2025 ist in 2. Auflage das Buch von Urs Eigenmann/Kuno Füssel/Franz J. Hinkelammert (Hg.) erschienen: Der himmlische Kern des Irdischen. Das Christentum als pauperozentrischer Humanismus der Praxis, Luzern 22025. In ihm behandelt Urs Eigenmann die Wende vom messianisch-biblischen Christentum zur staatsreligiösen, platonisierten Orthodoxie im Konzil von Nizäa und der konstantinischen Wende. Das Buch kann im ITP bestellt werden.
Dr. Urs Eigenmann
1 Die Heilige Schrift muss die Seele der Theologie sein
Gemäss dem Vatikanum II muss die Heilige Schrift die Seele der gesamten Theologie sein (vgl. OT 16), und steht das Lehramt nicht über dem Wort Gottes (vgl. DV 10). Vor diesem Hintergrund verstehen sich die folgenden Überlegungen angesichts des 1700-Jahrgedenkens an das Konzil von Nizäa. Sie sind von der Frage geleitet, wie die faktische Entwicklung des Christentums in den ersten Jahrhunderten im Licht der Forderungen des Vatikanum II zu beurteilen ist. Das erste Konzil wird im Licht des einundzwanzigsten gelesen.
2 Justins Logosrezeption als Wende zur Platonisierung des Christentums
Justin der Märtyrer (gest. um 165) identifizierte als bedeutendster Apologet des Christentums Jesus Christus mit dem göttlichen Logos der mittelplatonischen Philosophie. Für deren führenden Vertreter Philo von Alexandrien war der Logos die eigentliche Offenbarung Gottes. Indem Justin Jesus Christus mit diesem Logos identifizierte, ging es ihm nicht mehr um die Reflexion des tödlichen Konflikts zwischen dem Reich-Gottes-Zeugen Jesus und der Pax Romana. Vielmehr spekulierte er über Jesu Geburt aus einer Jungfrau und seine Präexistenz. Damit wollte er das Christentum als anschlussfähig an den hegemonialen Mittelplatonismus ausweisen. In der Folge wurde nicht mehr der historische Konflikt zwischen Jesus und der Pax Romana reflektiert. Die Konfliktlinie wurde zu folgenden Spekulationen hin verschoben: Christologisch-intrapersonal über das Menschliche und Göttliche in Jesus Christus; trinitätstheologisch-interpersonal über die Relationen von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist; ekklesiologisch ad intra über das Verhältnis von Laien und Klerus sowie von Orthodoxie und Häresie und ad extra über das Verhältnis zu den Juden und zur Welt. Justins Logosrezeption war als Platonisierung des christlichen Denkens die zentrale Weichenstellung in der Geschichte des Christentums. Sie war im zweiten Jahrhundert die theologisch-philosophische Wende, die im vierten die konstantinische ermöglichte. Sie stellte eine Verkehrung des Christentums in eine offenbarte Lehre dar (Friedrich Loofs). Sie bedeutete eine Veränderung der theoretischen Denkweise durch die Verdrängung des historischen Denkens durch das spekulative (Jon Sobrino). Sie bestand im Austausch des kategorialen theoretischen Rahmens (Urs Eigenmann). Der jüdisch-biblisch-historische kategoriale Rahmen im Dienst einer messianischen Nachfolgepraxis wurde ersetzt durch den griechisch-philosophisch-spekulativen kategorialen Rahmen im Dienst einer dogmatischen Lehre. Die platonische Philosophie war nun die domina theologiae (Urs Eigenmann). Über die Logosrezeption hinaus stellte Justin als erster Häresiologe und erster Antijudaist entscheidende Weichen für den Weg zur nizänischen Orthodoxie und zum nizänischen Christentum (Daniel Boyarin).
