Von Andreas Hellgermann
Können wir überhaupt noch verstehen, was dieses alte Wort bedeutet? Wenn wir es lesen, wenn wir es hören, müssen wir in Rechnung stellen, dass wir es in „unserer“ Zeit lesen und hören. Und es fällt leicht zu sagen, ja, diese Welt ist unbarmherzig, ja, diese Welt braucht Barmherzigkeit! Aber verstehen wir damit schon diese Welt? Sie hält eine Falle bereit.
Eine der Grundstrukturen des postmodernen Neoliberalismus lässt sich kennzeichnen als durchgehende Individualisierung. (Dabei sollen weder die Freiheitsgewinne, noch auch die Freuden, ein Individuum zu sein, angezweifelt werden!) Aber diese Individualisierung lässt sich auch kennzeichnen durch einen großen Verlust: There is no society, hatte Thatcher gesagt. Atomisierte Wesen laufen mit individuellen Profilen durch virtuelle oder reale shopping-malls. Und genau das sollen sie auch. So werden sie gebraucht und überall findet man etwas, das genau auf sie zugeschnitten ist: präzise Kaufangebote für den Konsum und passgenaue Beratungssettings für Schule und Beruf und das persönliche Fortkommen. Auch facebook und google spiegeln nur die Meinung, die sie haben sollen …
In diese Welt hinein sprechen wir das Wort „Barmherzigkeit“. Aber der Same dieses Wortes fällt automatisch auf den Boden, der es verdorren und vertrocknen lässt. Ja, natürlich braucht es in dieser Welt eine Haltung! Und sicher: Es ist nicht schlecht, das Gutsein in sich zu verspüren. Selbstverständlich darf nicht die „spirituelle Dimension“ der Barmherzigkeit unter den Tisch fallen. Aber taucht nicht ein Unbehagen auf, die Frage, ob wir nicht an dieser Stelle wieder einmal in die für uns vorbereitete Falle tappen? Werden wir nicht gelenkt und geleitet – von den ersten Portfolioübungen in der Kita über die unausweichlichen Kompetenztrainings der Schule bis hin zu Beratung, Coaching, Supervision und was es noch alles gibt, um unsere Körper und unsere Seelen neoliberal stromlinienförmig und letztendlich erschreckend wenig individuell zu machen. Und auf diesen Boden fällt die Barmherzigkeit!?
Barmherzigkeit ist größer, Barmherzigkeit, dieses altehrwürdige Wort, zielt auf’s Ganze. Barmherzigkeit meint nicht mich. Barmherzigkeit meint alle und alles. Und allein deshalb ist sie ein Gegenbegriff gegen alle individualisierende Traurigkeit dieses neoliberalen Kapitalismus, der uns immer noch als alternativlose Lösung vorgegaukelt wird.
Wie viele andere spricht auch Papst Franziskus von der „ungeschuldeten Barmherzigkeit“. Kennzeichnet nicht genau das das „Gegengift“, das wir brauchen?
Der jüdisch-marxistische Philosoph Walter Benjamin hat mit seinem berühmten kurzen Text „Kapitalismus als Religion“ prägnant und erhellend auf die Funktionsweise des Kapitalismus verwiesen. Der jüdischen Tradition entnimmt er die Religions- und Götzenkritik und verbindet sie mit seiner Gesellschaftsanalyse. Bei ihm wird deutlich, dass man Religion „braucht“, auch um Gesellschaft zu verstehen. Und nur wenn man das macht, wenn man den Kapitalismus aus dieser Perspektive sich zu sehen traut, gelingt es, besser zu verstehen, wie er funktioniert. Eines seiner Kennzeichen, so sagt Benjamin, ist, dass er verschuldet: den ganzen Menschen und alle, die er zu fassen bekommt. Der Kapitalismus, „eine reine Schuldreligion“, ist „vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultes. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung, ein ungeheures Schuldbewußtsein, das sich nicht zu entziehen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu entsühnen, sondern universal zu machen, dem Bewußtsein einzuhämmern … “ Und die Mechanismen, auch darauf weist Franziskus immer wieder hin, alle und alles in diesen Sturz mit hineinzunehmen, sind vielfältig und umfassend. Allein dieser Gedanke würde eine große Aufmerksamkeit verdienen, aber genügt es nicht schon, unsere oberflächlich scheinenden Erfahrungen aus diesem Blickwinkel zu sehen: die Machttechniken, die greifen, um die Menschen bei der Stange zu halten, das Zurückwerfen auf das individualisierte Atom und der offene oder auch versteckte Hinweis, dass du selbst deines Glückes und genauso deines Unglückes Schmied bist!
