Lieber J., Am letzten Samstag begannen die Proteste gegen den kommenden Atomtransport, über den wir geredet hatten, mit einer Demonstration. Die Wut über die Entscheidung der Regierung, die Betriebszeiten für Atomreaktoren zu verlängern, trotz ungeeigneten Endlagers weiter Atommüll einzulagern, die Energiekonzerne mit Milliarden zu beschenken, hat 50.000 Menschen auf die Strasse gebracht: Junge, die zum ersten Mal protestieren und Alte, die zum ersten Mal wieder protestieren. Bei vielen Menschen war eine starke Entschiedenheit zu spüren …
Im Sommer habe ich einen Freund im Nord-Osten Brasiliens besucht. Er ist katholischer Priester und kämpft dort mit anderen gegen den Obstmulti Delmonte, der seine riesigen Bananenplantagen massiv mit Pestiziden besprüht: Verseuchtes Grundwasser, Haut- und Krebserkrankungen sind die Folge. Im Frühjahr war gerade ein junger Mann, der sich gegen diese Methoden engagierte, mit fünfundzwanzig Schüssen ermordet worden. Die Landlosenbewegung, Gewerkschaften, Universitätsangehörige und auch Teile der Kirche kämpfen dagegen an. Sie organisieren Öffentlichkeit, Demonstrationen, Betriebsbesetzungen, Blockaden und vieles mehr.
Als wir darüber sprachen, ezählte ich ihm von den kommenden Protesten gegen die Castor-Transporte, von der Atom-Lobby und unserer Regierung und von unseren Protestmotiven: Der Umweltgefährdung, den rücksichtslosen Profitinteressen und unseren Forderungen nach dem Ausstieg aus der Atomenergie nicht zuletzt auch wegen der menschenvernichtenden Uranabbaumethoden. Ich erzählte ihm auch von unseren Protestformen, den Demonstrationen und den Blockaden. Er lächelte etwas müde und fragte mich, ob wir die Blockaden denn auch -wie in Deutschland vorgeschrieben – ordnungsgemäß angemeldet hätten.
Jetzt , am Ende der Proteste, sitze ich hier am Computer und versuche, ihm von den Protesten zu berichten. Ich klicke mich durch die unterschiedlichen Einschätzungen der Agenturen und es wird folgendes Bild deutlich: Die Proteste waren ein riesiger Erfolg wegen der ungeheuren Mobilisierung und des friedlichen Charakters. Dort, wo es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrantinnen bzw. Aktivisten kam, sei die Polizei in der Regel aufgrund der ungeheuren Belastung ausnahmsweise überlastet gewesen oder von „Gewaltbereiten“ angegriffen. So kann es als Fazit auch beim Norddeutschen Rundfunk heissen: „Bei den viertägigen Castor-Protesten waren laut Einsatzleitung bundesweit 11.836 Beamte der Länderpolizeien und 8.156 Bundespolizisten im Einsatz. 131 Polizisten wurden verletzt, 78 von ihnen durch Atomkraftgegner. Die Verletzungen entstanden zumeist durch Würfe von Steinen oder Flaschen. …“
Eine schöne Demonstration, ein paar symbolische Aktionen, ein paar Gewalttäter: eben alles wie gehabt, wenn auch mit mehr Menschen? Ich schreibe also:
Lieber J.,
Am letzten Samstag begannen die Proteste gegen den kommenden Atomtransport, über den wir geredet hatten, mit einer Demonstration. Die Wut über die Entscheidung der Regierung, die Betriebszeiten für Atomreaktoren zu verlängern, trotz ungeeigneten Endlagers weiter Atommüll einzulagern, die Energiekonzerne mit Milliarden zu beschenken, hat 50.000 Menschen auf die Strasse gebracht: Junge, die zum ersten Mal protestieren und Alte, die zum ersten Mal wieder protestieren. Bei vielen Menschen war eine starke Entschiedenheit zu spüren: Wut und Ärger über die Atomenergie, aber auch Wut und Ärger über das Versagen der repräsentativen Demokratie (von der viele, auch bei Euch unter den Befreiungstheologen glauben, dass sie im Grunde bei uns besser funktioniert als bei Euch), die aber immer mehr Menschen bei uns als nichts anderes mehr erscheint als eine Lobby für die Großkonzerne der Energieindustrie und die Banken.
