Melting Pot? Die Begegnung von Befreiungstheologie und Postkolonialer Theologie
von Cordula Ackermann und Philipp Geitzhaus, September 2017
Der Text wurde veröffentlicht in: Ecumenical Association of Third World Theologians: Voices. Theological journal. Volume XL 2017/2, November-December 2017. Online verfügbar unter http://eatwot.net/VOICES/VOICES-2017-2.pdf (zuletzt abgerufen am 20.01.2018), 125-135. Er steht auch in der Rubrik „Texte“ als PDF zur Verfügung. Ackermann Geitzhaus Postkoloniale Theologie
1. Zwei Narrative
Die Geschichte von Befreiungstheologie und ihrem Verhältnis zu anderen aktuellen Theologien lässt sich auf unterschiedliche Weise erzählen. Am Anfang der Erzählung steht meistens die Genese von Befreiungstheologie als die theologische Reflexion aus den Befreiungsbewegungen Lateinamerikas heraus. Systematisiert und ausgestattet mit theoretischen Grundlagen tritt die Befreiungstheologie in Kontakt und Austausch mit unterschiedlichen anderen Theologien. Und an diesem Punkt gehen die Narrative auseinander.
Viele fahren folgendermaßen fort: Aus den Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Theologien, die ihr eigenes Potenzial besitzen, entwickeln sich befreiende Theologien mit unterschiedlichen Ausprägungen. Das sind z.B. feministische Theologie, gendersensible Theologie und queere Theologie, Black Theology und postkoloniale Theologie, verschiedene Formen kontextueller Theologie. Den Bildern, mit denen dieses Narrativ assoziiert werden kann, wohnt eine gewisse Ästhetik inne: Ein sich immer weiter verzweigender Baum oder ein immer dichter werdendes Netzwerk, das zwischen verschiedenen Punkten entsteht, veranschaulichen die plurale und transformative Weiterführung von Befreiungstheologie. Diese Darstellung könnte man ein harmonisches bzw. ein harmonisierendes Narrativ nennen.
Ein wenig anders lässt sich die Geschichte erzählen, wenn die kontroversen Punkte der Auseinandersetzung in den Fokus rücken. Denn schließlich treffen hier unterschiedliche eigenständige Theologien aufeinander. Befreiungstheologische Ansätze wurden auch scharf kritisiert. Nicht jede Begegnung resultierte in der Feststellung von Gemeinsamkeiten. Manche TheologInnen kamen zu dem Schluss, dass bestimmte theoretische wie praktische Elemente der Befreiungstheologie abzulehnen seien, aber sie sahen gerade in der Ablösung von diesen Elementen die Weiterführung befreiender Theologie. Diese Geschichte der Befreiungstheologie ist voller Spannungen und Brüche. Eine historisch-wissenschaftliche Rekonstruktion dieser Geschichte würde wahrscheinlich beides vorfinden: produktive Begegnungen und unversöhnliche Auseinandersetzungen.
Es lohnt sich den Spannungen und Brüchen zwischen der Befreiungstheologie und anderen aktuellen Theologien nachzugehen, um den spezifischen Beitrag, den Befreiungstheologie auch für den europäischen Kontext nach wie vor leistet, zu verdeutlichen. Wir möchten dazu das Beispiel der Begegnung von Befreiungstheologie und Postkolonialer Theologie betrachten. Postkoloniale theologische Ansätze werden in Deutschland zunehmend rezipiert und wer im Kontext Deutschlands Befreiungstheologie betreiben will, kommt nicht um eine Auseinandersetzung mit Postkolonialer Theologie herum. Wie sieht also diese Begegnung aus? Welche Anknüpfungspunkte und welche Brüche tun sich auf?
