Einige Beobachtungen zur fortschreitenden Technisierung und Schlussfolgerungen zu den politischen und ethischen Konsequenzen
„Alle, die ihr den Herrn fürchtet, vertraut auf den Herrn! Er ist euch Helfer und Schild“ (Ps 115,11)
Von Jan Henrik Röttgers
Der Artikel ist erschienen in der pax christi-Korrespondenz 01/24.
Seit geraumer Zeit verändern sich die Kriege, die momentan auf dem Planeten stattfinden, massiv in ihrer Art. Oft wird in den Diskussionen über die Rechtfertigung dieses oder jenes Krieges gesprochen, die Ursachen und ob Waffenlieferungen erlaubt sein sollen und welche Seite mehr Recht auf ihrer Seite hat.
Dabei wird aber oft nicht über die Art der Kriegsführung gesprochen, obwohl auch daraus Ableitungen über die Rechtmäßigkeit des Krieges geführt werden können. Dieser Beitrag soll die moderne Kriegsführung des 21. Jahrhunderts in den Blick nehmen und die zugrundeliegenden Annahmen.
Zwei der wesentlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte sind zum einen die massive Ausweitung des Einsatzes von Drohnen in den bewaffneten Konflikten und zum anderen die zunehmende Digitalisierung des Krieges, die bereits den Cyberraum als ein neues Gefechtsfeld ausgemacht hat, und in dieser Linie der ausgeweitete Einsatz Künstlicher Intelligenz. Diese Entwicklungen sollen an dieser Stelle im Fokus stehen und näher untersucht werden.
I. Zum Einsatz von Drohnen
Wenn im Artikel von der Kriegsführung des 21. Jahrhunderts die Rede ist, so darf natürlich nicht vergessen werden, dass bestimmte Entwicklungen sich schon früher abgezeichnet haben: Die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) der USA hat bereits viele Jahre vorher die notwendigen Technologien erforscht und ein erstes großes Drohnenprogramm um die MQ-1 Predator-Drohne wurde bereits in den 1990er Jahren aufgelegt. Dennoch kam die Drohnenkriegsführung erst ab den 2000ern durch den „war on terror“ in Fahrt. Die auf die Anschläge vom 11.September 2001 folgende Gesetzgebung in den verschiedenen Ländern stellen dsbzgl. einen Dammbruch dar und legitimieren seitdem einen quasi permanenten Ausnahmezustand im Namen der sog. nationaler Sicherheit mit massiver Überwachung und Kontrolle der eigenen Bevölkerung und dem selbst eingeräumten Recht Gegner in anderen Ländern zu eliminieren. Der „war on terror“ war das Hauptmotiv für die Feldzüge gegen Afghanistan und den Irak mit den bekannten Konsequenzen und hat in einen Kriegszustand ohne Ausweg geführt. Das führt auch dazu, dass asymmetrische Kriege gegen unsichtbare Feinde (Terroristen genannt) legitimiert werden und Drohnenangriffe in den Herkunftsgebieten der Feinde gerechtfertigt sein sollen. Die Anwendung von Drohnen zur Tötung von Terroristen, bzw. Menschen die auf Tötungslisten gekommen sind, ist unter der Obama-Regierung ausgebaut worden, die später in der sog. „Disposition Matrix“ (eine Art Todesliste) eine Ordnung erfahren hat, die jedoch gesetzlich durch nichts gedeckt ist. Somit werden Drohnenoperationen in Gebieten wie Pakistan, Jemen, Somalia, in denen Terroristen vermutet werden, die jedoch nicht offiziell Kriegspartei sind, ermöglicht.1 Drohnen spielen bei den Operationen gegen „Terroristen“ eine entscheidene Rolle. Wichtig ist dabei die Assymetrie zu betonen, denn der Pilot einer Drohne ist nicht unmittelbar mit dem erfassten Ziel auf Augenhöhe, sondern nur durch Kameras und Sensoren auf dem Schlachtfeld anwesend, während er im sicheren Hinterland sitzt. Die Möglichkeit eines Zweikampfes ist damit ausgeschlossen und der Tötungsvorgang geht nur in eine Richtung.