Als es Abend wurde, fuhren viele Menschen nicht nach Hause, sondern blieben hier im Wendland, einer abgelegenen, schönen Gegend von Norddeutschland. Abends waren die extra eingerichteten camps (acampamentos) voll mit Menschen, die für die nächsten Tagen ganz unterschiedliche Aktionen vorbereitet hatten. Die Zelte bestehen nicht aus Plastikfolie wie bei eurer Landlosenbewegung MST, sondern aus regendichtem Spezialmaterial. In dieser Jahreszeit regnet es hier viel und es kann auch schon sehr kalt werden. Die meisten schlafen auf speziellen Matratzen und in dicken Schlafsäcken. Vermutlich gibt es so etwas bei Euch kaum. Leider hat uns das alles nichts genutzt. In der Nacht wurde es besonders kalt, bis zu -7 Grad. Viele konnten nachts nicht schlafen und sind die ganze Zeit herumgelaufen. Am nächsten Morgen war das ganze acampamento mit Raureif (zu Eis gewordenes Wasser) überzogen. So, wie alle sieben, acht Jahre bei Euch in Santa Catarina. Immherhin gab es morgens heißen Kaffee aus der „Volxküche“, sozusagen eine cozinha popular. Wie bei Euch wird das Feuer mit Holz gemacht. Danach sind die Aktivisten (bei Euch sagt man militantes) zum „Schotttern“ losgezogen. Das bedeutet, sie wollten Steine aus dem Gleisbett nehmen, um den Zug mit dem Atommüll aufzuhalten. Man hatte sich gut vorbereitet: Die ersten Reihen, die Mutigsten und die Stärksten, sollten die Polizei, die das Gleis bewachten, ablenken, damit die anderen an den Schienen die Steine wegnehmen können. Dazu muss ich Dir folgendes erklären: Hier bei uns verständigen sich die Menschen vor einer Aktion darüber, was genau gemacht wird und was nicht, damit auch alle wissen, worauf sie sich einlassen. Bei dieser Aktion war vorher vereinbart und öffentlich gemacht, dass man keine Polizisten angreifen will. Das wäre auch Quatsch, weil die Polizisten hier so aussehen wie Arnold Schwarzenegger in Terminator. Den Film kennt ihr ja auch: Schwarze Uniformen, Rüstungen aus Spezialkunststoff an Beinen, Körper und Armen und einen Helm mit Visier, der den Kopf schützt. Sie sind mit Pfefferspraydosen und -tanks, mit Pistolen und mit Tonfas ausgerüstet. Tonfas sind spezielle Schlagstöcke, man kennt sie eher aus Bruce Lee-Filmen. Sie werden als Schlagwaffen, aber auch als Würg- und Hebelwaffen eingesetzt (obwohl das letzte eigentlich verboten ist). Natürlich sehen nicht alle Polizisten so aus. Aber diese speziellen Einheiten (p.e. policia especial BFE Berlim, Sachsen e USK Bayern) sind extra für solche Einsätze eingerichtet worden.
Schon vor der Aktion hatten Politiker und Polizei deutlich gesagt, dass sie das „Schottern“ für Gewalt halten und auf keinen Fall dulden würden. Und so kam es, wie es kommen musste. Die Militanten, erfahrene und unerfahrene, junge und alte wurden von solchen Einheiten erwartet. Und zwar von den gewalttätigsten in ganz Deutschland. Denn es gibt Einheiten, die für ihre besondere Brutalität gefürchtet sind. Einige von ihnen trugen zu anderen Gelegenheiten illegalerweise einen gekreuzten Schlagstock als Emblem, andere tauschen ihre armierten Handschuhe gegen welche aus, die mit Sand gefüllt sind. Damit können dann ernsthafte Verletzungen herbeigeführt werden, weil sie hart wie Stahl sind.
Sobald die militantes nahe genug waren, griffen die Polizisten mit Gasgranaten und Pfefferspray an. Es gibt in Deutschland ein Verbot, sich vor der Polizei zu schützen und zu verstecken. militantes dürfen keine Masken und keine Tücher vor dem Gesicht tragen. Das hätte auch nichts genutzt, weil die gesundheitsschädlichen Chemikalien im Stoff hängen bleiben und dann noch schädlicher sind. Leider gilt dieses Verbot für die Polizei nicht: Sie brauchen noch nicht einmal eine Nummer tragen, damit man sich hinterher beschweren kann.
Wenn die Leute noch näher kamen, schlugen und stießen die Polizisten mit ihren Stöcken zu. Dabei gab es 950 Augenverletzungen durch Pfefferspray, Tränen- und CS-Gas, 16 Knochenbrüche, 29 Kopfplatzwunden und drei Gehirnerschütterungen. Es sollen auch am Boden liegende Menschen bespuckt worden sein. Davon erfährst Du in der offiziellen Presse nichts. Insgesamt wurden über 1.000 Menschen verhaftet.
