Michael Ramminger/ Thomas Ladholz
Noch sind die Dinge im Fluss in Santiago. Zwar ist die Trauer bei vielen über die massive Ablehnung der neuen Verfassung noch deutlich sichtbar, viele Gesichter noch müde und ratlos. Aber zugleich werden die Ereignisse doch auf unterschiedliche Weise bearbeitet. Die SchülerInnen und die Studierenden waren auf der Straße, die Demonstrationen sind deutlich schwärzer geworden, anarchistische Gruppen bestimmen das Bild. Aber sie, ebenso wie die vielen, oft jungen Menschen, die in den Stadtteilen für die Verfassung gearbeitet haben, teilen eine Überzeugung: „Nos quitaran todo, hasta la miedo“. Dieser Slogan der FeministInnen ist überall zu hören, auf den Demonstrationen drückte er sich in der ungehemmten Wut auf die Pacos, die Polizei aus. Zwölf, dreizehnjährige greifen die Wasserwerfer und Zorrillos genannten Polizeifahrzeuge, die gassprühenden Stinktiere an, als hätten sie nichts zu verlieren. Ihre Entschiedenheit weist zurück in den Estadillo Social, den Beginn des Aufstandes vor nun fast drei Jahren, der den verfassungsgebenden Prozess erst möglich gemacht hat.
Auf der Suche nach Gründen
An anderen Orten, in den Cabildos, den Cordones, in der MSC, dem Moviemiento Sociales Constituyentes und unter den Intellektuellen fängt die Suche nach den Gründen für die Niederlage an. Dabei sind sich in der Sache eigentlich alle einig: Die drei Punkte, die bei vielen zur Ablehnung der Verfassung geführt hat, waren die vermeintliche Aufhebung des Privateigentums (Immobilien, Ersparnisse und Rente), die Freigabe der Abtreibung und der Artikel zur Plurinationalität der Republik Chile. Bis auf den letzten Punkt gab es diese Forderungen in der Verfassung gar nicht, gleichwohl war dies die allgemeine Annahme.
Medien, Lügen und Träume
Warum aber glaubten die Menschen diesen Lügen? Eine erste Antwort darauf wiederum lautet, dass es die Übermacht der Medien, die unzureichenden eigenen Ressourcen, die viel zu knappe Zeit gewesen sei, die eine Gegenöffentlichkeit verunmöglicht hätten. Chilenischer Chauvinismus, unzureichende Bildung seien ebenfalls echte Gründe für das Scheitern des „Apruebo“ gewesen. Die Diskurskonstruktionen des Kapitals und der Unternehmer (die rechten Parteien beteiligten sich offiziell gar nicht an der Gegenkampagne) waren erstaunlich: „Sie wollen Dir Deine Zweitimmobilie nehmen“, hieß es. Aber wer aus den ärmeren Schichten hat schon eine Zweitimmobilie? „Die Rente gehört den ArbeiterInnen“ wurde im Radio kurz und knapp propagiert. Eigentlich ein linker Slogan, der aber antikommunistisch und in Manier des kalten Krieges gegen die neue Verfassung gewendet wurde. Auch die Behauptung, das bis zum neunten Monat frei abgetrieben werden dürfe, war schlicht erlogen. Und die Idee der Plurinationalität hat wohl den chilenischen Zentrismus und Chauvinismus mobilisiert, nie aber gab es die Idee, unterschiedliche Rechtssysteme einzuführen oder den chilenischen Staat aufzulösen.
