Der ITP Rundbrief Nr. 51 ist online.
Inhalt:
editorial
Benedikt Kern
Klimasynode im Braunkohlerevier
Die Klimakrise als Kairos für eine Kirche im Kapitalismus
Andreas Hellgermann
Digitalpakt Bildung oder kritische Vernunft?
Julia Lis und Philipp Geitzhaus
Kirche und rechte Normalisierung
Michael Ramminger
„Wir waren Kirche … inmitten der Armen“ – Das Vermächtnis der Christen für den Sozialismus in Chile
editorial
Liebe Freundinnen und Freunde des ITP, Fridays for Future, Ende Gelände, aber auch die von Papst Franziskus initiierte Amazonassynode katapultieren das Klimathema auf die Tagesordnung. Neben all den gesellschaftlichen Diskussionen um Flugreisen und Autoverkehr bleiben für uns die strukturellen Zusammenhänge zentral: Klimaschutz geht nur ohne eine kapitalistische Logik, die an Wachstum und Profitinteressen gebunden bleibt. Solche politischen und ökonomischen Veränderungen erreichen wir nicht durch Forderungen an „die Politik“, sondern dadurch dass wir uns gemeinsam mit anderen in Bewegung setzen. In diesem Sinne haben wir vor Ort mit ChristInnen und Engagierten aus Sozialen Bewegungen bei einer „Klimasynode von unten“ beraten, wie ökologische und soziale Probleme im Rheinischen Braunkohlerevier zusammenhängen, wo die Verbindung zum Amazonasgebiet liegt und wie wir als ChristInnen und Kirche uns an den Auseinandersetzungen beteiligen können. In einem globalen Kontext steht auch unser Politisches Nachtgebet am 16. November in Münster. Aktuell jährt sich zum dreißigsten Mal das Jahr 1989. Die meisten verbinden es hierzulande mit dem Mauerfall. Es gibt jedoch auch ein anderes 1989 in San Salvador in Mittelamerika: Am 16. November 1989 während des Bürgerkriegs wurden sechs Jesuitenpatres, die Haushälterin und ihre Tochter grausam ermordet. Ziel der Todesschwadronen war es, das befreiungstheologische Engagement im Kampf für eine gerechte Gesellschaft brutal zu brechen. Daran zu erinnern, bedeutet für uns, deutlich zu machen, dass wir an der Utopie des Reiches Gottes festhalten müssen, dass diese „Welt ganz anders“ nicht nur notwendig, sondern möglich bleibt. An dieser Stelle möchten wir auch an unseren Freund Jerry Pöter denken, der am 28. August 2019 nach langer Krankheit verstarb. In unvergleichlicher Weise hat sich Jerry in die befreiungstheologischen Basisbewegungen in Mittelamerika und vor allem in El Salvador eingebracht, wo er auch seit 1989 lebte, kämpfte und arbeitete. Jerry presente! Wir wünschen eine angeregte Lektüre dieses Rundbriefs,
Ihr und euer ITP-Team
Klimasynode im Braunkohlerevier
Die Klimakrise als Kairos für eine Kirche im Kapitalismus
Benedikt Kern
Die weltweit größer werdende Klimabewegung zeigt mit politischen Streiks, Demonstrationen und Aktionen Zivilen Ungehorsams, so wie bei Ende Gelände in den Braunkohlerevieren, bei den Blockaden der Automesse IAA durch die Aktion Sand im Getriebe in Frankfurt und des Hamburger Steinkohlehafens durch das Bündnis deCOALonize: Das Fortschreiten des drastischen Klimawandels hat seine Ursachen in unserer kapitalistischen Wirtschaftsweise. Wenn dieser Planet eine Zukunft haben soll, braucht es eine radikale Veränderung. Bei der Klimafrage geht es nicht nur darum, ob ein paar Südseeinseln und die Stadt Venedig bei steigendem Meeresspiegel untergehen, sondern es wird einen Kampf um Ressourcen und das Überleben in vielen Erdregionen geben, wenn die Folgen des Klimawandels weiter voranschreiten. Klima und soziales Zusammenleben sind deshalb nicht voneinander getrennt zu sehen. Die Klimakatastrophe ist ein politisches, ökonomisches und somit gesellschaftlich erzeugtes Problem. Es steht also alles auf dem Spiel. Die Forderung «system change not climate change» der Klimagerechtigkeitsbewegung bringt es dabei auf den Punkt. Es geht nicht nur um die persönliche Lebensweise, sondern um die Grundlagen dessen, wie wir global unser Leben, unsere Produktion und Reproduktion organisieren. Befreiungstheologisch gesprochen geht es darum, wie wir die strukturelle Sünde, die dem Kapitalismus zu eigen ist, überwinden können, damit ein gutes Leben für Mensch und Natur auf diesem einen Planeten möglich wird.