Am 4. September 2022 stimmt Chile über eine neue Verfassung ab. Das ITP wird diesen Prozess aufmerksam begleiten
Beitrag von Barbara Imholz (ITP)
Mit Spannung blicken wir nach Chile, wo am 4. September 2022 die Abstimmung über die neue Verfassung stattfinden wird. Warum ist eine Verfassung für einen Politik- und Systemwechsel in Chile wichtig? Ein einmaliger Vorgang und ein cleverer Schachzug der Chicago Boys nach dem Militärputsch 1973 war es, ein neoliberales Wirtschaftssystem bis in die kleinsten sozialen Verästelungen in das politische System einzuschreiben. Es ist darin festgelegt, dass alle Güter wie Bildung, Gesundheit und Altersversorgung, aber auch Wasser- und Stromversorgung qua Verfassung „privat“ organisiert sind. D.h. es gibt kaum politische und soziale Spielräume für Reformen oder gar einschneidende Veränderungen. Eine zentrale Forderung, für die schon 2011 die sogenannten „Pinguine“, die Schüler*innenbewegung, auf die Straße gegangen sind, war: einen sozial gerechten Zugang zu Bildung, sprich zum Schul- oder Universitätsbesuch zu bekommen. Wundert es, dass ein großer Teil der heutigen Aktivist*innen aus dieser Bewegung kommen? Bis hin zum neu gewählten und bis dato jüngsten Präsidenten der chilenischen Geschichte, Gabriel Boric, der zusammen mit Camila Vallejo, beide Mitglieder der Kommunistischen Jugend, zu Gesichtern dieser Schüler*innenbewegung wurden.
Erinnern wir uns: Vorangegangen war 2019 eine Revolte auf der Straße und auf den Plätzen, „Chile despertó“ (Chile ist aufgewacht) ausgelöst durch eine Metropreiserhöhung, gegen das seit 1973 herrschende Pinochet System, seit 1990 im neoliberalen Gewand. Der damalige Präsident Piñera konnte es letztlich nicht verhindern und musste einem Plebiszit, ob es eine neue Verfassung – die zentrale Forderung der Bewegung – geben soll oder nicht, zustimmen. Die Abstimmungsergebnisse waren überwältigend. Die daraufhin folgende demokratische Entscheidung, wer diese Verfassung erarbeiten soll, geschah parallel zur Parlamentswahl 2021, zum sogenannten Verfassungskonvent und stellte eine allgemeine Überraschung dar, weil erstens die Abstimmungsbeteiligung im Gegensatz zur Parlamentswahl sehr hoch war und zum anderen, weil unbekannte Gruppierungen der sozialen Bewegungen den klassischen politischen Vertreter*innen vorgezogen wurden. Seit 2021 arbeitet nun dieser Konvent auf Hochtouren, um sein Ergebnis am 4. September 2022 zur Abstimmung stellen zu können.
Es ist interessant genauer zu verfolgen, warum es offensichtlich möglich war, dass sich in den vergangenen zehn Jahren die diversen Strömungen und politischen Orientierungen innerhalb der sich entwickelnden Protestbewegung darauf verständigen konnten, dass es überhaupt eine neue Verfassung braucht, um politisch etwas in Chile zu verändern. Die Frage, wie es möglich ist, innerhalb eines neoliberal kapitalistischen Systems politisch wirksame Opposition und Alternativen zu entwickeln, beschäftigt uns ja hier auch, vor allem die Klimabewegung. Die offensichtlichen Einhegungsversuche der Grünen sind schnell durchschaut, aber gesellschaftliche Mehrheiten sind dennoch bei uns im Moment nicht in Sicht, einen „system change“ statt „climate change“ – ein Slogan der Klimabewegung – herbeizuführen. Genau dies können wir vielleicht von Chile lernen.
Aber wen wundert es? Die Herrschende haben zum Gegenangriff mobilisiert und man weiß, welche mediale Macht sie verkörpern. Seit Wochen laufen in den öffentlichen Medien Umfrageergebnisse, die suggerieren, dass es nicht zu einer Mehrheit bei der Abstimmung kommen wird. So etwas schürt Zweifel und verunsichert. Entsprechend der medialen Logik wissen wir, dass Abstimmungen davon leben, dass man ein Teil der Menge sein möchte. Und ist es nicht auch bekannt, dass sich Verzagtheit über den eigenen Mut, seine Geschicke selbst in die Hand nehmen zu wollen, schnell breit machen kann? Die Mitglieder der Constituiente, der Verfassung gebenden Versammlung, stemmen sich mit aller Kraft dagegen und sie und ihre Unterstützer*innen kämpfen wie die Löw*innen. Was passiert, wenn der Verfassungsentwurf abgelehnt wird? Es gibt zwei Möglichkeiten: Die eine ist eine tiefe Depression, die einen Zyklus von Jahrzehnten sozialer Mobilisierung zum Ende bringt, oder es folgt eine neue Welle der Revolte auf der Straße. Beides wirft eine grundsätzliche Erneuerung der chilenischen Gesellschaft, selbst wenn sie die globale kapitalistische Weltordnung nicht gleich auf den Kopf stellen können wird, um Jahre wenn nicht Jahrzehnte zurück.