2. Rezeption der postkolonialen Theologie in Deutschland
Postkoloniale Theorie wurde in Deutschland zuerst besonders im Bereich der Exegese rezipiert. Die drei als BegründerInnen der postkolonialen Theorie anerkannten Intellektuellen Edward W. Said, Gayatri Chakravorti Spivak und Homi K. Bhaba waren und sind als LiteraturwissenschaftlerInnen an Universitäten in den USA tätig. Ihre Theorie analysiert die „Rolle literarischer Texte im Prozess von Dominanz, Widerstand und Kollaboration“ (Dube 2013, 92) im Kontext der direkten kolonialen Herrschaft aber auch im Kontext neokolonialer Globalisierung. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf Lesestrategien, die koloniale Herrschaftsstrukturen aufdecken und marginalisierte Perspektiven zum Vorschein bringen. Die Exegese Postkolonialer Theologie greift dieses Vorgehen in mehrfacher Hinsicht auf. Sie ruft ins Bewusstsein, dass die Bibel der zentrale Bezugspunkt der christlichen und „zivilisierenden“ Mission ist, die die koloniale Herrschaft begleitete und legitimierte. Mit diesem Bewusstsein unterzieht die Postkoloniale Theologie die klassischen Methoden und Ergebnisse der Exegese einer kritischen Überprüfung. Gleichzeitig gab und gibt es widerständige Lesarten der biblischen Texte, die koloniale Herrschaftsstrukturen unterwandern und durchbrechen. Dazu werden zum einen die Spuren antiker Imperien in den Texten der Bibel sichtbar gemacht. Zum anderen geht die postkoloniale Exegese den marginalisierten Perspektiven in den Texten und auf die Texte nach. Kwok Pui Lan sieht es dabei als Aufgabe der Postkolonialen Theologie „Geschichte neu [zu] schreiben, aus den Perspektiven der Dezentralisierten, der Diaspora, der Dritten Welt, der Juden, der Schwarzen, der Schwulen und Lesben, der Einwanderer, der braunhäutigen Frauen“ (Kwok Pui Lan 2013, 120f).
Postkoloniale Theologie versteht sich als eine kontextuelle Theologie, die den gesellschaftlichen und geographischen Kontext der Theologietreibenden mit reflektiert und diesen so zu einer wichtigen Quelle der Erkenntnis macht. Postkoloniale Theologie in Europa zu betreiben bedeutet, Theologie in den Zentren der ehemaligen Kolonialimperien, die im Zuge der Globalisierung nur wenig von ihrer Funktion eingebüßt haben, zu betreiben. Hier gibt es reichlich Gelegenheit „die Verbindung von Wissen und Macht in der textuellen Produktion des Westens zu untersuchen und aufzudecken“ (Sugirtharajah 2013b, 125) und sich dabei von den Perspektiven und dem Wissen aus den Peripherien anleiten zu lassen. Ziel ist dabei nicht eine Umkehrung der Verhältnisse der sich vermeintlich dualistisch gegenüberstehenden Pole Zentrum/Peripherie, Kolonisierte/Kolonisierer, sondern ihre Dekonstruktion. „Postkoloniale Theologie geht somit über die binäre Feststellung von Kolonisierten und Kolonisierern hinaus und legt die Betonung auf den kritischen Austausch zwischen beiden und die gegenseitige Transformation beider Positionen.“ (Nehring/Tielesch 2013, 145.) In der Beschreibung dieser „Zwischenräume des Kulturkontaktes“ (Nehring/Tielesch 2013, 147) wird auf kulturwissenschaftliche Konzepte wie Hybridität und Diaspora zurückgegriffen.
Verschiedene der hier genannten Merkmale verbinden die postkoloniale Theorie mit den Cultural Studies. Zentral ist das Merkmal des radikalen Kontextualismus. Dieser bezieht sich sowohl auf die besprochenen Probleme und Gegenstände als auch auf die jeweils forschende WissenschaftlerIn und die benutzten Theorien. Zum Beispiel treffen bei einer Bibellektüre Text, LeserIn und angewandte Theorie in einer ganz spezifischen Konstellation zusammen, wobei die jeweiligen Kontexte den Erkenntnisprozess einfließen. Die Ergebnisse eines solchen Prozesses sind also nur bedingt verallgemeinerbar. Entsprechend unterziehen Postkoloniale Studien nicht nur ihre Gegenstände, sondern auch ihre AkteurInnen und Theorien einer kritischen Betrachtung: Von WissenschaftlerInnen wird eine selbstreflexive Haltung erwartet und universalen Konzepten wird grundsätzlich misstraut. Das so durch Postkoloniale Studien erlangte Wissen wird als subversiv und transformatorisch verstanden. (Vgl. Nehring/Tielesch 2013, 22 f.)
