Die Abstimmung in Chile über eine neue Verfassung ist vorbei. Sie wurde abgelehnt. Das „Rechazo“ (Zurückweisung) gewann mit ca. 60% bei einer Wahlbeteiligung von ca. 85% Prozent.
Während wir mit Freunden den Tag in ihrem Garten verbrachten – neben einem kurzen Abstecher zur Wahlstation – und ausgelassen über Gott, die Welt und die Perspektiven nach dem Referendum diskutierten, wurde die Stimmung kurz vor 18 Uhr angespannter. Im Grunde genommen fieberten alle bereits den ganzen Tag auf diese Uhrzeit hin, endlich, das Warten war vorbei. Die Wahllokale waren geschlossen und die Auszählung begann. Während bei ca. 1% der Stimmen das „Apruebo“, die Zustimmung zur Verfassung, noch vorne lag, deutete sich bereits bei Auszählung von 6% der Stimmen eine Tendenz für das „Rechazo“ ab. Während wir noch versuchten, mit mathematischer Logik die Hoffnung aufrecht zu erhalten, in der Tiefe unseres Herzen aber bereits ahnten, dass unsere Freunde recht behalten würden, sagten sie bereits: „Wir haben verloren“. Ab diesem Zeitpunkt breitete sich eine Stimmung aus, die für uns kaum zu fassen, zu verstehen war. Nicht, das es die eine richtige Stimmung für solch einen Moment gäbe, es war lediglich die Tatsache, dass wir sie nicht einordnen konnten. Während die einen bereits darüber redeten, dass es jetzt darum gehen müsse, zu verstehen, was sie (die Sozialen Bewegungen) falsch gemacht hätten und man selbstverständlich weiterkämpfen müsse, begannen die zweiten über ihr politisches Alltagsgeschäft zu reden, während die dritten sich daran machten, das Abendessen vorzubereiten. Die ersteren ergingen sich in einer irritierenden Nüchternheit oder vielleicht Abgebrühtheit, als ob das Referendum nur eine weitere verbotene Demo gewesen sei, die zweiteren in politischen Banalitäten, während die dritten einfach gingen. Wo war die Trauer, die Wut, das Entsetzen? Oder war alle dies Ausdruck von Trauer, Wut und Entsetzen? Hatte der Genosse nicht noch einen Tag vorher gesagt, dass man so oder so, unabhängig des Ergebnisses, auf die Straße müsse? Diesen Impuls hatten wir zumindest. Nach einer Zeit konnten wir uns aus unserer Schockstarre über das Ergebnis befreien und merkten in den unterschiedlichen Reaktionen zwischen unseren FreundInnen und uns, trotz all der gebauten, stabilen und großen Brücken, den Graben zwischen uns und überquerten die Brücke wieder, beteiligten uns wieder an den Gesprächen und konnten die kurz entstandene Distanz, trotz der bleibenden Irritation wieder überbrücken. Folgende politische Gedanken und Perspektiven sind Momentaufnahmen aus den Gesprächen, die wir die Tage vorher, vor allem dem 4. September und den zwei Tagen danach geführt haben. Die Zukunft ist noch offen und wir möchten, ja können nicht den dialektischen Sprung in der Analyse auf die nächste Ebene wagen. Was wir aber können ist, die vielen Widersprüche, offenen Fragen, die Zuversicht, die Wut und den Frust auf den Tisch legen, auf das wir besser verstehen was passiert ist, nicht um es am politischen Kneipentisch besser als andere zu wissen, sondern um daraus für unsere politische Praxis zu lernen.
Was wissen wir?
Was wissen wir? Wir wissen, das die geballte Medienmacht der Rechten und der Reichen (was nicht immer deckungsgleich ist), es geschafft hat, mit einer unvorstellbaren Kampagne viele Menschen zu verunsichern. Nicht mit Argumenten, sondern mit Lügen, die sie den Leuten Tag und Nacht einhämmerten. Dabei bedienten sie sich der antikommunistischer Motive des Kalten Krieges, die anscheinend leider immer noch funktionieren: Die Verfassung sei von KommunistInnen, und KommunistInnen nehmen dir alles weg: Dein Haus, Deine Zahnbürste. Wie in Venezuela! Achja! Und Kinder essen sie auch. Um nur zwei kleine und sooo offensichtliche Beispiele zu nennen: Während der Stimmauszählungen zeigten die ersten Hochrechnungen des TV-Senders bereits eine deutliche Tendenz für das „Rechazo“. Als dann die erste offizielle Hochrechnung kam, die das „apruebo“ vorne sah, ließen sich die ModeratorInnen nicht beirren, weder in ihrer Behauptung das „rechazo“ läge vorne, noch in ihrer Präsentation der entsprechend aufbereiteten grafischen Statistiken.