*Es geht um alles Wenn es also um alles geht, gilt das auch für die Kirche und die ChristInnen. Die Amazonassynode der katholischen Bischöfe in Rom hat dies aufgegriffen und angesichts der Zerstörung natürlicher Lebensräume den Zusammenhang von sozialer und ökologischer Frage hergestellt. Wir haben uns von dieser Perspektive inspirieren lassen und zusammen mit dem Diözesanrat der Katholiken im Bistum Aachen, der Initiative «Buirer für Buir» und dem Katholikenrat Düren am 18.-20. Oktober zur «Klimasynode von unten» ins Rheinische Braunkohlerevier eingeladen. Auf der Klimasynode wurden die Fragen nach den globalen Verhältnissen und deren Überwindung aus den Perspektiven der eigenen Erfahrungen und wissenschaftlichen und theologischen Blickwinkeln zusammengetragen. Denn wie das Amazonasgebiet von globaler Wichtigkeit für die Stabilität des Klimas ist, so ist das Rheinische Braunkohlerevier ein Hotspot des Klimawandels: Hier wird ein signifikanter Anteil des europaweiten CO2-Ausstoßes durch die Kohleverstromung seit der Ölkrise in den 1970ern erzeugt. Grund dafür ist das damals wie heute gültige Dogma: Energie muss billig und (politisch) sicher sein, das heißt der nationalen Energieversorgung und dem Standortprotektionismus wird in einem Industrieland alles andere untergeordnet – selbst bei unabsehbaren Konsequenzen für Mensch und Natur. Markus Wissen unterstrich auf der Klimasynode, was er schon in seinem Buch «Imperiale Lebensweise» treffend formuliert hat: «Wer keinen Begriff der kapitalistischen Gesellschaft hat und diese implizit als das höchste Stadium einer natürlich sich vollziehenden Menschheitsentwicklung versteht, die oder der hat der Krise wenig mehr als technische und marktförmige Lösungen entgegenzusetzen.»1*Die Zerstörung drängt zum Handeln Auf der Klimasynode stand das Sehen als erster Aspekt des Dreischritts Sehen-Urteilen-Handeln besonders im Vordergrund. So wurde das beinahe vollständig den Abrissbaggern zum Opfer gefallene Dorf Manheim am Rand des Braunkohletagebaus Hambach sowie der mittlerweile als Widerstandssymbol bekannte Hambacher Wald besucht. Die Schrecken der Zerstörung durch den Energiekonzern RWE aber auch die Hoffnungen des beherzten Widerstands in der Baumhausbesetzung waren für die rund 80 Teilnehmenden sehr beeindruckend. Das hat herausgefordert zu einer gemeinsam verabschiedeten synodalen Abschlusserklärung, die die Probleme des Amazonasgebietes auf das Rheinische Braunkohlerevier in globaler Perspektive übertragen hat und zugleich eine klare Positionierung der kirchlichen AkteurInnen und engagierter ChristInnen eingefordert hat. Denn angesichts der unmittelbaren Zerstörung wird die Notwendigkeit widerständiger Praxis von ChristInnen deutlich. Ganz im Sinne einer Kirche, die an die Ränder geht, ist es deshalb wichtig, dass ChristInnen sich mit den Forderungen und Praxen des Zivilen Ungehorsams der Klimabewegung solidarisieren, bzw. aktiv daran teilnehmen.2 Denn die Aufbrüche durch «Fridays for Future», «Ende Gelände» und andere Klimaprotestbewegungen zeigen: es ist an der Zeit, dem Klimawandel, der durch das «Weiter-so» der kapitalistischen Verhältnisse vorangetrieben wird, «von unten» unsere Hoffnung auf Veränderbarkeit praktisch entgegenzusetzen.
Digitalpakt Bildung oder kritische Vernunft?
Andreas Hellgermann
Zu Beginn eine Scherzfrage: Warum schicken so viele Manager im Silicon Valley ihre Kinder auf eine Schule, in der es keine Computer gibt?