3. Berührungspunkte und Abgrenzungen zwischen Befreiungs- und Postkolonialer Theologie
Postkoloniale Theologie lässt sich als eine Theologie beschreiben, die den cultural turn der Geisteswissenschaften in den 1990er Jahren mit vollzogen hat. Wo sind ihre Berührungspunkte mit der Befreiungstheologie? Oder besser gesagt: Warum ist die Auseinandersetzung dieser Theologien miteinander notwendig? Die auffälligsten Gemeinsamkeiten zwischen Befreiungstheologie und postkolonialer Theologie sind ihr jeweiliger kritisch-emanzipatorischer Anspruch und ihr Bezug zu postkolonialen Räumen und Machtstrukturen.
Das Engagement von ChristInnen in den Befreiungsbewegungen Lateinamerikas machte ab den 1960er Jahren eine theologische Reflexion darüber notwendig (Vgl. Puertas 2017 und Torres Millán 2017). In diesem Prozess spielte auch die Analyse der kolonialen Vergangenheit und der daraus fortbestehenden Strukturen von Ungleichheit und Unterdrückung eine entscheidende Rolle. Der Geltungsanspruch der Theologie aus den europäischen Zentren wurde durch die vorrangige Option für die Armen in Frage gestellt. Auch die postkoloniale Theologie geht von der Realität (post-)kolonialer Räume aus, um in globalen Machtstrukturen kritisch-emanzipatorisch zu wirken. Da sie sich im Laufe der 1980er und 1990er Jahre herausbildete, war die postkoloniale Theologie in ihren Anfängen schon gefordert, sich mit bereits existierenden kritisch-emanzipatorischen Konzepten zu befassen.
Postkoloniale Theologie und Befreiungstheologie wurden im globalen Norden aufgrund ihrer geographischen Bezüge oft als „Dritte-Welt-Theologien“ rezipiert. Zwar betonen beide Theologien die Nähe ihres Ursprungs zum Kontext der sogenannten Dritten Welt, aber beide erheben ebenso Anspruch darauf, dass ihre Reflexionen über diesen Kontext hinaus von Relevanz sind. So geht die Befreiungstheologie davon aus, dass eine Reflexion, die von den Armgemachten und Marginalisierten ausgeht, Erkenntnisse über globale Strukturen der Unterdrückung erlangt und somit auch zu einem globalen Widerstand beitragen kann. Postkoloniale Theologie betont tendenziell die Partikularität ihrer Erkenntnisse, sieht aber gerade in dieser Partikularität kritisch-emanzipatorisches Potenzial gegenüber der hegemonialen Wissensproduktion. Tatsächlich verkennt die Bezeichnung als „Dritte-Welt-Theologie“ auch, dass beide Theologien mit theoretischen Grundlagen arbeiten, die zum großen Teil dem europäischen und us-amerikanischen Kontext entstammen. Befreiungstheologie baut stark auf sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und einer materialistischen (marxistischen) Gesellschaftsanalyse auf. Postkoloniale Theologie bedient sich z. B. Gramscis Theorien zu Hegemonie und Subalternität und Foucaults Diskursanalyse. Diese Verbindung von Peripherie und Zentrum zeigt sich auch im Leben wichtiger AkteurInnen beider Strömungen. Postkoloniale TheoretikerInnen, wie Said, Spivak und Bhaba, sind in der Diaspora in den USA verortet und Intellektuelle der Befreiungstheologie, wie Gutiérrez, Dussel und Ellacuría, wurden in Europa ausgebildet und praktizierten ihre Theologie in Lateinamerika. Für die theologische Diskussion in Deutschland ist es manchmal notwendig, auf diesen grenzüberschreitenden Charakter der beiden theologischen Ansätze hinzuweisen um eine Exotisierung zu vermeiden.