3 Die Konstantinische Wende als Imperialisierung des Christentums und dessen Thermidor
Die Reich-Gottes-Bewegung (John Dominic Crossan) wurde im Römischen Reich als atheistische und staatgefährdende zeitweise blutig verfolgt und war eine religio illicita. Galerius stellte 311 die Verfolgung der Christen ein. Das Christentum wurde eine religio licita. Den Sieg über seinen Rivalen Maxentius in der Schlacht an der Milvischen Brücke errang Konstantin 312 im Zeichen des Kreuzes und des Christusmonogramms. Standen diese Zeichen zunächst für die Verwerfung des das Imperium bedrohenden Jesus, wurden sie jetzt zu Zeichen, in denen der das Imperium beherrschende Kaiser seine Macht festigte. Der Exponent des Imperiums eignete sich das Zeichen von dessen Opfer an. Mehr Verkehrung geht nicht. Im Mailänderprotokoll von Konstantin und Licinius wurde den Christen 313 die freie Ausübung ihrer Religion zugesagt. Danach trieb Konstantin die Christianisierung des Reiches entscheidend durch das Sonntagsgesetz vom Jahr 321 voran. Der zentrale Ort christlicher Präsenz war von da an nicht mehr die messianische Nachfolgepraxis, sondern der religiöse Kult (Franz Schupp). Diese Verkultung des Glaubens bedeutete eine Abkehr von Jesus, der das Heil entsakralisiert hatte (Joseph Moingt) und widersprach dem Reich-Gottes-Verständnis Jesu, das mit keinem Element einer traditionellen Religion (wie Bekenntnis, Kult, priesterliche Vermittlung oder Trennung von sakral-profan) verbunden war. Der in der Gerichtsrede des Matthäus (vgl. Mt 25,31-44) bezeugte viktimozentrische Humanismus der Praxis (Urs Eigenmann) wurde zur Reichsreligion verkehrt. «Die Christianisierung des Imperiums war in Wirklichkeit eine Imperialisierung des Christentums» und dessen «Thermidor» (Franz Hinkelammert).
4 Das Konzil von Nizäa als Moment der Konstantinischen Wende

Seit Justin hatte sich eine breite christologische und theologische Debatte entfaltet. Das führte zu Konflikten und Spaltungen in der Kirche und bedrohte die Einheit des Reiches. Zur Klärung der anstehenden Differenzen berief Kaiser Konstantin 325 das Konzil von Nizäa ein. Als Bischof aller Untertanen eröffnete er es und promulgierte seine Beschlüsse zu Reichsgesetzen. Mehr Einheit von Imperium und Kirche geht nicht. Das Konzil von Nizäa verabschiedete ein Glaubensbekenntnis. Im Licht der Forderungen des Vatikanum II zeigt sich: Das Nizänische Glaubensbekenntnis bekennt mit dem «einen Gott, Vater, Allherrscher, Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren» nicht den biblisch bezeugten Gott, der angesichts des Elends, der Klagen und des Leids seines Volkes in Ägypten seine solidarisch Wo- und seine befreiende Wie-Identität offenbart, wenn er herabsteigt, um das Volk der Hand der Ägypter zu entreissen und es in ein schönes Land hinaufzuführen (vgl. Ex 3,7 f.) und dann Moses zum Pharao sendet und ihm aufträgt, sein Volk aus Ägypten herauszuführen (vgl. Ex 3,10). Die Namensoffenbarung Jahwes in Ex 3,14 «Ich werde da sein, als der ich da sein werde» (Übersetzung Martin Buber) darf nicht losgelöst von den vorangehenden Versen ontotheologisch missverstanden werden. Der Gott des Nizänischen Glaubensbekenntnisses ist nicht der Gott, der auf der Seite der Unterdrückten, Hungernden, Gefangenen, Blinden, Gebeugten, Fremden, Waisen und Witwen steht (vgl. Ps 146, 7-9).