Ach so, ist gar keine Scherzfrage. Laut New York Times ist die Waldorfschule in Palo Alto die beliebteste Schule im Silicon Valley. Und auf die Frage in einem Interview mit eben dieser Zeitung, ob seine Kinder denn nicht auch das iPad lieben würden, antwortete Steve Jobs: „Sie haben es noch nicht benutzt. Wir begrenzen, wie viel Technologie unsere Kinder zu Hause benutzen.“ Das ist zumindest erstaunlich und man darf davon ausgehen, dass die CEOs wissen, was sie tun. Facebook weiß das auch und hat eine schlaue künstliche Intelligenz, die die Gefühle der jungen NutzerInnen von Facebook besser kennt als diese selbst. Facebook tut das mit einem Emotionsanalyse-Tool. So lässt sich die Gefühlslage von Jugendlichen feststellen, die sich „nervös“, „gestresst“, „überfordert“, „ängstlich“, „dumm“, „nutzlos“ oder „wie Versager“ fühlen. Das genau ist der Moment für gezielte Werbung. Diese KI wurde offensichtlich an 6,5 Millionen jungen Menschen in Australien und Neuseeland ausprobiert.
Künstliche Intelligenz
Eine vergleichbare Software gibt es für militärische Einsätze. Sie ermöglicht eine neue Art, den Feind zu erkennen, der dann über tausende Kilometer hinweg mit einer Drohne liquidiert werden kann. Für diese Feinderkennung greifen Programme auf Datenstrukturen zurück, die abweichendes und rebellisches Verhalten feststellen können. Dazu gab es beim Pentagon das Projekt „Social Radar“, eine Software, die die Onlinekommunikation mit einer Gefühlsanalyse kombinierte. Daten sind das entscheidende Material, mit dem eine künstliche Intelligenz gefüttert wird, mit dem sie „lernt“. Woher könnten die großen Internetkonzerne, deren KI-Forschung auf Hochtouren läuft, an eine schier unerschöpfliche Datenmenge von jungen Menschen kommen, mit der Zukunftsvoraussagen, Geschäftsbereiche und immer neue Kapitalverwertungsmöglichkeiten eröffnet werden könnten? Sie bräuchten einen „Digitalpakt Bildung“ und müssten mit den BildungspolitikerInnen an einem Tisch sitzen. Wenn sie den Fuß in der Tür der Kindergärten, Schulen und Universitäten hätten …
Digitalpakt Bildung
Leider stimmt der Konjunktiv nicht. Der rote Teppich ist bereits ausgerollt und die tatsächlich oftmals schlechte Ausstattung von Schulen tut ein Übriges dazu. Die einen sind froh, dass überhaupt etwas passiert, und andere übernehmen die Bildungsangebote in einer Art forscher Vorwärtsverteidigung. Dritte betrachten die Digitalisierung als eine Welle, die auf uns zukommt und an der nun nichts mehr zu ändern ist. Der Bildung bliebe nichts anderes übrig, als SchülerInnen und StudentInnen auf ein gutes „Damit-Zurechtkommen“ vorzubereiten. Einen Plan oder gar wirklich grundlegende didaktische Überlegungen gibt es so gut wie nicht.*Digitalisierung im Kapitalismus Allerdings können weder digitale Enthaltsamkeit noch die von SchülerInnen geforderten individuellen Medienkompetenzen die Lösung sein. Vielmehr muss die Digitalisierung als Teil der globalen kapitalistischen Verwertungsmaschinerie verstanden werden, die mit qualitativen Veränderungen einhergeht. Digitalisierung eröffnet nicht nur neue Geschäftsfelder oder führt in eine neue Verheißung namens Arbeit 4.0. Sie verändert auch die Formen der Ausbeutung. Der Begriff hierfür ist „Plattformkapitalismus“. Plattformen werden zu neuen dominierenden Wirtschaftsakteuren. Auf ihnen werden Waren ausgetauscht, während die Orte der Produktion unsichtbar bleiben. Hier verdingen sich AuslieferungsfahrerInnen und Clickworker und das flexible Niedriglohn-Home-Office hat Hochkonjunktur. Zudem liefert jede NutzerIn einer Plattform ihre Daten zur weiteren Verwertung kostenlos.*Das digitale Subjekt All das macht auch vor Bildungsprozessen nicht halt. In ihnen sollen die Subjekte produziert werden, die in dieser neuen Ökonomie bestehen können, ja, die sie voran treiben.