Die Begegnung von Postkolonialer Theologie und Befreiungstheologie ergibt sich also sowohl aus gemeinsamen Entstehungshintergründen, als auch daraus, wie sie von anderen rezipiert wurden. Der Austausch wurde in den 1990er Jahren durch Diskussionen innerhalb der Befreiungstheologie um die Bedeutung des Kulturellen befördert. Die Erinnerung an 500 Jahre Conquista am Anfang der 90er Jahre verstärkte die Orientierung auf das Thema „Kolonialismus“ und in den Folgejahren wurden die Fragen nach der Bedeutung des (Inter-)Kulturellen diskutiert (Fornet-Betancourt 1996a, 1996b, 1997, Ramminger 1998). Diese Diskussionen sind nicht zu unterschätzen, da sie einen „Paradigmenwechsel“ in der Befreiungstheologie forcierten, „dem es um eine Transformation der sozialen Analyse und deren theologischen Reflexion geht“ (Ramminger 2017). Gustavo Gutiérrez dürfte zu den prominentesten VertreterInnen dieses Paradigmenwechsels gehören, der diesen in der Überwindung der ökonomischen Engführung und in der Wahrnehmung eines „komplexen Universums“ sah (Gutiérrez 2009, 22-27). Gutiérrez Aufforderung zielte auf eine theoretische Verknüpfung verschiedener (geistes-)wissenschaftlicher Disziplinen, zu der auch weiterhin die Ökonomie gehören sollte, um diesem „komplexen Universum“ theoretisch zu begegnen. Dieser Aufforderung wurde aber – wahrscheinlich aus „Resignation vor der Aufgabe eines umfassenden Weltverständnisses“ – kaum nachgegangen, wie Michael Ramminger aufzeigt (Ramminger 2017). Der cultural turn in der Befreiungstheologie äußerte sich somit eher in einer Verschiebung als in einer Verknüpfung. „Mit der philosophischen ‚Wende zur Kultur‘ wurde die harte sozio-ökonomische Analyse marxistischer Prägung, die für die erste Generation der Befreiungstheologen kennzeichnend war, in Frage gestellt.“ (Pilario 2016, 69.) BefreiungstheologInnen, die einen Paradigmenwechsel hin zu einer „weichen“ Gesellschaftsanalyse begrüßten, fanden dafür bei der Postkolonialen Theologie Bestätigung. Abgrenzungsbedürfnisse gegenüber einer angeblich alten und ökonomistischen Befreiungstheologie kamen also schon in Diskussionen innerhalb derselben auf und waren anschlussfähig für die Postkolonialen Theologie.