Soweit, so gut. Der chilenische Historiker und Sozialwissenschaftler Mario Garcés sagt: „Die Liste der Lügen könnte noch länger sein“ und stellt die plausible Frage: „aber die grundlegende Frage ist, warum viele dieser Lügen und Manipulationen funktionierten?“ Sein Versuch einer Erklärung ist, dass die Rechten die „Träume der Armen“ angesprochen hätten, die Frage der Zweitimmobilie oder der Rentenfonds, Vermögenswerte, die die meisten Armen nicht haben, von denen sie aber trotzdem träumen können: Zweitimmobilie am Strand oder eine gute Rente. Der entscheidende Punkt in diesem Argument ist dann eben nicht einfach nur die Sachfrage nach dem Privateigentum, sondern die Frage nach den „Träumen“ der Menschen. Und die ist wohl deutlich von der Frage nach den objektiven, materiellen Interessen der Menschen, nach der „Aufklärung“ über die vermeintlich wahren Gründe der Ausbeutung, Unterdrückung und Ungleichheit zu unterscheiden. Vielleicht deshalb haben auch die Menschen jenseits ihrer Klassenzugehörigkeit, ihres Geschlechts, ihres Alters oder ihrer ethnischen Identität gegen die neue Verfassung gestimmt. El Pueblo, das Volk jedenfalls als politisches Subjekt war in dieser Zeit der politischen Verfassungsgebung eine politische Chimäre. „Wir waren schon immer eine Minderheit, schon 1917“ sagte ein junger Aktivist aus dem Stadtteil La Florida in einer ersten Diskussion über die Gründe ihrer Niederlage. Welche politischen und strategischen Implikationen so ein Satz für eine strategische Neubestimmung ihrer politischen Arbeit haben wird, ist wohl vielen noch gar nicht klar. Noch schimpfen sie auf die Menschen, suchen nach Akteuren der Beeinflussung und Manipulation. Und aber natürlich auch nach den eigenen Schwächen und Fehlern.
Triumphalismus und Gesellschaft
Da knüpfen vielleicht zwei weitere Thesen von Mario Garcés an. Die erste und einfacher zu durchdringende ist die Behauptung eines gewissen Triumphalismus der Linken: „Die Linke leidet unter ständiger Euphorie und Triumphalismus, wenn alles gut läuft, und dann unter Pessimismus und kollektiver Depression, wenn sich Mittel und Zweck verheddern und die Zeiten nicht im gewünschten Tempo verlaufen.“
Natürlich gab es übermäßigen Anlass für eine solche Siegesgewißheit der Linken: Der Aufstand hatte zwar nicht zum Rücktritt des alten Präsidenten geführt, aber eben zum verfassungs-gebenden Prozess. Bei der neuen Präsidentenwahl hatte, wenn auch erst in der Stichwahl, der Kandidat der Linken haushoch gewonnen und in den Wahlen zum Verfassungskonvent hatte die Rechte und die extreme Rechte gar ihre Sperrminorität verfehlt. Es konnte die Illusion entstehen, dass Chile einen Linksrutsch erlebt hätte. Der gesamte Prozess hatte eine politische Dynamik entwickelt, die kaum Vergleichbares findet. Studierende, SchülerInnen und Angestellte, die aktiv am Aufstand von 2019 teilnahmen, der nicht nur in den Stadtzentren, sondern auch in den peripheren Stadtteilen stattfand, gingen umstandslos in den politischen Prozess zunächst der Wahlen zum Konvent, dann zur Arbeit an der Verfassung und später in die wohl viel zu kurze Kampagne des „Apruebo“ über. Es war für sie, wie sie sagten, eine Zeit des Rund-um-die-Uhr-Arbeitens, der andauernden politischen Diskussionen, Versammlungen, Aktionen, des von Haus zu Haus laufens, vor der Metro Flugblätter-Verteilens. Familie, Beziehungen und Ausbildung standen hinten an. „Viele von uns haben keine Beziehung, haben die Ausbildung oder das Studium unterbrochen. Dafür haben wir keine Zeit.“ Die Herrschaft der Zeit war unterbrochen. Faktisch. Und das Kontinuum der Zeit war für einen Moment gesprengt. Aber vielleicht war eben nicht nur – mit Walter Benjamin gesprochen – die Last der Vergangenheit abgestreift, sondern eben auch die gefährliche Unterbrechung, in der z.B. die Erinnerung an die Minderheitsexistenz einer Linken aufgehoben gewesen wäre.
