Mission in Aparecida

Von Paulo Suess

I. Der Kontext der V. Lateinamerikanischen Bischofsversammlung

Mission und Missionstätigkeit werden als Hintergrundthemen bei der V. Generalversammlung des Episkopats Lateinamerikas und der Karibik eine entscheidende Rolle spielen. Die Tatsache, dass die Anzahl der Katholiken in Brasilien und – laut Statistik in ganz Lateinamerika – jährlich um 1% abnimmt, während die Anzahl der Mormonen in Brasilien zum Beispiel in den vergangenen sechs Jahren um 460% gestiegen ist, veranlasste die verantwortlichen Gremien dazu, Brasilien als Land und Aparecida als Ort für die Durchführung der Konferenz zu wählen. (1) Manche Kreise hoffen sogar, durch die Verehrung Unserer Lieben Frau von Aparecida und durch eine Missionierung, die aggressives Marketing imitiert, den statistischen Schwund ins Gegenteil verkehren zu können. So gesehen wäre Mission lediglich ein von statistischen Sorgen bestimmtes strategisches Thema. Dem missionarischen Wesen der Kirche entsprechend muss jedoch die größere Sorge einem möglichen Verlust an Qualität oder Funktionalität unserer missionarischen Wirksamkeit unter den Menschen gelten. Zwar haben Qualität und Funktionalität unterschiedliche Merkmale, einiges aber ist ihnen auch gemeinsam.
In der Wirtschaft ist der Begriff Wachstum zum Schlüsselwort geworden. Dieser Begriff kann jedoch keinesfalls einfach auf den religiösen Bereich übertragen werden. Doch an den Extrempunkten der Skala Wachstum/Schwund verwandelt sich Quantität in Qualität. Leere Kirchen wären also auch ein qualitativer Indikator. Dieser würde signalisieren, dass auch die Armen nicht mehr bei uns sind, und damit die Vorhersage Jesu, „Arme habt ihr immer bei euch“ (Jo 12,8) ins Gegenteil verkehrt wäre. Sich mit der Kirche als der „kleinen Herde“ abzufinden, kann schließlich auch einen elitären Aspekt haben und so in Gegensatz zur Universalität der Mission (vgl. Lk, 12, 32) treten. Damit sind hier nur verschiedene Tendenzen oder Möglichkeiten angedeutet. Die Realität der lateinamerikanischen Kirche ist jedoch viel komplexer. Das macht es so schwer, zu einer gemeinsamen Pastoral zu finden. Verweist nun der Exodus aus der Kirche darauf, dass wir der Radikalität des Evangeliums zu viel oder zu wenig gefolgt sind (vgl. Jo 6, 67)? Die evangelikalen Gemeinschaften, die die aus der katholischen Kirche Abwandernden aufnehmen, machen den Neuhinzugekommenen das Leben in doppelter Hinsicht – ökonomisch und moralisch – nicht leicht: Sie fordern die permanente Zahlung des Zehnten und erlauben keine alkoholischen Getränke.
In einer ersten, noch sehr allgemeinen Selbsteinschätzung kann man sagen, dass der zahlenmäßige Schwund der Gläubigen darauf zurückzuführen ist, dass die Kirche an „Attraktivität“ verloren hat. Was aber bedeutet für die Kirche Verlust an „Attraktivität“? Er kann darauf hinweisen, dass die Armen und die Anderen keine Übereinstimmung mehr zwischen dem Evangelium und der gesellschaftlich-politischen Wirkung der Kirche erkennen. Die statistischen Verluste können sowohl auf den Zeitgeist verweisen, der sich schwer tut, langfristige Verpflichtungen zu übernehmen; sie können aber auch auf einen Verlust an Tiefe, Radikalität und Glaubwürdigkeit unseres Wirkens verweisen. Vielleicht haben wir den einfachen Menschen auch zu viele Versprechen gemacht und sie nicht gehalten.