Eine 2013 in Deutschland erschienene Textsammlung zur Postkolonialen Theologie (Nehring/Tielesch 2013) beginnt wahrscheinlich nicht zufällig mit einer sehr scharfen Kritik R. S. Sugirtharajahs an der Befreiungstheologie: Trotz guter Absichten liefen BefreiungstheologInnen beständig Gefahr „eine mikrokosmische Version genau der Theologie [zu] reproduzieren, die sie zurückzuweisen versuchen“, da sie ihre Theologie nicht konsequent aus ihrem sozio-kulturellen Kontext entwickeln würden, „sondern aus der Perspektive der liberalen modernistischen Werte von Solidarität, Identifizierung und Befreiung.“ (Sugirtharajah 2013a, 59.) Der Kontext der Armen würde zwar als relevant für die theologische Erkenntnis angesehen, aber die Option für die Armen nehme die Differenzen derselben nicht war und homogenisiere und romantisiere die Armen (Sugirtharajah 2013a, 51 und 62). „Die Befreiungshermeneutik ist modernistisch in ihrem Versuch, für alle zu sprechen und indem sie hermeneutische Ziele festlegt.“ (Sugirtharajah 2013a, 62) Auch die Herausgeber der Textsammlung unterstreichen, dass Postkoloniale Theologie bei ihrer „Kritik an einem modernen Verständnis von Identität“ andere kontextuelle Theologien, die auf eben diesem Identitätsverständnis aufbauen, nicht aussparen. Den Kern dieses Identitätsverständnisses bildeten, wie bereits erwähnt, binäre Oppositionen, die gerade nicht durchbrochen werden „indem man, wie in der Befreiungstheologie geschehen, mit der Option für die Armen die Wertigkeiten einfach umdreht.“ (Nehring/Tielesch 2013, 146.) Auch versöhnlichere Entwürfe, die eine Brücke zwischen Postkolonialer Theologie und Befreiungstheologie schlagen wollen, sehen im Umgang mit Identitäten einen entscheidenden Punkt der Abgrenzung. Mayra Rivera Rivera stellt fest, dass in den Bibelwissenschaften zunehmend Lesarten angewandt werden, „die explizit auf den von postmoderner und postkolonialer Theorie bevorzugten Formen von Subjektivität basieren: diasporische Hermeneutik, postkoloniales Interpretieren und andere Formen des Grenzdenkens. Diese Arten des Lesens stehen Seite an Seite mit Interpretationen, die auf modernen Widerstandsformen basieren, wie Befreiung und Identitätspolitik.“ (Rivera Rivera 2013, 162f) Mit der Gegenüberstellung von „moderner“ Befreiungstheologie und „postmoderner“ Postkolonialer Theologie, die für beide Kritiken zentral ist, wird ein Fortschritt in der Gesellschaftsanalyse behauptet. Aber kann dieser Fortschritt so einfach postuliert werden? Ist die Betonung von Differenz und Partikularität tatsächlich die Abkehr von Identitätspolitik oder nur eine andere Spielart derselben?
Die unterschiedlichen Punkte der Kritik an Befreiungstheologie von Seiten der Postkolonialen Theologie zeichnen sich aus durch die Ablehnung universalistischer Konzepte auf verschiedenen Ebenen, die charakteristisch für Postkoloniale Theorie ist. Paulo Suess weist auf den wissenschaftlichen Universalismus hin, der als eines der „leitenden Prinzipien des Kolonialismus“ diesen überlebt habe. Er zeichne sich aus durch das Festhalten an der vermeintlichen Objektivität wissenschaftlicher Kategorien, „die er als universal ansieht, weil sie keinem kontextuellen Einfluss“ unterliegen. (Suess 2013, 192) Der Vorwurf des Ökonomismus an die Befreiungstheologie identifiziert deren Schwerpunktsetzung auf eine materialistische Gesellschaftsanalyse mit eben jenem Universalismus, der kontextuelle Gegebenheiten einer vermeintlich neutralen Kategorie unterordnet. Entsprechend lässt sich die Kritik an der Verwendung „modernistischer Werte“ wie Solidarität und Befreiung als Kritik an einem politischen Universalismus in der Befreiungstheologie verstehen. Postkoloniale Kritik verbindet Universalismus also mit Vereinheitlichung und Essentialismus. Dies zeigt sich in der Kritik Postkolonialer Theologie an der „Option für die Armen“. Diese Formulierung schreibe die Identität ‚der Armen‘ in essentialistischer Weise fest. Die sprachliche Repräsentation der Marginalisierten als homogene Gruppe setze sich über die partikularen Perspektiven und Erfahrungen hinweg. Spivak bezeichnet dies sogar als ‚epistemische Gewalt‘, die als Erbe kolonialer Diskurse auch in den Begriffen antikolonialer politischer Bewegungen, die dadurch ein kollektives politisches Subjekt bezeichnen wollen, fortgeführt würde (Vgl. Castro Varela/Dhawan 2015, 183-185). Ist die Befreiungstheologie als emanzipatorische politische Bewegung demnach tatsächlich nur zu retten, wenn sie sich von Solidarität, Befreiung und der Option für die Armen distanziert?
