In Frankreich soll sich laut Tagesschau eine sog. Bewegung der roten Halstücher gegen die Gelbwesten formieren: „Wir sind nicht einverstanden, wie die Gelbwesten mit der Republik umspringen … Sie haben vielleicht ein paar Forderungen, die berechtigt seien, über die man sprechen könne, aber die Demokratie dürfe nicht in Frage gestellt werden. Zitiert werden Unternehmer, leitende Angestellte, Bürger eben. Diese Gegenüberstellung entlarvt das Interesse der Besitzenden und Mächtigen in einer Deutlichkeit, wie e nicht allzu häufig passiert, aber doch nicht nur in Frankreich an der Tagesordnung ist. Da gibt es auf der einen Seite „berechtigte Forderungen“, also materielle Interessen und auf der anderen Seite die Demokratie. In der bürgerlichen Lesart hat also beides nichts miteinander zu tun. Demokratie und Gerechtigkeit wären zwei unterschiedliche Weisen, Gesellschaft zu organisieren. Und, wen wundert es, die höhere „Tugend“ ist natürlich die Demokratie, die in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Unterwerfung unter die kapitalistische Ungerechtigkeit und Ausbeutung: Haltet still, wird denen um die Ohren gehauen, die Gerechtigkeit und Gleichheit wollen, sonst zerstört ihr die Demokratie. Und noch einmal mehr, wie schon oft in der Geschichte, wird uns deutlich gemacht, dass diejenigen, die zuviel Gerechtigkeit wollen, doch nur die Ordnung zerstören werden. Und das ist das größte Verbrechen, dass man begehen kann.
Der französische Präsident Macron ist es übrigens, der deutlich gemacht hat, dass Ordnung und Demokratie zwei Worte für die gleiche Sache sind: für die Aufrechterhaltung der Herrschaft der Herrschenden nämlich. Gestern forderte er die Wiederherstellung der Demokratie in Venezuela, erklärte die letzten Wahlen kurzerhand als illegitim und begrüßte die „Hundertauenden von Freiheitskämpfern auf den Strassen“ von Caracas. Was immer man von Präsident Maduro hält: er ist legitimer und legal gewählter, und also selbst im Sinne der herrschenden Definition demokratisch bestimmter Präsident.
Aber das stört weder Macron, noch Trump und schon gar nicht Heiko Maas, der dem bürgerlichen Oppositionellen und Putschisten Juan Guaidó volle Unterstützung zusagte: „“Es ist offensichtlich gewesen, dass es so viele Verstöße gegen das Wahlrecht gegeben hat, dass man nur bedingt von einer demokratischen Wahl sprechen kann“. Als ob das deutsche Außenpolitik irgendwie wirklich interessieren würde. Oder hab ich übersehen, dass sich die Bundesregierung auf die Seite der HDP und der KurdInnen gestellt hat, weil möglicherweise die Wahlen in der Türkei nur „bedingt demokratischee Wahlen“ waren, weil die halbe Opposition und Hunderte von Journalisten im Knast sitzen? Solche Probleme hat die venezuelanische Opposition übrigens nicht. Ihr Putschistenführer hat sich noch gestern im Fernsehen zu Wort gemeldet.
Und vor einigen Tagen hat das bundesdeutsche Wirtschaftsministerium für eine Ausweitung der Geschäfte mit Brasilien geworben, insbesondere im Bereich der „zivilen Sicherheit“, angesichts der Tatsache, dass der Präsident verschärfte Kriminalitätsbekämpfung angekündigt hatte. Also den Versuch, die „Ordnung“ mit Hilfe von Waffen, Polizei etc. zu gewährleisten.
Die „Ordnung“ gilt auch in Deutschland einiges: Schlimmer als die AFD ist ihre Bekämpfung durch „Linksextremisten“. Die Ordnung muss im zunehmenden Chaos, das sie auf der Welt allerorten anrichtet, auf jeden Fall aufrecht erhalten werden.
Schlimmer als die Ordnung ist das Chaos, schlimmer als tausende Toter im Mittelmehr sind die tausenden von Flüchtlingen in Deutschland – weil sie die Ordnung gefährden. Die bürgerliche Klasse formiert sich, um die Ordnung aufrecht zu erhalten und zögert nicht, all die als Feinde der demokratischen Ordnung zu diffamieren, die sich dem wirklichen Chaos entgegen stellen. Und hinterher werden sie uns auch noch die Schuld daran geben. Wie schon 1919*, 1933, 1968, 1973 in Chile, 2019 in Venezuela … Die Frage, die sich uns also stellt: Wie kann man Gerechtigkeit und Demokratie nicht nur zusammendenken, sondern auch erkämpfen? Wie wird dieser Kampf aussehen und wird er endlich legitimer erscheinen, als der blutige Kampf der bürgerlichen Klassen?
* „Die Ordnung herrscht in Berlin“ – so lautet die Überschrift des letzten Artikels von Rosa Luxemburg in der Roten Fahne, der, einen Tag vor ihrer Ermordung durch rechte Militärs, veröffentlicht wurde. Unter dieser Losung jubelte zuvor die bürgerliche Presse über die Rückeroberung der Druckereien der SPD-Zeitung ‚Vorwärts‘, die am 5. Januar 1919 als Reaktion auf deren Stimmungsmache gegen die Arbeiter*innen- und Soldatenräte besetzt wurde. in: http://lowerclassmag.com/2019/01/keine-ruhe-fuer-diese-ordnung/