Drohnen spielen aber nicht nur bei den Überwachungs- und Terrorismusbekämpfungsmaßnahmen eine entscheidene Rolle. Spätestens seit dem Krieg um Bergkarabach im Jahr 2020 zwischen Armenien und Aserbaidschan wurde im Kampf regulärer Einheiten gegeneinander die wichtige Bedeutung von Drohnen für die „konventionelle“ Kriegsführung zwischen Staaten deutlich. Man spricht auch davon, dass dieser Krieg der „erste echte Drohnenkrieg“ der Welt gewesen sei, der von Aserbaidschan durch seine Drohnenüberlegenheit gewonnen wurde.2
Auch im Ukrainekrieg werden Drohnen zu einer schlachtentscheidenen Größe und man diskutiert in Militärkreisen bereits daüber, ob die Drohnen die Panzer als Hauptgefechtswaffe ablösen. Die Erfahrungen wie Schwärme kostengünstiger Drohnen scheinbar mühelos sehr teure Panzer ausschalten, deuten auf eine gewisse Plausibilität des Arguments hin, auch wenn mittlerweile die Panzer anders geschützt werden. Auch die Bilder von Soldaten, die vor FPV (first person view)- Drohnen über Felder gejagt werden, um irgendwann erschöpft aufgebend und um Gnade bittend, von einem Sprengsatz getötet werden, sprechen eine eindeutige Sprache. Drohnen sind von den Kriegsschauplätzen nicht mehr wegzudenken.
Sie bieten den sie einsetzenden Kräften zwei Vorteile. Zum einen können sie zur Aufklärung einer unklaren Situation beitragen, was im Krieg immer wichtig ist und zum anderen werden die eigenen „humanen Kollateralschäden“ minimiert, weil die Drohnenpiloten nicht unmittelbar dem Risiko ausgesetzt werden, sterben zu müssen. Jedoch leistet dies widerum verschiedenen gefährlichen und menschenverachtetenden Entwicklungen Vorschub. Die Aufklärung kann auch gründlich schiefgehen, denn die zu verarbeitenden Daten können von den Piloten fehlinterpretiert werden. Der verheerende Luftschlag in Afghanistan 2009 durch die Bundeswehr kann dafür Pate stehen, wo die Aufklärung durch die Drohnen und Handyüberwachung fehlerhaft war, und zahlreiche zivile Opfer forderte. Die permanente Sorge in solchen Konfliktgebieten, Opfer von nicht abwehrbaren Drohnenangriffen zu werden, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, stellt ebenfalls eine unangemessen große Belastung für die Bevölkerung dar. Außerdem ist im Gefecht mit Drohnen das Sich-Ergeben-können nicht mehr möglich. Der gegnerische Soldat kann nur liquidiert werden, ansonsten könnte er zu seiner Einheit zurückgehen. Bei dieser Art der Kriegsführung gibt es also keine Exit-Optionen mehr, sondern nur noch Sieg über die Maschine oder Tod. Gefangene werden durch Drohnen nicht gemacht. Damit verstößt der Einsatz von Drohnen in gewisser Weise gegen die Genfer Konventionen, da die Möglichkeit sich zu ergeben von vorn herein ausgeschlossen ist.
II. Militär-strategische Überlegungen
Drohnen werden bevorzugt eingesetzt, weil durch sie die Geschwindigkeit im Krieg stark erhöht werden kann. Drohnen, die als sog. „loitering munition“ (lauernde Munition) in der Luft über dem Gefechtsfeld kreisen sind auf Anfrage sofort einsetzbar und präzise tödlich und die Überwachung kann quasi rund um die Uhr in Echtzeit stattfinden. Es muss nicht erst aufwendig der Panzer auf das Kampfgebiet gefahren werden, sondern die Drohne ist schneller einsetzbar.