Das Ideal, so propagiert es auch die Europäische Union, ist der Typus des „digitalen Selbstunternehmers“. Dass damit eine kritische Vernunft auf der Strecke bleibt, ist offensichtlich. In dieser Bildung wird digitalisiertes Denken auf die Größen 1 und 0 reduziert und einer leidempfindlichen Vernunft, zentrale Kategorie Politischer Theologie, wird der Raum zur Entfaltung genommen. Dennoch: Digitalisierung ist kein Schicksal, sondern eine Möglichkeit, die – wie vieles andere auch – nicht in die Hände globaler Konzerne gehört und um die der Kampf erst jetzt richtig begonnen hat. Mit ein paar einschränkenden Gesetzesänderungen wird es dabei nicht getan sein.
Kirche und rechte Normalisierung
Julia Lis und Philipp Geitzhaus
Die Wahlerfolge der AfD bei den letzten Landtagswahlen beunruhigen viele Menschen, insbesondere diejenigen, die unmittelbar zum Opfer von Diskriminierung, rechter Hetze und Gewalt werden. Dabei sind diese Erfolge einerseits Ergebnis des strategischen Vorgehens der AfD und andererseits ein Indikator für die Normalisierung rechter Positionen. Solidarische Parteinahme ist deshalb in diesen Zeiten auf kluge Analyse angewiesen.
Rechte Normalisierung
Im September 2019 hat die AfD in Sachsen ihr bislang stärkstes Wahlergebnis (27,5%) erzielt. Dieses Ergebnis kam allerdings alles andere als überraschend. Schon Monate im Voraus wurden die Möglichkeiten einer Koalition von CDU und AfD in Sachsen eruiert, da man mit einem guten Wahlergebnis der AfD rechnete. Viele prominente CDU-Politiker haben dazu zwar ihre deutliche Ablehnung formuliert. Überlegungen wie diese zeigen aber deutlich, wie die AfD mehr und mehr als normaler politischer Akteur wahrgenommen wird. Das vollzieht sich in der politischen Sphäre genauso wie im gesellschaftlichen Diskurs: Auch wenn die Mehrheit die AfD immer noch ablehnt, werden ihre Vertreter doch als DialogpartnerInnen betrachtet und immer wieder taucht das Argument auf, ein zu deutliches Eintreten gegen Abschiebungen oder für den Kohleausstieg sei kontraproduktiv, weil es der AfD in die Hände spiele.
Christliche Positionierung?
Diese Normalisierung ist somit ein komplexes Phänomen, denn sie drückt sich nicht bloß in aktiver Zustimmung zur AfD aus, sondern durch ihre Akzeptanz bei gleichzeitiger inhaltlicher Ablehnung. So kann man der evangelischen und katholischen Kirche in Sachsen absolut nicht vorwerfen, die Positionen der AfD unterstützen oder bloß akzeptieren zu wollen. Aber in ihren Wahlaufrufen haben die Kirchen gleichzeitig keinerlei Stellungnahme gegenüber rechten oder rassistischen Positionen, wie sie etwa die AfD vertritt, geäußert. Ein solches Schweigen lässt befürchten, dass auch die Kirchen mit der Zeit die Normalisierung akzeptieren und in den gesellschaftlichen Konsens einstimmen, dass man mit den Positionen der AfD zwar nicht einverstanden sein könne, sie aber als Teil einer pluralistischen, demokratischen Diskurskultur zumindest tolerieren müsse. Der Streit darum, ob dies für ChristInnen eine akzeptable Position sei, hat uns am ITP und viele andere bereits im Zusammenhang mit der Einladung eines AfD-Vertreters zum Katholikentag in Münster 2018 beschäftigt. In der „Münsteraner Erklärung“ haben damals TheologInnen gegen diese Einladung mit dem Argument protestiert, dass dadurch die „Normalisierung einer menschenfeindlichen und hasserfüllten Politik“ erfolge.
Rechte Strategien
Das Problem des Umgangs mit der AfD, ihren Postionen, aber auch ihren VertreterInnen und Mitgliedern im kirchlichen Feld taucht zunehmend in Gemeinden, Verbänden, kirchlichen Akademien und Fakultäten auf. Eine Schwierigkeit ist dabei unseres Erachtens, dass es für die Frage nach dem Umgang mit der AfD wichtig ist, sie nicht als isoliertes Problem zu betrachten, sondern in den Kontext einzuordnen, in dem sie steht: Der zunehmenden Aushöhlung von Grund- und Menschenrechten, wie sie etwa in den neuen Polizeigesetzen oder in der verschärften Asylgesetzgebung zum Ausdruck kommen. Diese Entwicklungen werden die ja gerade von Parteien wie CDU und SPD, oft mit Billigung der Grünen, vorangetrieben, die diskursiv immer bemüht sind, sich von der AfD abzugrenzen.