Das Nizänische Glaubensbekenntnis bekennt mit dem «einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, geboren aus dem Vater als Einziggeborener, … wesensgleich mit dem Vater, … der Fleisch wurde und Mensch, gelitten hat und auferstanden ist am dritten Tag, aufgestiegen ist und in die Himmel kommt, zu richten Lebende und Tote» nicht den Jesus von Nazareth der Evangelien. Dieser kündigte das nahe gekommene Reich Gottes an, forderte zur Umkehr und zum Glauben an das Evangelium auf (vgl. Mk 1,14 f.), rief Jünger in seine Nachfolge (vgl. Mk 1,16 par), sandte sie aus, das Reich Gottes zu verkünden und Kranke zu heilen (vgl. Lk 9,2) und lud sie ein, zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen (vgl. Mt 6,33). Das Bekenntnis zu einem Jesus ohne Reich Gottes und ohne Nachfolge bedeutet eine «personalistische Begrenzung des Glaubens» (Jon Sobrino). Das hatte zur Folge, dass der christliche Glaube Jahrhunderte hindurch nicht gegen Verhältnisse protestierte, die unvereinbar mit dem Reich Gottes sind. Zu den verheerenden Folgen von Nicäa gehört für die Juden ihre Diffamierung, wenn das Konzil nichts zu tun haben will «mit dem verhassten Haufen der Juden». Die Ablehnung der Juden wurde zu deren Vernichtung radikalisiert, indem der Kreuzestod Jesu uminterpretiert wurde. War die Kreuzigung Jesu für seine Jüngerinnen und Jünger ein Gründungsmartyrium, das sie ermutigte, Jesus nachzufolgen, wurde sie für das Bündnis von Kirche und Imperium zum Gründungsmord, der begründete, die vermeintlichen Gottesmörder und alle deren Nachkommen zu ermorden (Franz Hinkelammert). Der christliche Antijudaismus ist eine Folge der Konstantinischen Wende und mitverantwortlich für die Shoah und die bis heute anhaltende Diskriminierung von Jüdinnen und Juden. Erst die Erklärung Nostra aetate des Vatikanum II sagte jeder Form von Antijudaismus ab.
5 Innere Zerrissenheit des Christentums bis in die Gegenwart
In den ersten Jahrhunderten entwickelte die Reich-Gottes-Bewegung zwei unterschiedliche Selbstverständnisse. Zunächst ein skriptural-bibelbezogenes durch die Bildung des Kanons der biblischen Schriften. Danach mit Beginn auf dem Konzil von Nizäa ein magisterial-lehramtliches. Spätestens seit der Konstantinischen Wende muss zwischen einem prophetisch-messianischen, am kategorialen Rahmen der Bibel orientierten Christentum und einer imperialen und später zudem kolonisierenden, am kategorialen Rahmen platonischer Philosophie ausgerichteten Christenheit unterschieden werden (Urs Eigenmann). Dieser Unterscheidung entsprechen jene von echtem und entstelltem Christentum (Ernst Bloch) bzw. von befreiender und dekorativer Theologie (Franz Hinkelammert). Dass die «Christianisierung des Imperiums in Wirklichkeit eine Imperialisierung des Christentums ist», zeigte sich bereits fünf Jahre nach seiner Etablierung zur Staatsreligion durch Kaiser Theodosius. Im Jahr 385 kam es in Trier zu einem Prozess gegen den spanischen Bischof Priszillian und dessen Anhänger, die kirchenkritisch waren und asketisch lebten. Sie wurden trotz des Protestes der Bischöfe Martin von Tours und Ambrosius von Mailand wegen Magie zum Tod verurteilt und hingerichtet. Zum ersten Mal wurden Christen nicht mehr von heidnischen Römern hingerichtet, sondern jetzt liessen Christen Christen ermorden. Von da an zog sich eine blutige Spur durch die ganze Geschichte aller Konfessionen. Bis heute ist das Christentum zerrissen: In der römisch-katholischen Kirche diabolisierte Joseph Ratzinger als Papst Benedikt XVI. in seinem Jesusbuch das Reich Gottes, wogegen es für seinen Nachfolger Papst Franziskus in Evangelii Gaudium zentral ist. In der Orthodoxie vertreten mit Kyrill von Moskau und Bartholomäus von Konstantinopel zwei Patriarchen gegensätzliche Positionen angesichts von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Im Protestantismus der USA stehen sich in Bezug auf Donald Trump die Positionen des Reverend Lorenzo Semell, der Trumps Politik befürwortet, und jene der Bischöfin Mariann Edgar Buude gegenüber, die Trump ins Gewissen redet.
Literaturhinweis: Urs Eigenmann/Kuno Füssel/Franz J. Hinkelammert (Hg.), Der himmlische Kern des Irdischen. Das Christentum als pauperozentrischer Humanismus der Praxis, Luzern 22025.