Die Geschwindigkeit ist eine wichtige Kompente in den strategischen Überlegungen in den Heeresstäben zur Kriegsführung. Durch sie kann man einen Vorteil generien. Schon seit Clausewitz‘ „Vom Kriege“, der immer noch an Militärakademien gelehrt wird, ist in den Militärplanungen die Überraschung, die Geschwindigkeit und die Informationsüberlegenheit ein wesentlicher Faktor für den militärischen Erfolg. „Geheimnis und Schnelligkeit sind die beiden Faktoren dieses Produktes, und beide setzen bei der Regierung und beim Feldherrn eine große Energie, beim Heere aber einen großen Ernst des Dienstes voraus.“3
Schon deshalb – nimmt man Clausewitz als Grundlage – ist der Einsatz von Drohnen, die die Kriegsführung immer weiter beschleunigt und Informationen verarbeitet, naheliegend. Gleiches gilt auch für die zunehmende Digitalisierung der Kriege, denn so kann die Geschwindigkeit ebenfalls erhöht werden. Schon lange wurde der Cyberraum als ein neues Gefechtsfeld ausgemacht und in den Militärstrategien der NATO und der Bundeswehr spielen die MDO (Multi domain operation) seit spätestens 2017 eine entscheidene Rolle. Bei den MDOs geht es um die Vernetzung der verschiedenen Kampffelder, um „Effekte zu erzielen“ und den Gegner zu überfordern. Die Vernetzung wird v.a. auch durch die digitale Infrastruktur hergestellt und somit der Datenfluss sichergestellt. Die Kriege können auch abseits der klassischen Schlachtfelder stattfinden, indem bspw. die Infrastruktur des Gegners angegriffen wird und lahmgelegt wird, wie es verschiedentlich bereits passiert.4 In den MDO-Doktrinen spielt die KI eine zentrale Rolle.
Die dabei verwendete KI soll helfen, den „Nebel des Krieges“ zu lichten, indem schnell Informationen geliefert werden und Kommandostrukturen arbeiten können. Dieser „Nebel des Krieges“ ist etwas, das nach Clausewitz quasi naturwüchsig zum Krieg dazugehört und die kriegsführenden Parteien vor Probleme stellt. Um ihm zu begegnen kommt er zu der Annahme, dass Wahrscheinlichkeits-Berechnungen eine wesentliche Rolle spielen. „Aus dem Charakter, den Einrichtungen, dem Zustande, den Verhältnissen des Gegners wird jeder der beiden Teile nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen auf das Handeln des anderen schließen und danach das seinige bestimmen.“5 Da KI im Wesentlichen darauf beruht Wahrscheinlichkeiten zu berechnen und das hinter ihnen liegende Rechenprinzip Wahrscheinlichkeitsrechnung ist, liegt es sehr nahe, die KI mit seiner Wahrscheinlichkeitsberechnung eingreifen und steuernd wirken zu lassen bis hin zur Automatisierung des Tötungsprozesses.