Repräsentation und Souveränität
Wie auch immer. Tatsächlich verbindet sich mit der Frage nach dem Volk als politischem Subjekt und dem Verhältnis spätestens der Constituyente auch die Frage nach der politischen Repräsentation. Und dies ist ein weiterer Punkt von Garcés. Im Rausch des Ereignisses ist möglicherweise die Frage nach dem Verhältnis des Verfassungskonventes zur Gesellschaft verloren gegangen, das brüchiger war, als angenommen. Zunächst musste der Konvent seine eigene Souveränität entwickeln, seine eigenen Regeln, Verfahren und Arbeitsweisen bestimmen. Darin blieb die Rolle der „Unabhängigen“, der Abgeordneten, die keiner politischen Liste angehörten und deren ideologische und politische Position unsichtbar blieb, bis zum Schluss problematisch. Sie waren nämlich nicht unbedingt ein Sieg der Demokratie und Souveränität des Volkes, sondern unter ihnen gab es obskure Figuren, Scharlatane und auch EinzelkämpferInnen. Der Verfassungskonvent musste seine Souveränität auch gegenüber dem politischen Establishment, gegenüber der Rechten bestimmen. All diese Probleme zu lösen, gelang ihm möglicherweise nur mäßig (wofür es handfeste Gründe gab: fehlende Ressourcen, die Befristung, der Erfolgsdruck etc.). Sie führten aber vielleicht auch dazu, dass der Konvent ab einem gewissen Punkt selbst Teil des Systems der Repräsentation wurde, gegen das sich sowohl seine Mitglieder als auch die Wut der Millionen von 2019 gerichtet hatten.
Hier scheiden sich z.B. die Geister: Konnte der selbst aus dem politischen Widerstandsprozess kommende Präsident Boric nicht anders, als sich für eine juristische Verfolgung der Mapuche-Führung auszusprechen, konnte er nicht anders, als nichts zur fehlenden Strafverfolgung und Aufklärung der Polizeiverbrechen von 2019 zu sagen, d.h. die Frage der bis heute grundlos Verhafteten nicht anzugehen? Konnte er nicht anders, als nichts zur Frage der Diktaturverbrechen der verhafteten Verschwundenen sagen? Oder ist er Teil des politischen Systems geworden, in dem die Linke mit der Rechten verhandeln zu können – und zu müssen – glaubt? Obwohl das doch schon 1973 widerlegt war? Wie auch immer diese Frage beantwortet wird, Boric ist Teil des politischen Establishments und wurde als solcher wahrgenommen. Seine Umfragewerte wurden immer schlechter. Er galt als Vertreter der neuen Verfassung und gab sich viel Mühe, eine staatsmännisch neutrale Figur abzugeben. Dadurch aber verstärkte sich der Eindruck, dass er und der Konvent Teil des politischen Establishments sei. Hätte er stattdessen über die Regierungsparteien Frente Amplio und der kommunistischen Partei eine offensive Kampagne für das Apruebo unterstützt, hätte er sich damit vielleicht besser vom herrschenden politischen System abgrenzen können. „Vielleicht wäre es für die neue Verfassung besser gewesen, Boric hätte gegen den rechten Piñera verloren“ sinnierte ein Aktivist des Apruebo.
Die Rückkehr der Parteien
Noch ist offen, ob alles wieder zu seiner alten Ordnung findet: oder besser gesagt, es wird alles zu seiner alten Ordnung zurückfinden. Die politische Klasse, auch die Parteien werden ihre überkomme Rolle wieder einnehmen. So kann man angesichts der ersten Bemühungen des Präsidenten Gabriel Boric vermuten, der sich schon für einen neuen verfassungsgebenden Prozess ausgesprochen hat, der dann aber wohl gewissermaßen unter der Obhut eben genau der politischen Klasse und des Parlamentes stehen wird, gegen das er eigentlich entstanden war. Vielleicht werden auch einige AktivistInnen und RepräsentantInnen des vergangenen Verfassungskonventes diesen Weg über Plätze in den linken Parteien mitgehen. Die rechten Parteien von Vamos Chile stehen da tatsächlich vor einem gewissen Problem. Sie haben sich gegen einen neuen Prozess entschieden, müssen sich aber zugleich auch vor den WählerInnen des „Nein“ verantworten, deren Nein nicht automatisch gleichzusetzen ist mit einer Ablehnung von Wandel, und die Antworten auf ihre „Träume“ nach einem Häuschen, nach ausreichender Rente etc. erwarten. Antworten werden den Rechten wohl schwer fallen, die an der alten Ordnung ja nichts ändern wollen. Diese alte Ordnung aber ist angezählt. Denn auch die Befürworter der alten Verfassung wollen, wenn nicht den Wandel, so doch Reformen. Wie lange die alte Ordnung noch standhalten kann, ist offen. Die Revolution ist vertagt. Wie an so vielen anderen Orten der Welt.
