Warum es falsch ist, das Gedenken an die Reformation auf Martin Luther zu konzentrieren
von Michael Ramminger
veröffentlicht in: Südlink 181, September 2017.
Der Beitrag steht auch als PDF in der Rubrik „Texte“ zum Download zur Verfügung: Ramminger Für eine andere Reformation
Martin Luther hatte einen wichtigen Anteil an der Reformation. Die Feiern zum 500. Jahrestag auf seine Person zu konzentrieren, ist jedoch eine Engführung, bei der ihr widerständiges Potenzial zu kurz kommt. Dieses findet sich bei Thomas Müntzer, dem verdrängten Vertreter einer „linken“ Reformation. Mit ihm hat auch der Protestantismus einen wichtigen Ahnen der Befreiungstheologie.
In diesem Jahr wird das 500-jährige Reformationsjubiläum gefeiert, in dem die Erinnerung an Martin Luther eine herausragende und allmählich ermüdende Rolle spielt: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) erklärt das in ihrem theologischen Grundsatzpapier „Rechtfertigung und Freiheit“ so: „.. ist er (Martin Luther, Anm. des Verf.) doch eine kraftvolle Symbolfigur, die … mit Beharrlichkeit, Wagemut und Überzeugungskraft zur Identifikation einlädt.“
Worin besteht aber eine so verstandene Reformation? Diesem Jubiläum scheint es vor allem darum zu gehen, den großartigen Anteil der vornehmlich durch Martin Luther geprägten Reformation an Moderne und Freiheit herauszustreichen, die Kirchen sozusagen am Erfolgsmodell der „offenen Gesellschaft“, in der wir leben, teilhaben zu lassen. Kurz und bündig steht es in der Anleitung der EKD „Das Reformationsjubiläum 2017 feiern“ unter der Überschrift „Widerständig sein“: „Eine reformatorisch geprägte Lebenshaltung steht für die freiheitlich-demokratische Grundordnung unserer Gesellschaft ein. Sie motiviert zur Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben.“ Und bei aller Kritik sei der deutsche Protestantismus schon immer eine „Kultur des Widerstands, skeptisch gegen Hierarchien und Autoritäten, gegenüber Fundamentalismus und Missbrauch der Macht“ gewesen.
So wird im Jubiläum mit allen Widersprüchen umgegangen: Alle Kritik wird irgendwie erwähnt, verschwindet aber hinter der Grundannahme des großartigen Anteils des Protestantismus an moderner Gesellschaft und Demokratie und deren unbedingter Legitimität.
Wir wissen alle, was für einen unglaublichen Euphemismus die Formulierung von der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ darstellt, aber die unbedingte Akzeptanz der weltlichen Herrschaft verwundert nicht und reicht bis in die Ursprünge des Protestantismus zurück. Die Welt, so heißt es in Luthers Schrift „Von Kaufhandlung und Wucher“, brauche „ein streng, hart, weltlich Regiment“, und mit dem Evangelium sei kein Staat zu machen, wenn man nicht vom Teufel, respektive vom Chaos regiert werden will. Daher rührt die unbedingte Verpflichtung der Obrigkeit gegenüber und die Hoffnung darauf, dass sie das Chaos überwindet (das die Obrigkeiten in der Regel selbst produzieren) offenkundig bis heute.
Der verdrängte Flügel der Reformation
Ganz anders dachte Thomas Müntzer, der verdrängte und verschwiegene Vertreter des „linken“ Reformationsflügels. Für ihn stand nicht die Frage der individuellen Gnade Gottes, der persönlichen Rechtfertigung im Fokus, sondern die Gerechtigkeit Gottes, die vor der Welt nicht haltmacht, sondern sich ganz im Gegenteil an ihr erweisen muss. Ähnlich wie sehr viel später in der Befreiungstheologie stand für Müntzer das Reich Gottes als Idee und Vorstellung einer Gesellschaft prophetischer Gerechtigkeit im Zentrum seines Denkens und Handelns, an der sich jede Obrigkeit messen lassen muss.
Diese Gerechtigkeit vor dem unerträglichen damaligen Zustand von Armut und Verelendung der Bauern und vieler Handwerker durchzusetzen und als Wille Gottes zu verstehen, war die Grundüberzeugung des großen Gegenspielers von Martin Luther: Gott offenbare sich im Leiden und im Willen zum Widerstand gegen die Herrschaft der Fürsten, die für dieses Leiden verantwortlich seien. Anders als Luther erwartete Müntzer von den Fürsten, an die er zunächst appelliert hatte, nicht, dass sie die Ordnung gegen das gesellschaftliche Chaos gewährleisten würden. Er forderte diese im Gegenteil in seiner berühmten Fürstenpredigt aus dem Jahr 1524 auf, die Anliegen der Bauern zu unterstützen, sich auf ihre Seite und der in der Bibel verkündeten Gerechtigkeit zu stellen. Ansonsten verfalle, so Müntzer an die Fürsten gerichtet, verfalle die Legitimität ihrer Herrschaft und hätten die Menschen ein Notwehrrecht auf Widerstand gegen sie: „Ein gottloser Mensch hat kein Recht zu leben, wo er die Frommen behindert.“ Für Müntzer fand jedes Herrschaftsrecht an den legitimen Bedürfnissen der Menschen seine Grenze.