Erinnerung an den bisherigen Weg

II. Anmerkungen zu den bisher gefassten Beschlüssen

Die Delegierten von Aparecida sollten sich weder von Marktstrategien leiten lassen noch müssen sie neue Paradigmen erfinden. Der bisher zurückgelegte Weg weist sie alle auf: Von der kolonialen Mission bis zum II. Vatikanum, vom Dialog des II. Vatikanums zur Befreiung, zur Option für die Armen und zum Inkarnationsprinzip („was nicht angenommen ist, kann auch nicht erlöst werden“) in Medellín (1968) und Puebla (1979) bis hin nach Santo Domingo, wo man versuchte, das Paradigma der Inkulturation zu vertiefen. Gute Texte und Analysen, sogar von den jeweiligen Bischofskonferenzen, stehen zur Verfügung. Aparecida braucht nur einige der seit dem II. Vatikanum gefassten Beschlüsse in die Tat umzusetzen. Die seit Medellín aus den Reihen des einfachen Volkes wie seitens der delegierten Bischöfe selbst erarbeiteten Beiträge sollten nun wirklich angenommen, in den neuen Kontext übertragen und in konkretes Handeln für den Aufbau einer gerechten und solidarischen Gesellschaft umgesetzt werden.
Das einfache Volk und seine Hirten kennen die Vorschläge. Diese lassen sich gleichsam als aus dem Evangelium stammende Imperative in folgenden Kernpunkten zusammenfassen:
– Die Realität, verstanden als Gottes Zeichen der Zeit, zu akzeptieren, muss wieder zum Ausgangspunkt jeglicher theologischen Reflexion und pastoralen Aktion werden, entsprechend dem Prinzip des hl. Irenäus: „Was nicht angenommen wird, wird nicht erlöst.“ (vgl. Puebla 400);
– Die Option für die Armen kann in zwei Richtungen vertieft werden:
a) als Option für die Person Jesu Christi, der sich mit den Armen identifiziert (Mt 25);
b) als Option für die Armen und mit den Armen, indem ihre Subjektivität und ihre Hauptrolle beim Aufbau des Gottesreiches respektiert werden.
– Der Ortskirche theologisch-pastoral anzuerkennen, verlangt strukturelle Änderungen. Die Ortskirche sollte mit jeder Art kolonialer Bevormundung brechen und ihre eigene Verantwortung wahrnehmen.
– Die Ämter sollten vermehrt, dezentralisiert und neu strukturiert werden, damit sie in der pastoralen Praxis wirklich den soziokulturellen Unterschieden, der geographischen Zerstreuung und den spirituellen Bedürfnissen des Volkes Gottes entsprechen können.
– Die Laien in der Kirche, vor allem die Frauen, sollten qualitativ und differenziert beteiligt werden.
– Das Volk Gottes sollte eine deutliche Mitverantwortung bei der Auswahl seiner Hirten haben, mit festgelegten Regeln für die aktive Mitwirkung, allerdings ohne die demokratischen Formalismen der Zivilgesellschaft.
– Ausbildung brauchen die pastoral Verantwortlichen (Diakone, zukünftige Priester, Laien) , die nah beim einfachen und armen Volkes ihren Dienst tun,.
– Der ökumenische und interreligiöse Dialog müsste fortgeführt und vertieft werden.
Alles das wurde bereits beschlossen und in Texten festgelegt. Aus Aparecida könnte Neues dadurch entstehen, dass die bei den vorangegangenen Konferenzen gefassten Beschlüsse aufgegriffen und strukturell umgesetzt werden. Das Volk Gottes ist der ständig neuen Konferenzen, Analysen und Interpretationen, die keine konkreten Folgen haben, müde. Viele Vorhaben sind auf halbem Weg stehen geblieben. Puebla erinnert uns: „Wenn wir nicht dazu beitragen, die Befreiung zu verwirklichen, die Christus am Kreuz errungen hat, dann verstümmeln wir die Befreiung unweigerlich, und wir verstümmeln sie desgleichen, wenn wir den Kerngedanken der befreienden Evangelisierung vergessen, der darin besteht, dass sie den Menschen zum Subjekt seiner eigenen persönlichen Entwicklung und seiner Entwicklung in der Gemeinschaft macht“ (Puebla 485).
Die Delegierten für die V. Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats brauchen Klarheit über die konkreten Schritte, die sie gehen sollen, können und wollen. Die Stimme des Volkes ist dokumentiert, die Interpretation der Realität steht allen zur Verfügung, die Verschiedenheit der indigenen und afro-amerikanischen Völker ist bedroht, der Schrei der Armen liegt in der Luft. Wir brauchen ein neues Pfingsten!