Der Aufstand
In dieser Problematik der Rückkehr des politischen Systems steckt zugleich eine andere, uns bewegende Frage. Zwar wird in allen Gesprächen immer wieder auf den Beginn des ganzen politischen Prozesses, nämlich auf den Aufstand von 2019 hingewiesen. Zugleich erscheint er aber immer wieder nur als „Beginn“. Als ein Beginn, der erst einen politischen Prozess ermöglicht hat, der aber selber kein politischer Prozess ist, bzw. als solcher interpretiert wird. Insofern müsste der Aufstand nun doch auch selber als Thema der Diskussionen über die letzten Jahre gesetzt werden. Mindestens die Frage nach der Bedeutung der Straße dürfte nicht einfach auf eine präpolitische Phase reduziert werden. Bei Teilen der SchülerInnen und Studierenden, also bei denen, die auf der Straße waren, und deren Leben sich immer noch auf der Straße abspielt, gibt es dieses Bewußtsein noch. Sie waren die Subjekte der Revolte, sie waren gewissermaßen die „Linea Zero“, von denen alles ausging. Müssten ihre Erfahrungen und Einschätzungen nicht auch weiter eine Rolle in den Gesamtreflexionen spielen?
Strategische Ziele: Was wollen wir
Auf einer ganz unmittelbaren Ebene stellt sich für die Aktivistinnen nun auch die Frage nach den strategischen Zielen, darüber hinaus aber auch die Frage nach dem gemeinsamen Projekt, um nicht das banale Wort vom Narrativ zu benutzen. Das sie weitermachen, ist für sie im Moment keine Frage. Die ersten Versammlungen werden geplant und als ernsthafte Auswertungstreffen vorbereitet. Aber wie steht man zu einem erneuten Verfassungsprozess: soll man teilnehmen, unterstützen, oder eigenes entwerfen, etwa die Arbeit in den Vierteln weitertreiben? Was werden die politischen Themen sein? Ungleichheit, Ökologie? Arbeit oder vor allem Carearbeit, wie die feministische Bewegung bereits entschlossen hat? Welche Rolle werden Plurinationalität und Rassismus und Chauvinismus spielen. Es scheint sich abzuzeichnen, dass ein Teil sich an die langfristige Arbeit der politischen Organisierung in den Stadtteilvierteln machen wird, während andere Teile als militante Gruppen weiterhin den Angriff auf Institutionen des etablierten Systems suchen werden.
Die neuen sozialen Bewegungen sind wohl irreversibel und unabdingbar, das kann man vielleicht behaupten. Und sie werden die Kultur, die Diskurse und die Formen der Politik zu mehr Partizipation und Basisdemokratie verändern. Aber natürlich stellt sich auch die Frage nach einem alternativen Gesellschaftsentwurf, zur Idee einer Gesellschaft nach dem neoliberalen Kapitalismus, gegen den die ganze Bewegung ja erst entstanden war, und den sie auch als solchen denunziert hat. Welche Werte, welche symbolische Wert und welche Diskurse werden Bestand gegen die Träume derjenigen haben, die gegen die neue Verfassung gestimmt haben. Auch das vielleicht eine Frage, die nicht nur Chile angeht.
Wir hatten schon die vielen Aufstände dieser Welt erwähnt, in die sich der estallido social einreiht. Die neue chilenische Linke hatte es vielleicht weitergebracht, als viele andere Bewegungen, die im Aufstand versiegt waren. Aber der verfassungsgebende Prozess in Chile war nicht einfach nur ein weiterer Schritt, sondern zeigte eben zugleich auch den Horizont der Begrenzungen einer neuen Welt auf. Die AktivistInnen des estallido durften Teil derer sein, die für einen Moment den Himmel aufgerissen haben. Das ist ihnen nicht zu nehmen. Und das haben sie, wie viele andere auf der Welt, uns gegeben.
Weitere – unserer Meinung nach – lesenswerte Artikel:
https://www.itpol.de/eines-tages-werden-sich-die-grossen-strassen-oeffnen/ (dt./ erste Eindrücke nach dem 4. September, dem Tag der Niederlage)
https://www.fsk-hh.org/sendungen (dt./ Interviews mit AktivistInnen aus Chile aus den vergangenen drei Wochen)
https://lom.cl/blogs/blog/sorprendente-resultado-gano-el-rechazo-por-amplia-mayoria (span. Artikel von Mario Garcés)