4. Universalismus von unten
Die Universalismuskritik der Postkolonialen Theologie, die teilweise sogar jedem universalistischen Denken eine gewisse („epistemische“) Gewaltförmigkeit zuspricht, lädt zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Begriff des Universalen ein. In den letzten Jahren gab es dazu vermehrt politisch-philosophische und auch politisch-theologische Analysen. Dort wurde und wird aufgezeigt, dass die u.a. von der Postkolonialen Theologie suggerierte Klarheit zu diesem Begriff einer differenzierten Betrachtung nicht standhält. Gegenwärtig dürfte einer, der profiliertesten UniversalismustheoretikerInnen Étienne Balibar sein (Balibar 2006 und 2016). Balibar weist auf die grundsätzliche Äquivokation des Begriffs hin, die durch die Gegenüberstellung von Universalismus und Partikularismus nicht adäquat analysiert werden kann. Er unterscheidet drei verschiedene Typen von Universalität: Eine reale, eine fiktive und eine ideale Universalität (Balibar 2006, 281-314).
Unter dem Begriff der realen Universalität versteht er „den Gedanken einer wechselseitigen Abhängigkeit zwischen den Elementen oder Einheiten, aus denen sich das zusammensetzen lässt, was wir die Welt nennen“ (Balibar 2016, 282). Man könnte dies auch die materielle, durch Produktion und Reproduktion geschaffene Vergesellschaftung nennen, die heute tatsächlich als Globalisierung existiert. Gemeint ist das (positive wie negative) Zusammenspiel und die Verflechtung verschiedener Akteure, Institutionen, Gruppen und Individuen auf verschiedenen (mit einander zusammenhängenden) Ebenen, wie der ökonomischen, der politischen oder auch der kulturellen. Angetrieben wurde und wird dieser Prozess der „Weltwerdung der Welt“ durch die Expansion und Intensivierung des Kapitalismus (Balibar 2016, 310).
Der Begriff der fiktiven Universalität meint eine Universalität, die in Institutionen und Repräsentationen, die gesellschaftliche Hegemonien produzieren, existiert. Als solche handelt es sich zwar um Konstruktionen, aber nicht um bloß gedachte Gebilde, weshalb der Begriff der Fiktion mit Vorsicht zu verwenden ist. Es handelt sich um „Ideologien“ oder Systeme von Politiken mit Allgemeinheitsanspruch (Universalanspruch). Balibar nennt hier beispielsweise die in der Moderne mit dem Nationalstaat aufgekommene Individualität. Diese steht in der Spannung zwischen Befreiung und Normalisierung, insofern sie einerseits eine Loslösung und Infragestellung ursprünglicher Gemeinschaften und Abhängigkeiten bedeutet (Befreiung), aber auch in Form des Nationalstaats reorganisiert wird (Normalisierung).