Für Luther war deshalb klar: Dieser Mann und die Bauern sind des Teufels. 1525 rief er daher zum Massaker an den Bauern in Frankenhausen auf, in dessen Folge fast 6.000 von ihnen ermordet und auch Thomas Müntzer verhaftet, gefoltert und hingerichtet wurde: „Drum, liebe Herren, … Erbarmet euch der armen Leute! Steche, schlahe, würge hie, wer da kann! Bleibst du darüber tot, wohl dir! Seliglichern Tod kannst du nimmermehr uberkommen, denn du stirbst in Gehorsam göttlichs Worts und Befehls (Röm. am 13.) und im Dienst der Liebe, deinen Nähisten zu retten aus der Hellen und Teufels Banden. So bitt ich nu: Fliehe von den Bauren, wer da kann, als vom Teufel selbs.“ (Martin Luther, Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern, 1525).
Es ist schon eine historische Tragik, wenn Martin Luther, einer der schärfsten Kritiker des römisch-katholischen Feudalismus und seines gottlosen Ablasswesens zugleich die erste ökumenische Aktion nach dem Ende der Alleinherrschaft Roms bejubelt hat: die Ermordung der Bauern durch eine Koalition katholischer und reformierter Fürsten.
Thomas Müntzer in Lateinamerika
Die Dämonisierung Müntzers durch die wittenbergische Reformation hat sich Jahrhunderte gehalten. Sie hat selbst die Rezeption Müntzers in der protestantischen Kirche Lateinamerikas geprägt und sie lange um ein genuin protestantisches befreiungstheologisches Erbe gebracht. Erst Mitte der 1970er Jahre öffnete sich die protestantische Theologie im Kontext der Auseinandersetzung um die sogenannte Theologie der Revolution für eine Rezeption Müntzers. Der als Befreiungstheologe geltende argentinische protestantische Theologe Miguel Bonino schrieb damals: „Die Texte der Radikalen Reformation können für die theologische Erneuerung, die auf unserem Kontinent begonnen hat, ein fruchtbringendes Potential haben“. Und wiederum in Argentinien wurde 1983 am ISEDET (Instituto Superior Evangélico de Estudios Teológicos) auf einer Veranstaltung zu Luther und Müntzer gefragt: „ … von welchen Polarisierungsgrundlagen her arbeitet der Theologe: Ordnung gegen Chaos (Luther, Anm. des Verf.), also der Polarisierung der nationalen Sicherheitsdoktrin? Oder Gerechtigkeit gegen Ungerechtigkeit (Müntzer, Anm. des Verf.), die Perspektive der biblischen Option“?
Man kann Thomas Müntzer in vielem als einen Vorläufer und theologischen Vordenker der Befreiungstheologie der siebziger Jahre verstehen: sein Offenbarungsverständnis, die Art, wie er persönliches Heil und weltliche Gerechtigkeit zusammendenkt, und nicht zuletzt seine aus biblischer Lektüre der Propheten gespeiste Herrschaftskritik. Umso bedauerlicher ist es, dass im 500sten Jahr der Reformation dieser Flügel, ebenso wenig wie andere Ansätze der radikalen Reformation, in den vielen Gedenkveranstaltungen und Veröffentlichungen kaum vorkommt beziehungsweise maximal als Kolorit der „eigentlichen“ Reformation Martin Luthers Erwähnung findet.
Diese Leerstelle findet sich auch in der linken ökumenischen Theologie, die um die herrschaftsförmige und stabilisierende Theologie vieler Mainstreamkirchen des Nordens weiß und den Jubelfeiern der EKD etwas entgegensetzen will. Ihr Projekt „Die Reformation radikalisieren“ geht richtigerweise davon aus, dass die Reformation grundlegend neu buchstabiert werden muss1.
Aber auch sie zentriert ihre Re-Lektüre der Reformation um die Person und Theologie Martin Luthers, in dem er unter anderem unter Berufung auf seine Interpretation des 1. Gebotes im großen Katechismus, aber auch unter Berufung auf seine Zins- und Wucherkritik zu einem der ersten systematischen Kapitalismuskritiker uminterpretiert wird. Ob Luther aber zum Beispiel mit seiner Zinskritik wirklich über die damals schon bekannten biblischen und zum Teil auch theologischen Einsichten hinausging, diese Diskussion steht noch aus.
Der Theologe und Journalist Christoph Fleischmann zum Beispiel hat die Frage gestellt, warum Luther, der ja die Verfügungsgewalt über die immaterielle Ressource „Heilsgut“ durch Rom in Frage gestellt hatte, nicht auch – wie Thomas Müntzer und die Bauern – die alleinige Verfügung über materielle Ressourcen infrage stellte.
Man wird also eine angemessene Beurteilung und Beerbung der Reformation nur voranbringen können, wenn ihr Gedenken entpersonalisiert und von der Fixierung auf Person und Theologie Luthers gelöst wird. Dann wäre „radicalizing reformation“ vermutlich auch nicht in die Falle getappt, Luther ausführlichst als Kapitalismuskritiker zu verstehen, die Bauernaufstände aber lediglich im Zusammenhang der Überwindung „religiöser Identitätspolitik und der Überwindung von Gewalt“ durch Luther zu sehen. Luthers Verdienst ist möglicherweise die Mammonkritik, Müntzers Verdienst auf jeden Fall die Herrschafts- und Machtkritik. Beides muss zusammengedacht werden.
Michael Ramminger ist katholischer Theologe und Mitarbeiter des Instituts für Theologie und Politik in Münster. Zuletzt veröffentlichte er zusammen mit Franz J. Hinkelammert, Urs Eigenmann und Kuno Füssel: Die Kritik der Religion. Der Kampf für das Diesseits der Wahrheit, Edition-ITP-Kompass Bd. 21, Münster 2017.
1Mehr zu diesem Projekt in dem Artikel „Der radikale Luther“ von Ulrich Duchrow im Südlink 179.