III. Der theologisch-pastorale Leitfaden

Um den Entscheidungsprozess in Aparecida zu erleichtern, möchte ich im Folgenden einen theologisch-pastoralen Leitfaden formulieren, der sich aus den missionstheologischen Reflexionen des II. Vatikanums, von Medellín, Puebla und Santo Domingo ergibt.
1. Die Mission der Kirche hat ihren Ursprung in der „Mission Gottes“ (missio Dei). Diese Mission des Dreieinigen Gottes macht die innertrinitarische Beziehung offen und konkretisiert sich historisch in der Schöpfung, in der Inkarnation und in der Auferstehung (vgl. Konzilsdokument Ad Gentes 2 ff). Durch die Sendung Jesu Christi in die Welt hat die „Mission Gottes“ historische Einmaligkeit, Sichtbarkeit und Verletzbarkeit angenommen. Jesus von Nazareth zeigt uns das väterliche und mütterliche Antlitz Gottes, eines barmherzigen und gerechten Gottes. Jesus führt sein Volk nicht nur an und lebt mitten unter ihm, sondern er identifiziert sich mit dem verwundbarsten Teil dieses Volkes, bis hin zu seiner Parusie (vgl. Mt 25, 31 ff). Die Offenheit von Gottes innertrinitarischen Beziehung zur gebrechlichen Menschheit hin bewirkt eine neue Logik in der Beziehung zwischen Gott und Menschheit sowie der Menschen untereinander. Es ist die Logik des liebenden Gottes, die Logik der Gabe (der Gnade und des geschenkten Daseins) und der Hingabe (Fußwaschung und Kreuz als Dienst schlechthin).
2. Das II. Vatikanum setzte neue theologisch-pastorale Marksteine für die missionarische Tätigkeit der Kirche. Diese missionarische Tätigkeit richtet sich nicht mehr nur nach außen als eine von vielen Aktivitäten. Das Konzil definierte die missionarische Tätigkeit als integrierenden Bestandteil der kirchlichen Identität. Die Konzilskirche versteht sich als im Wesen missionarisch (vgl. Ad Gentes 2) und definiert sich als Volk Gottes, als allumfassendes Heilssakrament und als Mysterium. Das gesamte Volk Gottes ist seinem Wesen und seiner Berufung nach missionarisch. Es ist aufgerufen, „die Liebe Gottes allen Menschen und Völkern zu verkünden und mitzuteilen“ (AG 10).
3. Als das II. Vatikanum in Lateinamerika und der Karibik rezipiert wurde, vollzog sich ein Standortwechsel von „Missionen haben“ zu „missionarisch sein“. Es handelte sich um den Standortwechsel von einer Kirche, die sich um ihre territorialen Missionsgebiete durch Kollekten und Gebete kümmert, damit die nichtchristlichen Menschen der katholischen Kirche zugeführt werden können, zu einer Kirche, in der die missionarische Tätigkeit alle ihre Aktivitäten bestimmt. Auf der Grundlage dieses Missionsverständnisses heißt „katholisch sein“ für uns, den Armen und Anderen „überall Nächster zu sein“ und „Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Welt“ zu haben (AG 36).
4. Die Kirche als Volk Gottes lebt diese Verantwortung inmitten der Konflikte, die durch das gegen Gottes Reich gerichtete Projekt, d. h. durch den Kapitalismus, strukturell verursacht werden. Diese Konflikte werden in menschlichen Antlitzen sichtbar, auf den Gesichtern der Opfer (Puebla 31-41). Es reicht nicht aus, den neoliberalen Kapitalismus humaner gestalten zu wollen bzw. seine Exzesse zu verurteilen. Er ist ein gegen das Gottesreich gerichtetes Projekt. In diesem Antiprojekt wird das Brot nicht geteilt, Macht nicht als Dienst verstanden, werden Privilegien dazu benutzt, noch mehr zusammenzuraffen, dient das Prestige der öffentlichen Zurschaustellung, statt Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. Das Antiprojekt verwirklicht all das, was die Perikope von der Versuchung Jesu in der Wüste erzählt (Lk 4, 1 ff). Diese Versuchungen begleiten die Kirche durch ihre gesamte Geschichte hindurch. Das pilgernde Volk Gottes, „das auf dem schmalen Weg des Kreuzes voranschreitet“ (AG 1c), steht in dieser an Spektakeln und Konflikten reichen Welt an der Seite der Opfer, der Armen und der Anderen.
5. Die Kirche, die ihrem Wesen nach missionarisch ist, hat die Leitlinien ihrer missionarischen Tätigkeit von Jesus von Nazareth gelernt: Sammlung und Sendung. Das heißt, aus der sprachlosen Zerstreuung, aus der undefinierten Menschenmenge, aus dem System, dem institutionellen Apparat herausrufen, um Gemeinschaften von Schwestern und Brüdern zu bilden und diese Gemeinschaften in die Welt zu senden, damit sie die Gerechtigkeit des Gottesreiches verkünden. Darin besteht auch der Sinn des Gemeinschaftslebens von Ordensbrüdern und Ordensschwestern, ebenso wie der Sinn der Kirchlichen Basisgemeinschaften und aller missionarischen Kommunitäten: Sammlung im Dienst an der Sendung und Sendung im Dienst an der Bildung von neuen Gemeinschaften, die das Reich Gottes zu ihrer Sache machen.
6. Zwischen Sammlung und Sendung entstehen neue formale Konturen für die missionarische Tätigkeit der Kirche: die Nähe von Angesicht zu Angesicht (Proximität) in Universalität, Bruch in Kontinuität, und Einheit in der Verschiedenheit.