III. Zum Einsatz von KI
Begreifbar, was das heißt, wird das u.a. im Gaza-Krieg, bei dem KI eine große Rolle spielt, wie Recherchen des +972-Magazin ergeben haben. Bei diesen Untersuchungen wurde herausgefunden, dass die eingesetzen KI-Programme die Automatisierung und Geschwindigkeit derart in die Höhe treiben, dass programmierte Maschinen die Entscheidung übernehmen, welches Ziel (Mensch) eliminiert werden soll.6
Eine der wesentlichen Herausforderungen in Gaza für die israelische Armee ist es auszumachen, wo sich die Kämpfer der Hamas aufhalten und sie dann zu töten. War es in vorausgegangenen Konflikten immer noch nötig, dass Militärs anhand einer langen Liste prüfen mussten, ob die verdächtige Person Hamas-Mitglied ist, ob sie eine hohe Position inehatte, wo sie sich aufhält und ob weitere Zivilisten vorort sind, läuft spätestens seit dem Beginn des Krieges im Gazastreifen im Oktober 2023 dieser Prozess immer schneller und automatischer ab aufgrund eines Programms namens „Lavender“. Dieses Programm sichtet die Daten von 2,3 Mio. Palästinenser:innen, die massenüberwacht werden und erstellt Listen, in denen die Wahrscheinlichkeit, das jemand ein Hamas-Mitglied ist, berechnet wird. Das läuft z.B. so ab, dass Handykontakte überwacht werden. Ist ein gesichertes Hamas-Mitglied in den Kontakten eines zu Überprüfenden, steigt die Wahrscheinlichkeit. Hat eine Person ein Bewegungsmuster, das über die verbundenen Handymasten nachvollzogen werden kann, wie häufige Ortswechsel, Treffen mit Militärs usw., steigt die Wahrscheinlichkeit ebenfalls. Dass dieses Bewegungsmuster auch z.B. für Kräfte von NGOs zutrifft und Fehler in der Einordnung auslösen kann, ist ein Zeichen für die Fehleranfälligkeit dieser KI. Wenn aufgrund der Berechnungen von Lavender ein Ziel ausgemacht worden ist, muss dieses Ziel noch mit einem Ort verbunden werden, wo es sich aufhält. Das geschieht mit anderen Programmen, die klingende Namen wie „The Gospel“ oder „Where is Daddy“ haben und in denen jedes Haus im Gazastreifen erfasst ist und die Anzahl der Hausbewohner. Ist dieses Ziel und der Ort ausgewählt, wobei klar ist, dass auch Zivilisten sterben werden, was in Kauf genommen wird, muss die Waffe der Wahl bestimmt werden. Seit Oktober 23 werden dabei oft „dumme Bomben“ genommen, also das Haus schlicht in Schutt und Asche gelegt. Ist auch die Waffe gewählt muss die Freigabe der Bombardierung und die Berechnung der „Kollateralschäden“ neben dem Ziel erfolgen und dann erfolgt der Angriff. Seit Oktober 23 ist die Zahl der in Kauf genommenen „Kollateralschäden“ und auch, ob das Ziel ein niedrigrangiger Hamas-Kämpfer sein darf, massiv nach oben geschnellt. Aufgrund solcher Programme kann der Tötungsprozess wesentlich beschleunigt und automatisiert werden. Zwar überwachen immer noch Menschen die Programme und deren outputs, aber nach den Recherchen von +972-Mag beschränken die sich in der Praxis oft darauf nur auszusortieren, wenn Lavender eine Frau als Hamas-Kämpfer ausgemacht hat, weil das nicht realistisch ist. Dann wird ggf. eingegriffen. Ansonsten kann das Programm nach seinen einprogrammierten Befehle agieren.
Die Blutigkeit des ganzen beschriebenen KI-gestützten Prozesses mit allen fatalen Folgen, zeigt, dass es sich nicht um einen Fortschritt menschlicher Zivilisation handelt, sondern eher um einen Zivilisationsbruch. Die technische Präzisierung sorgt nicht für eine höhere ethische Standards, sondern im Gegenteil für die Dehumanisierung des Krieges.
IV. Päpstliche Kritik an KI
Papst Franziskus ist in seiner Rede an die G7 am 14.6.24 auf die großen Risiken der KI eingegangen und fordert, dass es eine Ethik im Umgang mit KI braucht.7 Er plädiert dafür, dass die letzten Entscheidungen immer noch Menschen überlassen werden müssen, weil die Programme nunmal nicht menschlich sind, sondern nach vorher einprogrammierten Befehlen operieren und keine Vernunft besitzen, sondern nur Lösungen für bestimmte eng definierte Bereiche liefern können. Er setzt auf eine andere Art der Politik, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt und in der die KI den Menschen dienen soll.
