Von Leonardo Boff
Die neue Enzyklika von Benedikt XVI „Caritas in Veritate“ vom 9. Juli 2009 ist eine Stellungnahme der Kirche zu den aktuellen Krisen. Das Gesamt der Krisen, die die Menschheit und das ganze System des Lebens bedrohen, erforderte einen prophetischen Text, der die Dringlichkeit deutlich machen würde. Das, was wir erhalten haben, ist etwas anderes; es handelt sich um eine lange und detaillierte Reflexion über das ganze Spektrum aktueller Probleme, die von der ökonomischen Krise bis zum Terrorismus reichen, von der Biotechnologie über die Umweltkrise bis zu Vorstellungen über eine Weltregierung für die Globalisierung. Das Genus dieses Textes ist nicht prophetisch. Dies würde auch eine konkrete Analyse einer konkreten Situation voraussetzen, die es ermöglichen würde, ein Urteil über die Probleme, die auf der Hand liegen, in Form von Anklage-Verheißung abzugeben. Aber es liegt nicht in der Natur dieses Papstes, Prophet zu sein. Er ist ein Doktor und Magister. Er legt den offiziellen Diskurs des Lehramtes dar, dessen Perspektive nicht die „von unten“ ist, vom realen und konfliktreichen Leben aus, sondern „von oben“, von der orthodoxen Doktrin her, die die Gegensätze verwischt und die Konflikte klein redet. Der vorherrschende Tenor ist nicht die Analyse, sondern die Ethik, das, was sein muss.
Da er nicht die äußerst komplexe aktuelle Realität analysiert, verbleibt der lehramtliche Diskurs im Prinzipiellen, bleibt er ausgeglichen und zeichnet er sich durch seine Unbestimmtheit aus. Der Subtext des Textes, also das, was bei allem Gesagten ungesagt bleibt, nimmt eine theoretische Unschuld in Anspruch, die jedoch unbewusst der funktionalen Ideologie der herrschenden Gesellschaft zuarbeitet. Man bemerkt das allein schon daran, wie das zentrale Thema – die Entwicklung – zur Sprache gebracht wird. Dieses Thema muss angesichts der ökologischen Grenzen dieser Erde sehr kritisch bearbeitet werden. Davon sagt die Enzyklika aber nichts. Ihre Vision ist, dass das globale System sich im Grunde als korrekt erweist. Danach stossen wir auf Dysfunktionen, nicht auf Gegensätze. Eine solche Diagnose legt dann als Therapie nahe, was mit der der G20 vergleichbar ist: Berichtigungen statt Veränderungen, Verbesserungen statt Paradigmenwechsel, Reform statt Befreiung. Es ist der Imperativ des Magisters, nicht der des Propheten, es geht um „Korrektur“, nicht um „Bekehrung“.
Bei der Lektüre des langen und schweren Textes kam mir schließlich der Gedanke, wie schön es wäre, wenn der jetzige Papst ein wenig vom Marxismus kennen würde. Dieser geht von den Unterdrückten aus und ihm kommt das Verdienst zu, die gegenwärtigen Oppositionen im aktuellen System zu entlarven, die Machtkonflikte zu Tage zu fördern und die hemmungslose Gier der Markt-, Konkurrenz- und Konsumismusgesellschaft, die unkooperativ und ungerecht ist, anzuklagen. Handelt es sich hierbei doch um eine soziale und strukturelle Sünde, die Millionen auf dem Altar der Produktion für einen unbegrenzten Konsum opfert. Dies müsste der Papst prophetisch anklagen. Aber er tut es nicht.
Der Text des Lehramtes, gleichwie auf dem Olymp außer- und oberhalb der aktuellen konfliktreichen Situation angesiedelt, ist keineswegs so weltanschaulich „neutral“, wie er es vorgibt. Er ist ein Diskurs, der das herrschende System reproduziert, das alle leiden macht, besonders die Armen. Da geht es nicht um die Frage, ob Benedikt XVI dies will oder nicht will, sondern um die strukturelle Logik des lehramtlichen Diskurses. Auf eine genaue kritische Analyse zu verzichten, kostet den hohen Preis einer theoretischen und praktischen Unwirksamkeit. Der Papst erneuert nicht, er repetiert.
Indem er nicht vom symbolischen Kapital der Transformation und der Hoffnung, die in der christlichen Botschaft enthalten ist, ausgeht, verpasst er eine große Gelegenheit, sich in einem dramatischen Moment der Geschichte an die Menschheit zu wenden. Dieser Papst legt keinen Wert auf den neuen Himmel und die neue Erde, die durch menschliche Praxis antizipiert werden können, er kennt nur dieses dekadente und für sich selbst unhaltbare Leben (sein kultureller Pessimismus) sowie das ewige Leben und den Himmel, die kommen werden. Er rückt so von der großen biblischen Botschaft, ihren revolutionären politische Konsequenzen und ihrer Behauptung ab, dass die endgültige Utopie des Reiches der Gerechtigkeit, der Liebe und der Freiheit nur wirklich sein wird in dem Maße, wie sie diese Güter unter uns, in den Grenzen von Raum und Zeit, gestaltet und vorwegnimmt.
Lässt man die rückwärtsgewandten fideistischen Vorstellungen einmal beseite („allein durch die christliche Liebe ist eine integrative Entwicklung möglich“), kommt die Enzyklika, wenn sie den lehramtlichen Ton schließlich „vergisst“, kurioserweise auf ganz vernünftige Sachen zu sprechen, wie z.B. die Reform der UN, die neue internationale ökonomische und finanzwirtschaftliche Architektur, das Konzept des Gemeinwohls und die beziehungsreiche Inklusion der Menschheitsfamilie.
Wir können Nietzsche paraphrasieren: „Wie viel kritische Analyse kann sich das Lehramt der Kirche zu eigen machen?“
Quelle: Servicios Koinonia; übersetzt von: Norbert Mette