Artikel von Charlotte Cremer, Berlin
„Walter Benjamin könnte seinerseits für uns zum Engel der Geschichte werden“, aber zu einem noch einmal erneuerten, der uns lehrt, sich aus der Starre kapitalistischer Zerstörung zu befreien“, schreiben Kuno Füssel und Michael Ramminger in ihren einleitenden Worten zum kürzlich herausgegebenen Sammelband (Füssel/Ramminger 2021:9). Auch aus feministischer Perspektive lohnt es sich, das sprengende Potenzial der benjaminschen Tradition für das Gegenwärtige zu nutzen.
Eine geschichtsphilosophische Interpretation von Silvia Federicis „atemberaubende[r] Rekonstruktion der Hexenverfolgungen“ (von Redecker 2020:30) in Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation (2017) nach Walter Benjamin kann uns dafür Hinweise liefern. Denn Federici fügt der emanzipatorischen Geschichtsphilosophie Benjamins eine feministische Perspektive hinzu, indem sie Geschichte „vom Standpunkt der Reproduktion des Kapitals aus [denkt]“ (Haug 2015: 26). Andersherum hilft Benjamins Geschichtsphilosophie dabei, das emanzipatorische Potenzial von Federicis Geschichtsschreibung zu verdeutlichen und zu vergrößern.
Walter Benjamin entwirft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Geschichtsphilosophie, die versucht, die politischen Entwicklungen seiner Zeit zu fassen. Beeinflusst vom Erstarken des Faschismus und des Nationalsozialismus, das ihn selbst ins französische Exil zwingt, verfasst er 1940 die Thesen Über den Begriff der Geschichte. Sie vereinen sowohl seine im Passagenwerk (1927-1940) in einen marxistischen Begriffsrahmen gegossene Kapitalismuskritik als auch die in Kapitalismus als Religion (1921) theologisch formulierte Kritik am Kapitalismus. Mit der Entwicklung eines eigenen historisch materialistischen Begriffs von Geschichte weisen die Thesen über eine einfache Kapitalismuskritik jedoch weit hinaus.
Federici wiederum rekonstruiert in einem zeitlichen Bezugsrahmen vom 12. bis ins 18. Jahrhundert die Entstehung des Kapitalismus mit besonderem Fokus auf den Hexenverfolgungen, die in Europa mit einem Höhepunkt zwischen 1580 und 1650 (Federici 2017:224) und der sogenannten Neuen Welt stattfanden. Silvia Federici bringt sie in Verbindung mit der sogenannten ursprünglichen Akkumulation nach Marx (ebd.: 10f.). Ihr zufolge hängen die Hexenverfolgungen eng mit der zeitgleichen Entwicklung einer neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung zusammen, die mit der Entstehung des Kapitalismus einherging. Durch diese wurden die Frauen durch einen gewaltvollen Prozess auf unentlohnte Reproduktionsarbeit festgelegt (ebd.: 20). Dem zugrunde liegt die Auffassung, dass Frauen in Form von Aufständen und in Form von Unverfügbarkeit maßgeblichen Widerstand gegen die Ausbreitung kapitalistischer Verhältnisse leisteten: in der feudalen Gesellschaft war Männern der persönliche Besitz an Frauen erschwert, weil sie selbst mehr über ihre Körper und Reproduktion verfügten als in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft. Dieser Widerstand und die Macht über den weiblichen Körper und Reproduktion mussten gebrochen werden, um das dem Kapitalismus spezifische „Patriarchat des Lohnes“ zu instaurieren (ebd.: 213).1 Den Landenteignungen der Bauern kamen die Hexenverfolgungen als Enteignungen der Frauen von ihren eigenen Körpern gleich (ebd.: 228). Zur Folge hatte das nicht nur eine Ausmerzung bisher existierender Weiblichkeiten (ebd.: 228ff.) und die Konstruktion einer neuen Weiblichkeit (ebd.: 79-166), sondern auch eine Spaltung des neu entstehenden Proletariats in Männer und Frauen als Ungleiche. Nicht, dass es diese Spaltung nicht früher schon gegeben hätte, aber sie wurde vertieft, rekonfiguriert und bislang mögliche Formen der Solidarität zwischen Geschlechtern einer kämpfenden Klasse unterbunden (ebd.: 207 und 234f.) Frauen hatten nun als eigene Klasse zu kämpfen. Ebendiese Spaltungen sieht Federici als essenziell für das Fortbestehen des Kapitalismus an (ebd.: 25 und 82) und ebendeshalb meint sie, „dass die Hexenverfolgungen weniger an der Bestrafung bestimmter Verstöße als an der Ausmerzung verallgemeinerter weiblicher Verhaltensweisen interessiert waren“ (ebd.: 213). Konkret lässt sich das mit Federici wie folgt ausdrücken:
„[E]s war nicht nur die deviante Frau, sondern die Frau als solche, und insbesondere die Frau aus den Unterklassen, die vor Gericht gestellt wurde“ (ebd.: 229).