Dieser Appell ist jedoch nicht ausreichend. Überspitzt gesagt: Auch wenn bei dieser Art Kriegsführung am Ende der Entscheidungskette am Bildschirm noch ein Mensch mit Joystick und Tastatur sitzt, der die Entscheidung fällt, bleibt es dennoch ein Kampf, der nie auf Augenhöhe stattfindet. Der Wunsch nach einer Ethik für KI wird in der Praxis nicht durch Algorithmen erreicht, sondern durch „Governance“. Die Hersteller von KI-Modellen haben Richtlinien, die sicherstellen sollen, dass eine KI ethisch und verantwortungsbewusst handelt, d.h. eine KI-Aktivität oder ein KI-Inhalt soll nicht rechtswidrig, diskriminierend, aggressiv usw. sein; dieser Ansatz kann jedoch nicht alles abdecken und auch zu Verzerrungen führen.8 Da KI keine Sprache versteht, auch wenn dies immerzu simuliert wird, kann sie keine Zwischentöne oder Konnotationen mitbekommen. Das führt zu Stilblüten und nicht zu profunden ethischen Entscheidungen. So tendieren in Tests Large language modells (KI-Sprachmodelle) dazu schon jetzt nukleare Optionen zu ziehen, wenn diese angeboten werden und handeln aggressiv.9 Außerdem kann im Zusammenhang mit KI natürlich auch gehackt werden, bspw. durch data poisioning, das sind „vergiftete“ Datenbanken, die z.B. suggerieren können, dass ein Atomschlag bevorsteht usw. Eine einprogrammierte Ethik funktioniert also nicht.
Außerdem wird die Position, in der KI und Digitalisierung Risiken, aber auch Chancen im Dienst am Menschen zu sehen, den Gefahren, die von der Digitalisierung und den sie flankierenden Prozessen und leitenden Annahmen nicht gerecht.
V Kritik an der Beschleunigung
An dieser Stelle sei in groben Zügen auf zwei Linien hingewiesen, die grundsätzliche Kritk sind. Eine erste Linie ist die mit der Digitalisierung einhergehende immer weiter gehende Virtualisierung und Beschleunigung, wie am Beispiel der Drohnen exemplifiziert wurde. Ein Philosoph, der sich damit auseinander gesetzt hat, war Paul Virilio. In seiner „Dromologie“ ist er dem Phänomen der Beschleunigung auf der Spur gewesen. Seine These ist, dass die Philosophie in der Postmoderne den Ausgangspunkt von allem, den Nullpunkt, verloren hat. War in der Antike noch die Erde der zentrale unbewegliche Nullpunkt und später das „Ich“, so wird dies durch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Prinzipien aus den Angeln gehoben, weil dort nur das zeitliche und räumliche Intervall gelten, eben die Geschwindigkeit. Als Konsequenz daraus wird das „Ich“ nicht mehr im Sinne des Leibes im Zentrum angesehen, sondern es kommt zu einer verhaltensbezogenenen Dezentralisierung des „Ich“, das virtuell stillsteht, aber die reale Welt verloren hat.
Er hat die Tendenz zur Vergleichzeitigung, die durch die immer weitere Beschleunigung des Datentransfers und das zugrundliegende wissenschaftliche Paradigma geschieht, als einen Punkt des Weltverlusts des Menschen ausgemacht, die letztlich in die Virtualität und den rasenden Stillstand führt.