Gegenstrategien entwickeln
Eine mutige, klare Positionierung bleibt darauf angewiesen, zu überlegen, wo und wie man der AfD und ihren Positionen am wirkungsvollsten entgegentreten kann. Dafür aber braucht es eine Kenntnis der Strategien der AfD, die sich nicht darauf beschränken, argumentativ ihre GegnerInnen zu überzeugen, sondern auch einen rechten Diskursraum zu schaffen, in dem rassistische, sexistische und teilweise auch faschistoide Positionen wieder salonfähig werden. Auf diese Weise sollen die Grenzen des gesellschaftlich Sagbaren nach rechts verschoben werden. Zudem erweitert der Aufstieg der AfD organisatorisch die Spielräume unterschiedlicher rechter Gruppierungen, die innerhalb oder im Schatten der Partei agieren können. Um darauf zu reagieren, plant der aus dem InitiatorInnenkreis der „Münsteraner Erklärung für eine mutige Kirche!“ hervorgegangene AK Politische Theologie für Januar 2020 eine Tagung im Haus am Dom in Frankfurt. Gemeinsam wollen wir die rechte Normalisierung analysieren und daran arbeiten, wie eine Positionierung und Parteinahme von Kirchen und ChristInnen aussehen kann und entsprechend Gegenstrategien entwickeln. Dazu laden wir alle ein, die wie wir ein Interesse an der Diskussion dieser Fragen haben!
„Wir waren Kirche … inmitten der Armen“ – Das Vermächtnis der Christen für den Sozialismus in Chile
Michael Ramminger
Zwischen 2015 und 2019 habe ich an einem Geschichtsprojekt zu einer christlichen Bewegung – den Christen für den Sozialismus (CpS) – in Chile gearbeitet, die zwischen 1971 und 1973 entstand und auf der Seite der ersten frei gewählten sozialistischen Regierung Südamerikas, der Regierung der Unidad Popular unter Präsident Salvador Allende stand.
Ein nicht unerheblicher Teil der chilenischen Priester und Ordensleute hatte sich entschlossen, diese Regierung zu unterstützen. Der kürzlich verstorbene Jesuit Pepe Aldunate formulierte es so: „ … am Tag, als Allende triumphierte, war ich auf der Alameda (der Hauptstraße Santiagos, M.R.) und sah mehr und mehr der Ärmsten Santiagos vorbeiziehen: Sie kamen zufrieden, sie sangen und tanzten, weil sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen Präsidenten hatten, der auf ihre Sehnsüchte antwortete … Dort sah ich die Hoffnung dieses Volkes und fasste die Entscheidung dafür zu arbeiten, dass diese Hoffnung nicht enttäuscht würde.“ Die meisten der Priester und Ordensleute lebten in den Armenvierteln, arbeiteten in Fabriken und Betrieben und teilten das Leben der Menschen in den „Poblaciones“.
ChristIn und SozialistIn
Das Besondere ihrer Bewegung bestand darin, dass sie zeigen wollten, dass man als ChristIn auch SozialistIn sein kann. Das versuchten sie theoretisch und praktisch nachzuweisen. Sie wollten keine Parallelkirche sein, sondern diese römisch-katholische Kirche zumindest zum Teil auf der Seite der Armen sehen. Zugleich bestand ihre „Option für die Armen“ nicht nur im Teilen von deren Lebenswirklichkeit, sondern darüber hinaus darin, sich in den politischen Organisationen und Parteien jener Zeit zu organisieren: Sie wollten keinen „dritten Weg“, kein „social-cristianismo“, sondern einfach nur Teil der Kämpfe der Armen werden. In der kurzen Zeit ihres Bestehens trugen sie ihren Teil zum sozialistischen Weg Chiles in den Armenvierteln bei, sie stärkten die politischen Organisationen und zeigten auf, dass die Kirche nicht notwendig auf der Seite der Reichen und Mächtigen stehen muss. Das war für die Unidad Popular, wie auch Allende wusste, ein bedeutsamer Beitrag zur damaligen Politik.