Allgemeiner lässt sich festhalten, dass Kontinuität und Diskontinuität gleichzeitig existieren in Federicis Geschichtsdarstellung. Zum einen interpretiert sie „die Vergangenheit als etwas in der Gegenwart Fortbestehendes“ (ebd.: 17), ohne eine gesetzmäßig ablaufende Entwicklung der Geschichte anzunehmen, zum Anderen verweist sie auf die Brüche und Diskontinuitäten der Geschichte (ebd.: 81f.).
Dafür bewegt sich ihre Geschichtsschreibung in einem Spannungsverhältnis von Rekonstruktion von bereits vorhandenem Material und dem Graben nach in den Schichten der Geschichte Verschüttetem.
Insofern teilen Federici und Benjamin einen gleichen Geschichtsbegriff. Es handelt sich um einen Geschichtsbegriff, der sich eines materialistischen Geschichtsverständnisses und einer grundlegenden Fortschrittskritik bedient, den die beiden in Frontstellung zu Historismus und idealistischen Geschichtsschreibungen entwickeln. Darunter fallen bei Federici die Frauengeschichtsschreibung und die foucaultsche sowie marxsche Historiographie, bei Benjamin der marxistische Geschichtsbegriff in Weiterentwicklung Marxens und insbesondere jener der zweiten Internationale. Statt des Fortschrittspardigmas bedienen sie sich einer, von Benjamin genannten Aktualisierung der Vergangenheit, die die Gegenwart in eine kritische Lage bringt. Die kritische Lage bedeutet die Möglichkeit, die Gegenwart zu überwinden. Diese Aktualisierung drückt sich im dialektischen Bild aus, als welches das Bild der Hexe von Federici interpretiert werden kann und welchem eine Erkenntnis der Gegenwart innewohnt, die die Möglichkeit auf eine Befreiung unserer selbst aus dieser Gegenwart beinhaltet. Aktualisierung bedeutet an bestimmte widerständige Traditionen der Vergangenheit in der Gegenwart anzuknüpfen und geht mit einer notwendigen Erinnerung an ebendiese Vergangenheit einher. Dafür bedienen sie sich einer Konstruktion von Geschichte, die sich aus einer spezifischen Erfahrung speist. Das Spannungsverhältnis aus Rekonstruktion und Suche nach Verschüttetem wird in einem solchen Geschichtsbegriff aufgehoben.
Die Position, die Federici als Historikerin einnimmt, ist wesentlich gekennzeichnet durch die gegenwärtige Anteilnahme am historischen Geschehen und die Erinnerung an eine Tradition des Widerstandes. Das ist, was die spezifische Erfahrung mit der Vergangenheit ausmacht. Diese Anteilnahme entscheidet ganz im Sinne Benjamins über die Darstellung der historischen Akteur_innen und Geschehnisse. Sowohl Benjamin als auch Federici schreiben aus der Perspektive der Unterdrückten, das heißt des Proletariats und, im Falle Federicis, der Frauen. Einziges Auswahlkriterium für die zu erzählenden Ereignisse bleibt ihr sprengendes Potenzial sowohl der gegenwärtigen Verhältnisse als auch der Geschichte der Sieger.