„Diese Verschiebung weist deutlich auf eine Vernichtung der Philosophie hin. Ganz so wie es am Anfang dieses Jahrhunderts ein Logistiker bezüglich der militärischen Bewgungen erläuterte: »Je größer die Mobilität wird, um so größer wird die Kontolle“ Je größer die Geschwindigkeit der Bewegung wird, um so absoluter, allgegenwärtiger wird tatsächlich die Kontrolle. In dem Maße, in dem die Gechwindigkeit steigt und die „Kontrolle“ abzulösen sucht, ersetzt die Realzeit der Interaktivität endgültig den realen Raum der körperlichen Aktiviität … Die Geschwindigkeit ist also gerade das Alter der realen Umwelt des Menschen, das vorzeitige Altern dieser bestehenden und die objektive Realität konstituierenden Welt, von der Husserl sprach.“10
Diese Entfremdung führt nicht zum Leben. Befreiung spielt in ihr keine Rolle, sondern alles führt zu einer Gesellschaft, die versucht zeitpolitisch die Umwelt, den Stillstand und Virtualität zu kontrollieren und ohne Zeit, d.h. auch ohne Erinnerung auskommt, und steht konträr zur biblischen Kritik an allen kontrollierenden und damit unterdrückenden Strukturen, die Sicherheit versprechen sollen, aber das Leben auslöschen und konträr zur „gefährlichen Erinnerung“ im Glauben an den Gott der Geschichte auf der Seite der Armen. An den Drohnen-Todesengeln kann dies deutlich abgelesen werden.
VI Kritik an der Digitalisierung als Herrschaftsprojekt
Eine zweite Linie ist genau diese Ausweitung der Kontrolle, die durch Digitaliserung passiert, wie sie z.B. im Einsatz der KI im Gazakrieg zu sehen ist. Die Massenüberwachung und Kontrolle durch Algorithmen, stellt grundsätzlich einen „technologischen Angriff“ der herrschenden Klasse dar. Kritik an der Technologie ist darum Herrschafts- und Gesellschaftskritik. Insofern steht Technologie und Digitalisierung nicht auf einem neutralen Boden mit Risiken und Chancen, sondern ist ein Herrschaftsprojekt und als solches zu kritisieren. Da wir in einer kapitalistischen Gesellschafft leben, die auf Ausbeutung, Akkumulation von Kapital und dessen Herrschaft beruht, führt technische Innovation, die von den Staaten und Kapitaleignern orchestriert wird, zu einem Schock und zur Desintegration der Gesellschaft, die dadurch beherrschbar bleiben soll, indem die Subjektivierungsweisen in ihr festgeschrieben werden. Die Digitalisierung führt zur Vereinzelung und Lähmung widerständiger Praxis.
Die Gruppe Capulco weist in ihren zahlreichen Untersuchungen darauf deutlich hin:
„Um zu verstehen, warum wir Innovationen und technischen ›Fortschritt‹ als Angriff charakterisieren, müssen wir uns klar machen, dass gerade die kapitalistischen Innovationstheoretiker:innen und -strateg:innen Innovation als umfassende Offensive konzipieren, als umfassenden Schock. Ein Schock, der auf die Zerstörung und Reorganisation nicht nur der Arbeit zielt, sondern der gesamten Gesellschaft in allen ihren Bereichen, von Arbeit über Verkehr, Familie, bis hin schließlich zu Erziehung und Kultur. Sie sehen Innovationen nicht schlicht als ›Erfindungen‹. Sie konzipieren sie als Einsatz von Basistechnologien, die das Potential zu umfassenden Zerstörungen oder auch »disruptions« und reorganisatorischen Unterwerfungen und Zurichtungen haben.“ […] Weltweit stellen Informationstechnologien heute eine zentrale Säule in der Stabilisierung und Durchsetzung von kapitalistischer Herrschaft dar – sowohl zivil als auch militärisch/polizeilich. Ubiquitous Computing [die Allgegenwart der Rechner, JHR] (zur allgegenwärtigen Erfassung und Verfügbarmachung sämtlicher Alltagsdaten z.B. über das Smartphone) und eine Künstliche Intelligente Modellierung dieser Daten (z.B. zur Verhaltensvorhersage) vor allem mit Techniken des Maschinellen Lernens sind erst durch die enormen Steigerungen der Speicher- und Rechenkapazitäten von Mikrochips in den letzten beiden Jahrzehnten ermöglicht worden.“11