Widerstand und Konflikte
Natürlich führte das zunehmend zu einem Konflikt mit einem Großteil der Hierarchie, also der chilenischen Bischofskonferenz: Sie wurden immer wieder vor ihrem parteilichen politischen Engagement gewarnt, einzelne Priester wurden suspendiert und gemaßregelt: So, wie der Druck der Oberschicht auf die Unidad Popular immer größer wurde, stiegen auch die Spannungen zwischen Hierarchie und den Christen für den Sozialismus (CpS). Im Oktober 1973, kurz nach dem Putsch der Militärs, der sich in die blutige Diktatur verlängerte, veröffentlichte die Bischofskonferenz eine Unvereinbarkeitserklärung von CpS und priesterlicher Existenz. Der damalige CpS-Ordenspriester Martín Garate kommentiert das später so: „Mit diesem Dokument hat die Kirche den Ball an das Militär weitergespielt und sie konnten mit den CpS machen, was sie wollten. Das war die größte Sauerei, die je passiert ist. Und ich verzeihe ihnen das nicht, man muss es der Kirche irgendwann verzeihen, aber nein, das hat den Tod so vieler Priester bedeutet …“
Was bleibt…
Viele CpS-Mitglieder wurden verhaftet, gefoltert, einige ermordet und fast alle mussten sich in das Exil flüchten. Die Bewegung der CpS, eine der ersten befreiungstheologischen Erfahrungen, diese großartige Bewegung in der Nachfolge jesuanischer Praxis wurde auf diese Weise aus der Geschichte gewischt. Viele ihrer Mitglieder waren von dieser Erfahrung mit Gewalt von Kirche und herrschender Klasse in Chile so traumatisiert, dass sie erst Jahrzehnte später darüber sprachen. Ich konnte Interviews mit vielen ihrer Gründungsmitglieder führen und mir wurden Originaldokumente dieser Zeit zur Verfügung gestellt, aus denen ein Buch über diese Zeit entstand. Immer deutlicher wurde mir, dass diese „Wiederentdeckung“ ihren öffentlichen Ort eigentlich in Lateinamerika und in Chile haben müsste und so war es erfreulich, dass sich einer der wichtigsten chilenischen Verlage bereit erklärte, das Buch auch auf Spanisch zu veröffentlichen.
Chile heute
Für uns vom ITP war das der Anlass, nach Chile zu reisen und an verschiedenen Veranstaltungen zum Thema teilzunehmen. Dies geschah in einer extrem kritischen Phase der chilenischen katholischen Kirche. Sie hat vielleicht so wie in keinem anderen Land der Welt durch Missbrauchsskandale und Machtmissbrauch unwiderruflich an Vertrauen bei den Menschen verloren. Aber etwas anderes ist noch viel bedeutender. Die Erinnerungspolitik in Chile konzentriert sich auf die Phase der Diktatur, auf die Menschenrechtsverbrechen und auf den Kampf dagegen, an dem die Basisgemeinden in den 1980er Jahren einen wichtigen Anteil hatten. Aber vielleicht, so sagte uns eine Menschenrechtsaktivistin dieser Zeit, „vielleicht haben wir über die Verteidigung der individuellen Menschenrechte die Verteidigung der sozialen Menschenrechte zu sehr vergessen“.
Erinnerung an die Utopie
Und deshalb ist es wichtig, an die Christen für den Sozialismus, an ihr Engagement und das utopische Potential dieser Zeit zu erinnern. Chile braucht über die Erinnerung an die Menschenrechtsverbrechen hinaus auch eine Erinnerung daran, weshalb die Menschen dieser Zeit verfolgt worden sind: zunächst wegen ihres Engagements für den Sozialismus der Unidad Popular, für ihre Hoffnung darauf, dass eine andere als die herrschende (eben im doppelten Wortsinn) kapitalistische Ordnung möglich und notwendig ist. Auf einem Seminar an der Universität, an der 1973 der berühmte Sänger und Theatermacher Victor Jara verhaftet und später ermordet wurde, waren wir uns als bundesdeutsche ChristInnen gemeinsam mit den Geschichtstudierenden Santiago de Chiles darüber einig: Die Erinnerung an die CpS ist wichtige Voraussetzung und Bekräftigung unserer gemeinsamen Suche nach den Bedingungen und Möglichkeiten einer Welt ohne Gewalt, Herrschaft und Ungerechtigkeit. Und für uns als ChristInnen ist klar geworden: Die Geschichte der Befreiungstheologie ist jedenfalls ohne die Christen für den Sozialismus nicht zu verstehen.