Die ideale Universalität nennt Balibar auch ein „subversives Element“.Mit der idealen Universalität bezeichnet er die Bewegung d.h. das Ringen um Gleichfreiheit (fr.: egaliberté). Gleichfreiheit ist ein Neologismus, der einen notwendigen Zusammenhang der Begriffe der Gleichheit und der Freiheit ausdrücken soll. Es handelt sich um eine Gleichheit, die nicht ohne Freiheit und eine Freiheit, die nicht ohne Gleichheit existieren kann. Das entscheidende ist, dass das Anliegen der Gleichfreiheit prinzipiell grenzenlos und in diesem Sinne universal ist. Doch diese ideale Universalität bzw. ihre Träger sind keine, die immer schon existieren. In diesem Aspekt ist die Intuition der Postkolonialen Theologie richtig, wenn sie den allgemeinen Begriff des/der Armen für inadäquat hält. Balibar weist aber darauf hin, dass die ideale Universalität und ihre Träger als Kollektiv konstituiert werden müssen: „Es gibt gegen die herrschende Universalität oder gegen das bestehende System der Politik keine spontane, gewissermaßen natürliche Front der ‚Ausgegrenzten‘ oder ‚Minoritäten‘ […]. Das bedeutet keineswegs, dass eine solche Einheit unter bestimmten Umständen nicht existieren kann. Sie muss eben hergestellt werden, und sie muss Gegenstand einer Entscheidung sein.“ (Balibar 2006, 313 f.) Balibar geht davon aus, dass den anderen beiden Universalitäten bzw. ihren destruktiven Formen nur durch eine andere – ideale – Universalität begegnet werden kann. Man könnte deshalb auch von einem „Universalismus von unten“ sprechen, da er von der „Basis“ her proklamiert wird und sich von dort aus entwickeln will.
In vielen Universalismuskritiken scheint man sich u.E. vor allem auf das, was Balibar unter „fiktiver Universalität“ versteht, zu beziehen. Dabei gerät aber faktisch einerseits der Aspekt der realen Universalität als praktisch stattfindende Weltwerdung und Vergesellschaftung aus dem Blick (Ökonomismusvorwurf). Um diese zu begreifen, bedarf es aber gerade auch ein Verständnis von politischer Ökonomie. Andererseits wird mit der vorschnellen Ablehnung universalistischen Denkens auch so etwas, wie eine „ideale Universalität“, die notwendig ist, um ein Konzept, wie das der Gleichfreiheit (und damit das der Solidarität) entwickeln zu können, über Bord geworfen. Damit kommt notgedrungen die Frage auf, wie denn ein emanzipatorischer Anspruch verwirklicht, d.h. auch organisiert werden soll. Wie sind Allianzen denkbar und wie verhalten sich unterschiedliche emanzipatorische Ansprüche zueinander? Vor diesem Hintergrund scheint der Verweis darauf, dass beispielsweise „die Armen“ aus einer Vielfalt bestehen und jene sich nicht unter diesen Begriff subsumieren lassen, auf „halbem Wege stehen zu bleiben“. Denn gerade weil der Akteur dieses Begriffs (z.B. die Armen) oftmals nicht existiert, besteht die Herausforderung darin, diesen Akteur zu konstruieren, d.h. zu organisieren. Das ist selbstverständlich keine Aufgabe der Theorie, sondern eine politisch-organisatorische Tätigkeit. Die Theorie und auch die Theologie können aber für diese politisch-organisatorischen Prozesse (und aus ihnen heraus!) Begriffe, Analysen, Konzepte und Kritiken zur Verfügung stellen, statt das „komplexe Universum“ (Gutiérrez) bloß affirmativ zu spiegeln. Dann Bedarf es auch keiner Absage an Begriffe wie Befreiung, Solidarität, Reich Gottes usw., stattdessen steht eine Befreiungstheologie weiterhin und immer wieder aufs Neue vor der Herausforderung diese Begriffe zu einander und vor allem zu einer, wenigstens potentiellen oder notwendigen, militanten christlichen Praxis in ein Verhältnis zu setzen. So zeigt sich auch, dass das Verhältnis von Befreiungstheologie und Postkolonialer Theologie weniger als wachsender Baum im Sinne des harmonisierenden Narrativs interpretiert werden kann, sondern als durchaus spannungsreich, kontrovers und mitunter unverträglich, sobald der Paradigmenwechsel des cultural turn kritisch beleuchtet wird.
Literatur
Étienne Balibar (2006): Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, Hamburg.
Étienne Balibar (2016): Des Universels. Essais et conférences, Paris.
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Alex Demirović (2015): Wissenschaft oder Dummheit? Über die Zerstörung der Rationalität in den Bildungsinstitutionen, Hamburg.