Dieses Potenzial muss aktiv freigelegt werden: Die materialistische Geschichtsschreibung nach Benjamin sprengt die Gegenstände aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs, um sie vor der „Überlieferung, die Katastrophe ist“ (Benjamin 2015a: 591, N9,4) zu retten. Schonungslos wird mit Ekrasit, d.h. Sprengstoff, Hand an die Vergangenheit angelegt (ebd.: 593, N9a,6), um den Sprengstoff, der im Gewesenen liegt zur Entzündung zu bringen (ebd.: 495, K2,3). Der Sprengstoff ist Hoffnung und Widerstand. Die Explosion, die folgt, ist Bild, Erkenntnis, Erwachen. Ebendiese materialistische Geschichtsschreibung ist bestrebt, die Vergangenheit nicht in die Gegenwart hinein zu verlängern, sondern im Bild ein revolutionäres Moment zu schaffen, welches beide zu einem Ende bringt (ebd.: 592, N9a,5f.). Ein ebensolches Bild ist jenes der Hexe, das Federici schafft. Sie konstruiert ein Bild der Hexe als rebellische Frau,
„die Widerworte gab, stritt, fluchte und bei der Folter nicht in Tränen ausbrach […]; stets bereit, die Initiative zu ergreifen, ebenso aggressiv und herzhaft wie die Männer, Männerkleider tragend oder stolz auf dem Rücken ihres Ehemannes reitend, die Peitsche in der Hand.“ (Federici 2017: 228f.)
Dabei geht es ihr nicht darum, zu beschreiben, „wie es denn eigentlich gewesen ist“ (Benjamin 2015b: 81, sechste These), denn die genannten Beschreibungen sind Zitate mittelalterlicher Moralitäten und Fabliaux und enthalten vermutlich einiges an Fantasie, sondern vielmehr darum die Gegenwart in eine ganz bestimmte Tradition der Vergangenheit zu stellen: eine Tradition widerständiger Frauen.
Die Erkenntnis über die spezifische Vergangenheit wie Gegenwart, die diesem dialektischen Bild innewohnt, geht mit einem Impetus des Handelns einher: mit dem bisherigen Geschichtsverlauf und dem damit verbundenen Leiden muss gebrochen werden und dies durch weltweiten Widerstand. Spricht Benjamin von einer notwendigen Erlösung der Menschheit von dieser Geschichte, so meint er es im federicschen Sinne: es gilt nicht auf den Messias zu warten, sondern uns selbst aus der Geschichte zu befreien, in dem wir Hand an sie anlegen.
Die geschichtsphilosophische Interpretation Silvia Federicis Caliban und die Hexe nach Walter Benjamin lehrt uns, dass einzig ein materialistischer Geschichtsbegriff, der statt Fortschritt Aktualisierung will, die Möglichkeit bietet, den „Zwang zur Wiederholung“ einer „Geschichte des Weiblichen“ aufzuheben (dem die Geschichtsvergessenheit der feministischen Bewegungen ebendiese anheim gegeben hat) und gleichzeitig mit der fortschrittsoptimistischen Erzählung sowohl über feministische Emanzipation als auch ihr Gegenteil, einer fortschrittsoptimistischen Erzählung von Geschichte ohne Frauen zu brechen. Der Schein der Wiederholung und der dogmatische Fortschrittsglaube werden durch den materialistischen Geschichtsbegriff Benjamins, der bei Federici vorhanden ist, als zwei Seiten der selben Medaille deutlich. Diese Medaille ist ein falscher Begriff von Geschichte, den es aufzuheben gilt, sodass wir zu einem Begriff von Geschichte kommen können, der uns eine Erkenntnis der Gegenwart und der ihr innewohnenden Vergangenheit ermöglicht. Diese Medaille ist das „Immergleiche“, das es zu sprengen gilt, um das Andere möglich zu machen.