Die Auswüchse dieses Herrschaftsprojekts, das nicht ausschließlich militärischer Art ist, kann bspw. auch an den Maßnahmen während der Covid-Pandemie oder zur Absicherung der olympischen Spiele in Paris abgelesen werden, die massiv überwacht und dank Technologie hermetisch abgeschottet werden sollen.12
Da die kapitalistischen Staaten in einer Konkurrenz zueinander stehen und um die Hegemonie ringen, spielt die Frage danach, wer die mächtigsten Technologien auf seiner Seite hat, eine große Rolle, dienen sie doch der Herrschaftsabsicherung und der Fähigkeit zur Kriegsführung. Schon jetzt ist erkennbar, dass Mikrochips die aktuelle Schlüsseltechnologie darstellen. Die US-Wirtschaft und deren Aktienmarkt wird fast nur noch von NVIDIA, einem der größten Mikrochip-Produzenten, getragen. Es gibt außerdem starke Bemühungen, die Abhängigkeit von Taiwan, wo TMSC immerhin 70-90% der Halbleiter weltweit für die Mikrochips produziert, und China zu brechen und in den USA eine Halbleiterindustrie aufzubauen. Es ist bereits darum von einem Chip-Krieg die Rede, da auch China seine Mikrochip-Industrie aggressiv ausbaut und verteidigt.13
Es gibt einen Wettlauf, um immer ausgefeiltere MDOs zwischen China und den USA und sie entwickeln derzeit neue Kriegskonzepte, bei denen der Schwerpunkt vor allem auf den Hauptverwundbarkeiten der militärischen Systeme des Gegners liegt statt auf großflächiger Zerstörung. Ein selektiver Angriff auf die Betriebssysteme des Gegners könnte mehr bewirken als die Zerstörung einer großen Anzahl von Panzern, Jets und Schiffen. In den USA wird dies z.B. als nicht-kinetische oder kognitive Kriegsführung diskutiert und in China als Multi-Domain Precision Warfare (MDPW). Nach Angaben des US- Verteidigungsministeriums soll MDPW ein C4ISR-Netzwerk (command, control, communications, computers, intelligence, surveillance, and reconnaissance) mit Fortschritten in Big Data und KI nutzen, um Schwachstellen in US-Systemen und -Domänen zu entdecken.14 Dahinter stehen Bemühungen als erstes eine „Künstliche Allgemeine Intelligenz (Artificial General Intelligence: AGI), also eine KI, die das menschliche kognitive Niveau vollständig erreicht, zu entwickeln. Ob dies jemals passieren wird, bleibt jedoch zweifelhaft.
Dieses Bedürfnis nach vollständiger Kontrolle und totaler Herrschaft soll durch die Digitalisierung hergestellt werden. Da dies absehbar zu weiteren Kriegen führt, ist daran und an der Herschaft per se fundamentale Kritik zu üben.
VII Theologische Kritik an der Digitalisierung als Götzendienst
Insgesamt offenbart die Art der Kriegsführung im 21. Jahrhundert mit der zunehmenden Digitalisierung und dem Einsatz von KI und Drohnen dramatische Fehlentwicklungen und führt zur Entmenschlichung. Allerdings helfen wohl Appelle an die Einhaltung des Völkerrechts wenig, wenn alle Kriege aufgrund ihrer Kriegsführung völkerrechtswidrig sind. Wenn das Völkerrecht von den kapitalistischen Staaten beschlossen wurde und Staaten Herrschaftsverhältnisse sind und diese Herrschaftsverhältisse sich in der Art der Kriege zeigt, ist das Völkerrecht als ganzes zweifelhaft und jeder Appell daran bleibt hohl und ein lachhaft, der den Kriegsherren nicht wehtut, die ihre Herrschaft nie aufgeben würden. An der Beseitigung des Militarismus insgesamt ist zu arbeiten und die Herrschaftsverhältisse zu demontieren wäre eher erfolgversprechend.