Als das „rechazo“ als eindeutiger Sieger hervorging, wurde direkt in die Zentrale des „rechazo“ geschaltet, Christdemokraten, die Millionen durch Wasserprivatisierung verdienen, kamen ebenso ausführlich zu Wort, wie lupenreine Faschisten der UDI (Partido Unión Demócrata Independiente). Als dann die SprecherInnen der „apruebo“-Kampagne aufs Podium traten und zu reden begannen, durfte man weiter dem Faschisten lauschen, der wie Trump von „Chile zuerst“ sprach. Widerwillig schalteten dann die ModeratorInnen rüber zu den RednerInnen des „apruebo“, die Hälfte deren erster Rede war bereits vorbei.
Was wissen wir noch? Die Diktatur Pinochets und das neoliberale Dogma der Gesellschaftlosigkeit und der Alternativlosigkeit sitzt 50 Jahre später immer noch tief. Vielen fehlt die Vorstellung, dass das Leben auch anders sein könnte. So haben sich viele von der Medienkampagne der Rechten verunsichern lassen und für das „rechazo“ gestimmt. Ein befreundeter Anwalt für Menschenrechte schrieb abends am 4. September, sicherlich auch geprägt durch Frust: „Wir haben erdrutschartig verloren und werden mit der Verfassung von Pinochet weitermachen, wie es das Volk will. Ich würde mir nicht einmal die Mühe machen, ein neues Wahlverfahren einzuleiten. Wenn die Menschen die AFP (privatisiertes Rentensystem), Wasser in privater Hand, Bergbaukonzessionen mit absoluten Eigentumsrechten usw. wollen, dann soll es so sein. Die Wahrheit ist, dass wir, wie in Europa, in entfremdeten Gesellschaften leben, in denen die Menschen nicht einmal merken, dass sie tagtäglich von riesigen De-facto-Mächten, transnationalen Konzernen, mit all ihren wirtschaftlichen, finanziellen, politischen und medialen Verästelungen verarscht werden. Die Kampagne der Rechten hat die von Trump an Perversität noch übertroffen, und übrigens hat die Regierung angesichts so vieler Lügen eine dumme Kampagne gemacht… obwohl man angesichts eines solchen Medienbombardements vielleicht wenig machen konnte.“
Freunde die schon während der UnidadPopular aktiv waren und gegen die Diktatur kämpften, für die die neue Verfassung ihr ausstehender Sieg gegen Pinochet gewesen wäre, Gerechtigkeit für all die erlittenen Opfer (Folter, Traumata, kaputte Familien, Exil etc.) sagten: Wenn das „rezacho“ gewinnt, gewinnt die Verfassung von Pinochet. Nach 50 Jahren erneut und „demokratisch“.
Sicherlich spielt auch die Pandemiesituation der letzten zwei Jahre in die Niederlage mit rein, in der trotz größter Anstrengungen, politisch-soziale Prozesse erschwert wurden oder de-facto waren.
Und viertens wissen wir, dass die Pfingstkirchen sich eindeutig gegen die Verfassung aussprechen: das „rechazo“ ist Gottes Wille, die Verfassung kommunistisch. Die katholische Kirche schweigt, wie so oft.
Aber: Keine linken Verschwörungstheorien
Alle diese Gründe sollten aber nicht als Argument für eine linke Verschwörungstheorie dienen, die die Niederlage des „apruebo“ bösen Mächten von Oben oder der Natur zuschiebt, oder sogar behaupten, die Verfassung sei zu radikal und die Menschen noch nicht bereit für solch einen fudamentalen Wandel, wie einige ach so enthusiastische linke Apologeten staatlicher und institutioneller Politik in Deutschland es tun. Wir müssen anerkennen, was unser Freund schrieb: Die Mehrheit der ChilenInnen hat sich für den Kapitalismus in seiner übelsten Form entschieden. Und also auch gegen uns. Wir sind und werden auf absehbare Zeit die Minderheit bleiben: „Das Volk ist nicht nur abhanden gekommen, glänzt durch Abwesenheit, lässt nichts mehr von sich hören und lügt in Umfragen … Und es wird sich auch nicht durch die großen Stimmenfänger der Linken zurücklocken lassen.“ So schrieben die französischen Freunde vom Unsichtbaren Komitee schon vor Jahren.