Ja, und als der Tag vorbei war, was hatten die Leute erreicht? Sie wollten ja wirklich die Gleise zerstören, damit der Zug nicht weiterfahren kann. Die Polizei sagt aber, dass die Gleise bald wieder repariert waren. Wie so oft, ist das, was man erreichen will, nicht das, was man schafft. Was aber erreicht wurde, war, dass die brutalsten und gefährlichsten Polizisten an einer Stelle beschäftigt waren, und deshalb an anderer Stelle fehlten. Dazu hatten übrigens auch die dortigen Landwirte (camponêses) beigetragen, die mit ihren Maschinen die Polizei aufgehalten hatten.
In der Zwischenzeit konnte nämlich an anderer Stelle eine Blockade aus ca. 2.000 Leuten auf den Schienen errichtet werden: Hier gab es einen anderen Aktionskonsens: Die Leute setzen sich auf die Schienen und lassen sich von den Polizisten wegtragen, ohne sich zu wehren. Die Polizei hat das alles zu spät entdeckt und deshalb konnte auch viel Presse und Fernsehen von dieser Aktion erfahren. Eine ganze Nacht saßen die Menschen in der Kälte und haben einfach nur darauf gewartet,wann die Polizei eingreifen würde. Weil soviel Fernsehen dabei war, mussten die dann vorsichtig mit den Leuten umgehen. Aber meistens, wenn keiner mehr zusah, haben sie dann auch ohne Rücksicht auf die Menschen die Leute hunderte von Metern weggeschleift.
Lieber J., Du hast selber viel politische Erfahrung mit dem Problem, dass man Eure Anliegen für illegitim, Eure Aktionsformen für illegal hält und mit der Frage, wie man den unbeteiligten Menschen erzählen kann, was sich wirklich abspielt. Auch mit der Frage, was man eigentlich tut, wenn trotz aller Offensichtlichkeit die breite Bevölkerung (die Politiker und Herrschenden allemal) der Meinung sind, man müsse sich an die geltenden Regeln halten und alle anderen für Terroristen und Gewalttätige hält – und die damit nur ihre eigenen Interessen verteidigen. Bei uns ist das Problem, dass diejenigen, die Demokratie nicht nur für ein Abstimmungsverfahren halten, sondern auch für die Form einer besseren Gesellschaft, und die deshalb die Demokratie radikalisieren wollen, als Gewalttäter bezeichnet und behandelt werden: Wer Steine aus dem Gleis nehmen will, ist ein Gewalttäter und darf deshalb auch geschlagen, geprügelt, mit Chemikalien verletzt und angespuckt werden. Mehr noch: für diese Leute sind die gewalttätigsten und brutalsten Polizisten gerade gut genug. Das will die Mehrheit der Bevölkerung hier nicht wahr haben: Dass es gegen diese Menschen eine spezielle Strategie gibt, eben diese besondere Polizei. Das Gewaltthema wird ganz klug umgedreht. Der Gewaltbegriff wird von Politik und Polizei definiert, von ihnen wird unterschieden, wer Gewalt ausübt und wer nicht. Und dabei wird ihre eigene, gezielt eingesetzte Gewalt unsichtbar. Wirklich unsichtbar: Offizielle Pressefotografen werden verboten, wenn es Ernst wird.
Ich glaube auch, dass viele von Euch das nicht recht glauben mögen. Auf dem letzten Kirchentag hat Jon Sobrino gesagt, dass es in Europa keine Märtyrer gäbe. Ich will jetzt keine theologische Diskussion anfangen. Aber ich glaube, dahinter steckt doch auch die Überzeugung, dass es bei uns in Europa keine Menschen gäbe, die ihr Leben für ihre Überzeugung leben. Und auch die Konsequenzen dafür tragen: Polizeigewalt, Kriminalisierung, keine berufliche Karriere. Ich kann Euch auch irgendwie verstehen, aber: Doch, es gibt sie und es werden momentan immer mehr. Und es sind auch wieder ChristInnen dabei. Das macht mir Hoffnung. Denn, wie Euer Kardinal Paulo Evaristo Arns uns einmal sagte: „Wenn ihr uns helfen wollte, fangt bei Euch an“.
um grande abraço
P.S.: Die Fotos sind von einem linken Fernsehen: graswurzel.tv und von einer alternativen Fotoagentur: http://www.publixviewing.de. Sie haben auch das copyright. Ich hatte keine Zeit, zu fotografieren