und schulische Situation zu berücksichtigen, in Gefängnisse, in denen, wie wir wissen, Depressionen, Hungerstreiks und Selbstmorde stattfinden, einzusperren. Wie können wir das hinnehmen ohne darauf zu reagieren, dass unsere Landsleute und lateinamerikanischen Schwestern und Brüder, die keine Papiere haben, aber seit Jahren mehrheitlich arbeiten und sich integrieren, in Konzentrationslager eingesperrt werden? Auf welcher Seite steht eigentlich heute die Pflicht von Menschen zu handeln? Wo bleibt die Bewegungsfreiheit, wo der Schutz vor willkürlichen Verhaftungen?
Parallel dazu versucht die Europäische Gemeinschaft die Gemeinschaft der Anden-Nationen (Bolivien, Kolumbien, Ekuador und Peru) davon zu überzeugen, ein Assoziationsabkommen zu unterzeichnen, das als dritten Pfeiler einen Freihandelsvertrag enthält, mit dem selben Inhalt und denselben Bedingungen wie er von den USA diesen Ländern bereits aufgezwungen wurde. Wir befinden uns unter intensivem Druck von Seiten der Europäischen Kommission, den Bedingungen einer tiefgehenden Liberalisierung des Handels, der Finanzdienste, des intellektuellen Eigentums und der öffentlichen Dienstleistungen zuzustimmen. Außerdem werden wir unter dem Vorwand des juristischen Schutzes wegen der Nationalisierung von Wasser, Gas und Telefon, die wir am Internationalen Tag der Arbeiter durchgeführt haben, unter Druck gesetzt. Ich frage auch bei diesem Fall: Wo ist die juristische Sicherheit für unsere Frauen, Jugendlichen, Kinder und Arbeiter, die eine bessere Zukunft in Europa suchen?
Förderung der Freiheit der Zirkulation von Waren und Finanzen, während wir konfrontiert sein werden mit Einsperrungen ohne Gerichtsurteil von Menschen, die versucht haben, sich frei zu bewegen. Dies bedeutet, die Fundamente der Freiheit und demokratischen Rechte zu negieren.
Für den Fall, dass diese Anordnung verabschiedet werden sollte, sehen wir uns gezwungen, die Verhandlungen mit der Europäischen Gemeinschaft abzubrechen. Wir behalten uns gemäß dem diplomatischen Prinzip der Gegenseitigkeit das Recht vor, von den europäischen Bürgern dieselben Visa zu verlangen, die man seit dem 1. April 2007 von uns Bolivianern verlangt. Bisher haben wir das noch nicht getan, eben weil wir erwarten, positive Signale von der Europäischen Gemeinschaft zu empfangen.
Die Welt, ihre Kontinente, die Ozeane und ihre Pole leiden unter dramatischen Schwierigkeiten: die globale Erderwärmung, die Verschmutzung, das allmähliche, aber sichere Verschwinden der Energieressourcen und der biologischen Vielfalt, während der Hunger und die Armut in allen Ländern wächst und unsere Gesellschaften schwächt. Aus den Migranten die schwarzen Schafe dieser Probleme zu machen, stellt keine Lösung dar. Es hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Die Probleme des sozialen europäischen Zusammenhalts sind nicht Schuld der Migranten, sondern ein Resultat eines Entwicklungsmodells, dass der Norden aufzwingt, das den Planeten zerstört und die Gesellschaften zerstückelt.
Im Namen des Volkes von Bolivien, aller meiner Schwestern und Brüder des Kontinents, der verschiedenen Regionen der Welt wie des Maghreb, Asiens und Afrikas appelliere ich an das Gewissen der Führungselite, der Abgeordneten, der Völker, Staatsbürger und Aktivisten Europas, dem Text der Rückkehr-Richtlinie nicht zuzustimmen.
Was wir bisher von ihr wissen, so ist sie eine Schande. Ich rufe die Europäische Gemeinschaft auf, in den kommenden Monaten eine Migrationspolitik zu formulieren, die die Menschenrechte respektiert, die diese bisher nützliche Dynamik für beide Kontinente aufrechterhält und ein für alle Mal die schreckliche historische, ökonomische und ökologische Schuld wiedergutmacht, die die europäischen Länder bei einem großen Teil der Dritten Welt haben und für immer die offenen Adern von Lateinamerika schließt. Sie dürfen heute die Weichen nicht noch einmal falsch stellen mit ihrer „Integrationspolitik“, so wie Sie es getan haben bei ihrer angeblich zivilisatorischen Mission in Zeiten der Eroberung und Kolonialisierung.
Geschwisterliche Grüsse aus Bolivien an Sie alle, Regierungsvertreter, Abgeordnete des europäischen Parlaments, companeros und companeras . Besonders gilt aber unsere Solidarität allen Migranten ohne Dokumente. („clandestinos“)
Evo Morales Ayma
Präsident der Republik Bolivien