Während der Prozess der verfassungsgebenden Versammlung eine ungeheure sozial-politische Dynamik in den Sozialen Bewegungen entfaltete – vom Konvent bis in die Stadtteilversammlungen –, sich neue Freundschaften, Gemeinschaften und Allianzen entfalteten, die Menschen seit langem wieder ProtagonistInnen ihrer eigenen Geschichte wurden, politisches Bewusstsein entwickelten und radikalisierten, eine Idee einer anderen Gesellschaft entwickelten, sorgte die Fokussierung auf den institutionellen Weg des Wandels für eine Demobilisierung der Revolte auf der Straße, und die Rechten begannen – ohne eine Machtperspektive im Konvent – von Anfang eine ideologische Kampagne gegen die noch nicht einmal fertige Verfassung. Die Menschen, die von Beginn an skeptisch gegenüber dem Weg der Verfassung waren und die Notwendigkeit der Fortführung der Revolte forderten, gerieten ins Hintertreffen. Die Primera Linea, die mit der Revolte 2019 aus ihrem Schatten trat und zum Held der Revolte wurde, kehrte in ihre Schatten zurück und kämpft auf ihrem Rückzugsposten seitdem auf der Straße für die Freiheit aller politischen Gefangenen. Eine Forderung, deren Umsetzung durch die Linksregierung auf sich warten lässt. Gleichzeit wurde Boric und seine Regierung mit der „apruebo“- Kampagne identifiziert und damit die berechtigte Skepsis gegenüber Regierungen und dem Staat im Allgemeinen gegenüber dem „apruebo“ stärker. Ein Freund sagte: Die Regierung und Parteien sind zum Lügen da. Von ihnen erwarten wir nichts.
Keine Mehrheit
Das ist auch objektiv ein relevanter Punkt. Die Linksregierung hat keine Mehrheit im Parlament. Die Revolution, der Wandel bleiben also Sache der Sozialen Bewegungen. Dass die Linksregierung durch Verurteilung von „Gewalt“, mit der sie die sozialen Proteste adressierte, die sich nicht an die Spielregeln einer Gesellschaft hält, die noch im Geiste einer Diktatur funktioniert, dass sie den Ausnahmezustand in den Mapucheterritorien nicht aufhebt, dass die Hinterzimmergespräche mit der Rechten Opposition führt, kurz: dass sie sich als Garant der Einheit, Souveränität des Staates, für Alle auftritt, tat auch seinen Beitrag, das „apruebo“ zu diskreditieren. Denn wir wissen, was gemeint ist, wenn Politiker (gleich welcher parteipolitischen Coleur) davon reden, dass es einen Kompromiss geben muss, der Allen zu Gute kommt. Eine Verfassung für Alle, für Chile. Für Alle meint eine Verfassung für sie selber, eine Verfassung für Chile bedeutet: Nicht für die Mapuche. Aber die Krise der Repräsentation ist viel tiefergehender, als viele glauben. Vielleicht hatte sie sogar bis in die Constituyente gereicht?
Eine neue Generation?
Schlussendlich hat somit der der institutionelle Prozess einen Weg eröffnet und einen anderen geschlossen. Ca. 40% haben für das „apruebo“ gestimmt und angesichts der Intensität des politischen Prozesses bzw. Konfliktes kann man mit Fug und Recht sagen, dass es round about zehn Millionen Menschen mit einem linken Bewusstsein in Chile gibt. Was wir in der Revolte und dem verfassungsgebenden Prozess gewonnen haben, sagte ein Freund, ist, dass es eine neue Generation von Menschen gibt, die sich organisieren, ein politisches Bewusstsein entwickelt haben und bereit sind, den Kampf gegen dieses System aufzunehmen. Nicht wenig angesichts der chilenischen Geschichte. Wir brauchen Wandel, keine Reformen.