Barmherzigkeit ist als Gegengift das Gegenteil von Gift! Aber nicht deshalb, weil sie mir einen spirituellen Erfahrungsraum öffnet, mich auf meine zu verbessernde Haltung verweist und meine Seele befreit. Das alles mag schön und gut sein, ist aber nicht das, worum es geht. Ungeschuldete Barmherzigkeit – das wird schon in Benjamins Zuspitzung auf den Kapitalismus als verschuldendem Kult klar – ist nicht weniger als ein Frontalangriff gegen alles, was diesen neoliberalen Kapitalismus zusammenhält. Ungeschuldete Barmherzigkeit greift seinen Kern an. Einer ungeschuldeten Barmherzigkeit geht es um’s Ganze! Das Ganze nicht zu sehen ist ja gerade der Trick, auf den wir reinfallen (sollen). Auf das Ganze hin ausgerichtet zu sein, darauf zu vertrauen jedoch macht unsere biblische Tradition und unseren Glauben aus. Nur so finden wir unsere Schwester und unseren Bruder. Dass dann für meine Spiritualität, meine Haltung, meine Seele etwas übrig bleibt: ein Abfallprodukt. Auch dafür haben wir einen Begriff: Gnade.
Barmherzigkeit – eine Antwort auf die Angst
Am 5. November 2016 hielt Papst Franziskus eine beeindruckende Ansprache vor den zum Dritten Welttreffen der sozialen Bewegungen Versammelten in Rom. In ihr verweist er unter anderem auf den Zusammenhang von Tyrannei, Terror und Angst, die den Reflex der Absicherung bedienen gegen die Ausgeschlossenen, Verbannten und Verschreckten. Und er fragt: „Will Gott, unser Vater, ein solches Leben für seine Kinder? Die Angst wird geschürt, manipuliert … Denn die Angst ist nicht nur ein gutes Geschäft für die Händler von Waffen und Tod, sie schwächt uns, sie wirft uns aus der Bahn, sie untergräbt unseren psychischen und spirituellen Schutz, sie macht uns unempfindlich gegenüber fremdem Leid und schließlich grausam. Sobald wir erfahren, dass man den Tod eines jungen Mannes feiert, der vielleicht den Weg verfehlt hatte, sobald wir erkennen, dass der Krieg dem Frieden vorgezogen wird, sobald wir beobachten, dass Fremdenfeindlichkeit sich ausbreitet, sobald wir feststellen, dass intolerante Pläne an Boden gewinnen; dann verbirgt sich hinter dieser scheinbar massiv sich ausbreitenden Grausamkeit der kalte Hauch der Angst. Ich bitte darum, dass wir für alle jene beten, die Angst haben, dass wir Gott darum bitten, ihnen Mut zu geben und in diesem Jahr der Barmherzigkeit unsere Herzen zu erweichen. Barmherzigkeit ist nicht einfach, nicht leicht … sie erfordert Mut. Daher sagt Jesus uns: ‚Fürchtet euch nicht‘ (Mt 14,27), denn Barmherzigkeit ist das beste Gegenmittel gegen die Angst. Es ist viel besser als alle antidepressiven oder angstlösenden Medikamente. Viel wirksamer als Mauern, Gitter, Alarmanlagen und Waffen. Und es gibt sie umsonst: sie ist ein Geschenk Gottes.“ Eine die Mauern des atomisierten Ich sprengende Barmherzigkeit ist auch eine Antwort auf die Angst.
Die deutsche Übersetzung des ganzen Textes im Wortlaut