Die Perspektive der Unterdrückten bzw. des Weltproletariats und der Frauen als zweier Klassen auf ihre Geschichte ermöglicht ebenso die Entwicklung eines Kriteriums für die Auswahl der zu erzählenden Ereignisse: ihr emanzipatorisches Potenzial im Sinne einer ihnen innewohnenden Erkenntnis über die Gegenwart und die Ermutigung der für Befreiung Kämpfenden. Das heißt nicht, dass der Zwang und das Leid, welches in der vergangenen wie gegenwärtigen Herrschaft stecken, nicht erzählt werden sollten. Es scheint mehr eine Frage der Gewichtung: Das aufhebende Moment ist nach Benjamin gegenüber der Herrschaftsdarstellung zu priorisieren. Das ist, was bei Federici in der minutiösen Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus teilweise untergeht und mithilfe Benjamins verstärkt hervorgehoben werden kann. Eine feministische Geschichtsschreibung in der Tradition dieser Interpretation hat Benjamins Messianismus deutlicher umzusetzen. Trotzdem setzt Caliban und die Hexe der Kultreligion des Kapitalismus im Benjaminschen Sinne etwas entgegen. Denn wenn die Religion des Kapitalismus nicht mehr Reform des Seins, sondern dessen Zertrümmerung ist, dann ist Caliban und die Hexe in der geschichtsphilosophischen Interpretation nach Benjamin die Zertrümmerung dieser verschuldenden Religion und die Rekonstituierung des weiblichen Seins als politischem, potentiell revolutionärem Subjekt.
Quellenverzeichnis
Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, hrsg. von Tiedemann, Rolf, Frankfurt a.M. 1982, 9. Aufl. 2015a.
Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen, in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse, Frankfurt a.M. 1965, 13. Aufl. 2015b, S. 78-94.
Benjamin, Walter: Kapitalismus als Religion, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann, Frankfurt a. M., 1. Auflage 1991, Bd. VI, S. 100 – 102.
Federici, Silvia: Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation, übers. von Henniger, Max/hrsg. von Birkner, Martin, Wien, Berlin 4. Aufl. 2017 (engl.: 2004).
Füssel, Kuno/Ramminger, Michael (Hrsg.): Kapitalismus: Kult einer tödlichen Verschuldung. Walter Benjamins prophetisches Erbe, Münster 2021.
Haug, Frigga: Herstory: „Wir wollten, dass sich alle befreien“, in: an.schläge. Das feministische Magazin, Wien 4/2015, S. 26-27.
von Redecker, Eva: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt a.M. 2020.
Anmerkung:
1Das „Patriarchat des Lohnes“ definiert sie folgendermaßen: die Unmöglichkeit für Frauen über eigenes Geld zu verfügen, ob als an sie ausgezahlten Lohn oder auf ihren Namen verzeichnetes Eigentum, in einer Gesellschaft, die nicht mehr auf Subsistenzwirtschaft, sondern auf Geldwirtschaft beruht (Federici 2017: 94), schafft die materiellen Bedingungen für die Abhängigkeit der Frauen von den Männern und ihre daraus folgende Unterordnung sowie Aneignung ihrer Arbeit (ebd.: 125) und ihrer Körper (ebd.: 228). Allerdings stellt Federici auch die mittelalterliche Dorfgemeinschaft als eine ungleicher Menschen heraus, die trotz kollektiver Arbeits- und Lebensformen nicht idealisiert werden sollte (ebd.: 33). Auch die feudale Gesellschaft war eine patriarchale, in der Frauen unterdrückt wurden. Allerdings wurden sie das anders als sie es in der kapitalistischen werden. So sieht Federici die Unterdrückung primär durch die Kirche und den Lehnsherr hervorgerufen und nur sekundär durch die eigenen männlichen Verwandten und die Arbeitsteilung (ebd.: 34). Die vergeschlechtlichte Sphärentrennung der Arbeit war in einer auf Subsistenzwirtschaft aufbauenden Gesellschaft nicht essenziell und daher weit weniger ausgeprägt.