Geschlossen hat der institutionelle Weg, den Weg der Revolte weiter zu beschreiten. Letztendlich hat nämlich die Revolte, eine Revolte, die nicht von der Mehrheit der Gesellschaft getragen wurde, eine politische Dynamik ausgelöst, in der eine Mehrheit für eine Verfassung plädierte. Das Problem vom destituierender Macht, konstituierender Macht und konstituierter Macht bleibt aktuell. Auch bleibt aktuell, dass sich Linke oft und zu vorschnell auf die konstituierende Macht fokussieren.
Was tun?
Wie wird es weiter gehen? Diese Frage stellten wir auch angesichts der Tatsache, dass durch ein demokratisches Verfahren die neue Verfassung abgelehnt wurde. Wie kann man so demokratisch delegitimiert weiter machen? Wäre man dann nicht eine putschistische Minderheit? So dachten wir zumindest. Doch wir wurden schnell eines besseren und unserer eigenen Grundsätze belehrt: Demokratie ist nicht nur eine Frage von Mehrheiten, Minderheiten und Konsens. Demokratie ist auch die Ermöglichung von Zuständen in denen Alle frei, autonom und mit dem nötigen Wissen entscheiden können: Wir werden weiter kämpfen, das ist, was wir immer getan haben. Es gibt kein zurück hinter die Revolte. Sowohl im positiven wie im negativen: Im positiven was daraus erwachsen ist: Die Revolutionäre ohne Revolution, als Einzelnen gewachsen, als Bewegungen zusammen gefunden. Im negativen: Jeder Kampf für einen Wandel wird sich an der Intensität der letzten zwei Jahre messen müssen, sowohl in der eigenen Erfahrung der Menschen, also auch in der Furcht, die sie bei den Herrschenden auslösen muss.
Die Regierung und die rechte Opposition rufen dazu auf, über den institutionellen, parlamentarischen Weg im Dialog mit Zivilgesellschaft und Sozialen Bewegungen weiter an einer neuen Verfassung zu arbeiten, treu dem Motto: Damit alles bleiben kann wie es ist, muss sich alles ändern. In wie weit die Rechten ihre Arbeit daran ernst meinen, wird sich noch zeigen. Denn eigentlich ist ihr größtes Interesse, die Pinochetverfassung zu erhalten. Klar ist aber: auch eine Verfassung in diesem neuen neuen Modus wird nur den Geist der Pinochetverfassung modernisieren und damit gleichzeitig aber den historischen Antagonismus verdecken. Es bleibt abzuwarten, welchen Weg die Rechte nach ihrem großen Sieg gehen wird. Andersherum ist klar, dass die Boric- Linksregierung keine aktiven Impulse für die Kämpfe geben wird. In diesem Moment findet die Umgestaltung des Regierungskabinetts statt. Ein direktes Resultat der Niederlage des „apruebo“. Gehen werden viele aus dem linken Flügel, kommen werden PolitikerInnen, vor allem aus der Ex-Concertacion, mitte-links PolitikerInnen und Sozialdemokraten. Die Regierung muss dialogbereit sein mit der Rechten Opposition, um die neue Verfassung über den parlamentarischen Weg auszuarbeiten. Also ein direktes Zugeständnis an die rechte Opposition. Es soll ein Signal sein, dass für das Wohl von Chile, von Allen es endlich gilt, sowohl die extreme Linke, also auch die extreme Rechte abzuschütteln. Lange lebe die Mitte! … Bereits zwei Tage nach dem Referendum rückt die Linksregierung weiter nach Rechs.
Plaza Dignidad: die Plätze, die Würde …
Gestern (5. September) gingen wir über die Plaza Dignidad. Alles war normal, die Autos fuhren, der Platz war leer, als plötzlich unsere Augen anfingen zu brennen und zu tränen, unsere Hälse fühlten sich an, als ob wir Stricknadeln schlucken würden. Doch weit und breit nichts zu sehen: Keine Demonstration, keine Polizei.
Später erfuhren wir, dass Studierende und SchülerInnen einige Stunden zuvor sich dort versammelt hatten, um ihre Bereitschaft weiterzukämpfen, zu signalisieren. Nach kurzer Zeit wurden sie dann durch die Polizei, Tränengas und Wasserwerfer vertrieben. Das Tränengas hing selbst Stunden danach noch unsichtbar in den Nebenstraßen…
So hat es angefangen, so war es heute und so wird es weiter gehen. Eines Tages, wenn der Aufstand selbst zum verfassungsgebenden Prozess wird, werden sich die großen Straßen Santiagos öffnen.*
*Salvador Allende 1973 während des Putsches