Musa W. Dube (2013): Postkolonialität, feministische Räume und Religion, in: Andreas Nehring – Simon Tielesch (Hg.) (2013): Postkoloniale Theologie. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen, Band 11), Stuttgart, 91-111.
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Raúl Fornet-Betancourt (1996b): Befreiungstheologie. Kritischer Rückblick und Perspektiven für die Zukunft (Bd. 2). Kritische Auswertung und neue Herausforderungen, Mainz.
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Kwok Pui Lan (2013): Farbcodierungen für Jesus. Ein Interview mit Kwok Pui-lan, in: Andreas Nehring – Simon Tielesch (Hg.) (2013): Postkoloniale Theologie. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen, Band 11), Stuttgart, 112-122.
Andreas Nehring – Simon Tielesch (Hg.) (2013): Postkoloniale Theologie. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen, Band 11), Stuttgart.
Gustavo Gutiérrez (1993): Gott oder das Gold. Der befreiende Weg des Bartolomé de las Casas, Freiburg i. B.
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Daniel Franklin Pilario (2016): Sehen-Urteilen-Handeln? Eine methodologische Revision, in: CONCILIUM 52 (2016/1), 69-77.
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Michael Ramminger (1998): Mitleid und Heimatlosigkeit. Zwei Basiskategorien einer Anerkennungshermeneutik, Luzern.
Michael Ramminger (2017): Universalität und Pluralismus. Anfragen an die Befreiungstheologie, in: Gmainer-Pranzl, Franz/Lassak, Sandra/Weiler, Birgit (Hg.): Theologie der Befreiung heute. Herausforderungen, Transformationen, Impulse, Salzburg. (Noch nicht erschienen)
Mayra Rivera Rivera (2013): Ränder und die sich verändernde Spatialität von Macht. Einführende Notizen, in: Andreas Nehring – Simon Tielesch (Hg.) (2013): Postkoloniale Theologie. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen, Band 11), Stuttgart, 149-164.
Paulo Suess (2013): Prolegomena zur Entkolonialisierung und zum kolonialen Charakter der Theologie innerhalb der Kirche. Aus einer lateinamerikanischen Perspektive, in: CONCILIUM 49 (2013/2), 190-199.
R. S. Sugirtharajah (2013a): Konvergente Trajektorien? Befreiungshermeneutik und postkoloniale Bibelkritik, in: Andreas Nehring – Simon Tielesch (Hg.) (2013): Postkoloniale Theologie. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen, Band 11), Stuttgart, 51-69.
R. S. Sugirtharajah (2013b): Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion un Konstruktion in biblischer Interpretation, in: Andreas Nehring – Simon Tielesch (Hg.) (2013): Postkoloniale Theologie. Bibelhermeneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge (ReligionsKulturen, Band 11), Stuttgart, 123-144.
Fernando Torres Millán (2017): Von Lehrern, Missionarinnen, Priestern und Revolutionären. Verschiedene Ursprünge der Befreiungstheologie in Kolumbien, 37-62, in: Philipp Geitzhaus/Julia Lis/Michael Ramminger (Hg.): Auf den Spuren einer Kirche der Armen. Zukunft und Orte befreienden Christentums, Münster.
Die AutorInnen:
Cordula Ackermann, geb. 1988, studierte Katholische Theologie in Bonn, Münster und Madrid. Sie ist Mitarbeiterin des Instituts für Theologie und Politik (ITP), das Theologie im Kontext sozialer Bewegungen praktiziert. Ihre Schwerpunkte sind befreiungstheologische Bildung sowie feministische Theorie und Theologie.
Philipp Geitzhaus, geb. 1988, ist Mitarbeiter am Institut für Theologie und Politik und studiert(e) katholische Theologie und Philosophie in Bonn, Madrid und Münster. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Neue Politische Theologie, Kirche der Armen, Poststrukturalismus. Zuletzt herausgegeben zusammen mit Julia Lis und Michael Ramminger: Auf den Spuren einer Kirche der Armen. Zukunft und Orte befreienden Christentums, Münster 2017.