Und die Herrschaftsverhältnisse, die Sicherheit und Leben versprechen aber nicht einlösen, gleichen theologisch gesprochen einem Götzenkult, der aufgerichtet wurde und nun Menschenopfer fordert. Die Sucht nach Virtualität, Kontrolle und Herrschaft gleicht den in Psalm 115 beschriebenen Götzen, die aufgerichtet werden, und in denen viele ihr Heil erkennen wollen. Aber diese Götzen haben Augen und sehen nicht. Auch die Drohnen haben ihre Kamera-Augen überall und sehen doch gar nichts. Die Götzen bringen keinen Laut hervor aus ihrer Kehle. Auch die KI, die Sprache imitieren soll, bringt keinen Laut und Sprache hervor, sondern nur Aneinanderreihungen von Berechnungen.
Der Psalmist macht sich über die Götzen lustig und demaskiert sie und er rät stattdessen zur Gottesfurcht und Vertrauen auf den Gott des Lebens, der Helfer und Schild sein soll. Gegen die spätmoderne Welt mit ihrer Tendenz zur vollständigen Kontrolle und den Weg in die virutelle Matrix gewendet, kann das heißen, andere Weisen des Zusammenlebens jenseits der Digitalität aufbauen.
1 Vgl. https://www.newyorker.com/news/amy-davidson/john-brennans-kill-list [zuletzt abgerufen: 8.6.24]
2 Vgl. https://www.imi-online.de/2021/04/14/berg-karabach-und-der-erste-echte-drohnenkrieg/ [zuletzt abgerufen: 28.7.24]
3 Vgl. https://www.clausewitz-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2014/12/VomKriege-a4.pdf [zuletzt abgerufen: 8.6.24]
4 Zur Strategie der MDO in der Bundeswehr vgl. auch https://www.bundeswehr.de/resource/blob/5712296/ee4e4d36425e5366cec987225f3752e9/broschuere-data.pdf [zuletzt abgerufen: 28.07.24]
5 Vgl. https://www.clausewitz-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2014/12/VomKriege-a4.pdf [zuletzt abgerufen am 16.7.24]
6 Vgl. https://www.972mag.com/lavender-ai-israeli-army-gaza/ bzw. in deutscher Übersetzung: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181223.gaza-krieg-lavendel-die-ki-maschine-die-israels-angriffe-in-gaza-lenkt.html [zuletzt abgerufen: 28.7.24]
7 Vgl. https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2024-06/wortlaut-papst-franziskus-g7-gipfel-kuenstliche-intelligenz.html [zuletzt abgerufen: 28.7.24]
8 Vgl. https://osnadocs.ub.uni-osnabrueck.de/bitstream/ds-2024070211303/1/KI_Geopolitik_2024_Saalbach.pdf [zuletzt abgerufen: 5.7.24]
9 Vgl. https://www.telepolis.de/features/KI-wuerde-im-Krieg-rasch-Atomwaffen-einsetzen-9624831.html [zuletzt abgeufen: 28.7.24]
10 Virilio, Paul: Rasender Stillstand. Essay, München, 1992, S. 134.
11 https://capulcu.blackblogs.org/2024/05/25/chipproduktion-in-der-multikrise/#more-1025 [zuletzt abgerufen: 1.7.24]
12 Vgl. https://sofie047.wordpress.com/2024/07/26/willkommen-in-pjongjang-an-der-seine-gegenangriff/ [zuletzt abgerufen: 28.7.24]
13 Dieser neue Protektionismus führt aber nicht immer dazu, dass nicht auch in den Waffen des Gegners Chipbestandteile gefunden werden, wie die neue Drohne Albatros Russlands zeigt, in der NVIDIA-Teile gefunden worden sind. Am Krieg lässt sich immer noch gut verdienen. Vgl. https://defence-blog.com/nvidia-technology-found-in-russian-military-drones/ [zuletzt abgerufen: 2.7.24]
14 Vgl. https://osnadocs.ub.uni-osnabrueck.de/bitstream/ds-2024070211303/1/KI_Geopolitik_2024_Saalbach.pdf [zuletzt abgerufen: 5.7.24]