Angestoßen durch einen Artikel von Clodovis Boff und eine harsche Erwiderung von Leornado Boff beginnt zur Zeit in Lateinamerika und darüber hinaus eine Diskussion über die Stellung der Armen in und für die Theologie. Wir im Institut für Theologie und Politik greifen diese Diskussion auf, weil wir sie für geeignet halten, einige grundsätzliche Fragen der Theologie und ihrer Methode zu klären, also allgemein, nicht nur in Lateinamerika. Zusammen mit weiteren Beiträgen werden wir die beiden Texte der Brüder Boff in den nächsten Wochen auf Deutsch veröffentlichen. In diesem Beitrag geht es darum, die bisherige Diskussion zunächst zu grob nachzuzeichnen. Nähere Informationen gibt es dann im Institut für Theologie und Politik.
C. Boff und Kritik an der Befreiungstheologie
Im Oktober 2007 hat Clodovis Boff einen Artikel mit dem Titel „Theologie der Befreiung und die Rückkehr zum Wesentlichen“ in der Zeitschrift Revísta Eclesiástica Brasilera (REB) veröffentlicht. Er wirft darin der Theologie der Befreiung vor, sich im Laufe der Zeit von ihren „Wurzeln“ entfernt zu haben und einen falschen Weg gegangen zu sein. C. Boff schreibt unter anderem:
Wir können deshalb sagen, dass die TL folgendes „theoretisches Drama“ erlebt: Das, was entscheidend ist, bleibt im Unentschiedenen. Hier zeigt sich ihre fehlende epistemologische Konsistenz. Wie aber könnte eine Theologie ohne epistemologische Konsistenz theoretisch konsistent sein? Und wie könnte eine Pastoral konsistent sein, die sich auf eine inkonsistente Theologie stützt? […]
Dies ist der Kern des Problems. Weil der Primat des Glaubens nicht selbstverständlich aus einer existenziellen Perspektive gegeben ist, kann er auch aus epistemologischer Sicht nicht wirksam sein. Das Glaubensprinzip muss immer aktiv bleiben, nicht nur in der Lebenspraxis, sondern auch in der theologischen Theorie. Immer, wenn dieses Prinzip in Form des sensus fidei eingehalten wurde, hat es die guten Befreiungstheologen wie eine Leitidee der Theologie vor schweren Irrtümern bewahrt. […]
Es kam zu einer Umkehrung des epistemologischen Primats. Nicht Gott, sondern der Arme wurde zum Wirkprinzip der Theologie. Eine solche Umkehrung ist nicht nur ein Irrtum im Prinzip, sondern im Vorrang und deshalb in der Perspektive. […] Dass der Arme ein Prinzip der Theologie oder deren Perspektive – Blickwinkel oder Fokus – ist, das ist möglich, legitim und auch angemessen. Dies aber nur als zweites Prinzip, als relativer Vorrang. Unter dieser Voraussetzung kann eine Theologie in dieser Linie – wie die TL – nur ein „Diskurs zweiter Ordnung“ sein, die auf einer „ersten Theologie“ aufbaut.
Nach einem ersten Teil einer Kritik an der Befreiungstheologie präsentiert C. Boff das Abschlussdokument der V. Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Aparecida als „Modell“ für eine „richtige“ Befreiungstheologie, die nämlich von Christus ausgeht und durch ihn zum Armen gelangt.
Die Reaktion von Leonardo Boff
Auf diesen Artikel von Clodovis Boff hat sein Bruder Leonardo Boff im Mai 2008 mit einem Beitrag unter dem Titel „Für die Armen und gegen die Armut der Methode“ reagiert. Er diagnostiziert, dass nach all den Verdiensten, die sich Clodovis für sein befreiungstheologisches Engagement erworben hat, jetzt zunehmend eine Distanzierung seinerseits festzustellen sei. Weiterhin verursache er Ratlosigkeit und Verwirrung und spiele letztlich den Gegnern der Befreiungstheologie in die Hände, die „nun zu Clodovis kommen werden, ihm auf die Schulter klopfen werden und inbrünstig sagen werden: ‚Bravo, Bruder. Endlich hatte jemand den Mut, die Täuschungen und die schwerwiegenden und fatalen Irrtümer der Befreiungstheologie aufzudecken.“
Im Weiteren diagnostiziert Leonardo drei wesentliche inhaltlicher Fehler bei Clodovis: Fehlende Inkarnationstheologie, fehlende Berücksichtigung der Armen in der Theologie, fehlende Theologie des Heiligen Geistes. Er schreibt unter anderem:
Es ist kein theologischer Irrtum, den Armen mit Gott und Christus zu identifizieren. Es stimmt nicht, dass die Befreiungstheologie Gott und Christus durch den Armen ersetzt hat. […] Es war Christus, der sich mit den Armen identifizieren wollte. Wer dem Armen begegnet, trifft unfehlbar auf Christus in Gestalt des immer noch Gekreuzigten, der darum bittet, vom Kreuz herunter genommen und auferweckt zu werden. […]
Der Text von Clodovis konzentriert sich zu sehr auf die Figur des Christus und zwar auf einen fleischgewordenen Christus, der noch nicht die Veränderungen, die die Auferstehung bewirkte, kennt. Wie wir gesehen haben, erlangt Christus jedoch durch die Auferstehung kosmische Allgegenwart und drängt die menschliche Entwicklung in Richtung auf das Reich der Trinität. Im Grunde formuliert Clodovis christomonistisch, so als ob Christus alles wäre, und vergisst dabei den Vater und den Heiligen Geist. […]
Es ist der Verdienst der Befreiungstheologie, den Gottesdiskurs als Diskurs über die Armen und Unterdrückten artikuliert zu haben. Dabei war sie inspiriert von einem Gott des Lebens, der sich von seiner Natur her für die Armen entscheidet, für diejenigen, die weniger Leben haben. Begründet im Mysterium der Inkarnation verbindet diese Theologie unlöslich Christus mit den Armen oder den höchsten Richter mit den Misshandelten und Leidenden unserer Geschichte, aber ohne sie zu verwechseln.
Diese Diskussion haben inzwischen weitere Theologen (Luiz Carlos Susin und Erico Hammes, Francisco de Aquino und andere) mit eigenen Beiträgen bereichert. Wir greifen diese Diskussion auf und zwar weil wir meinen, dass dies keine spezifisch lateinamerikanische Diskussion ist, sondern weil sie für die gesamte Theologie relevant ist, also auch für unsere Theologie hier in Deutschland und Europa. Dies zu zeigen und zu bearbeiten haben wir uns vorgenommen.