a) Die universal gelebte Nähe von Angesicht zu Angesicht (Proximität) setzt das aggiornamento fort, das Johannes XXIII. und die Konzilsväter als Strukturprinzip einer in Zeit und Raum eingebetteten theologischen Deutung verstanden haben. Es geht um die mitmenschliche Nähe zur Realität der Armen und um Alternativen zu einer globalisierten Welt, die gegenüber den Differenzen so indifferent geworden ist. In dieser Realität repräsentieren die Armen sowohl die zeitliche und geographische Universalität („Arme werdet ihr immer unter euch haben“) als auch die Kontextualität (Inkulturation, engagiertes Eintauchen), zu denen sich die Kirche herausgefordert sieht. Die Armen und Anderen sind nicht Kontext zum Evangelium, sondern sein universaler Text. „Proximität in Universalität“ versteht sich als Alternative zu kultureller Kolonisierung und gesellschaftlicher Exklusion. „Proximität in Universalität“ weist auf ein neues Verständnis von Einheit hin: vielfältige Lebensprojekte mit unterschiedlichen, aber nicht konkurrierenden Horizonten haben das Recht zur Artikulation.

b) Die Idee des „Bruchs in Kontinuität“ ergibt sich aus einer aufmerksamen Wahrnehmung der Realität. Einerseits ist es ihr Ziel, mit dem System des „ ich mache Gewinne, also bin ich“ zu brechen. Im allgemeinen kommen wir hier nicht über symbolische Brüche hinaus. Andererseits ist es ihr Ziel, mit der Welt, in der Spreu und Weizen vorhanden sind, in Kontinuität zu stehen, ohne von der Welt zu sein. Und das bedeutet tägliche Umkehr. Sich des verdankten Daseins (gratuidade) bewusst zu werden, ist ein immer möglicher, aber niemals abgeschlossener symbolischer Bruch.

c) Einheit in Verschiedenheit bedeutet Einheit im Heiligen Geist mit zugleich historischer und eschatologischer Dimension. In ihr bemühen sich die Verschiedenen auf stets gefährdete Weise um ein gemeinsames Ziel, das unterschiedliche Namen hat: Reich Gottes, eine andere mögliche Welt (Welt-Sozial-Forum), Land ohne Leid (Guaraní). Einheit in der Verschiedenheit verweist auch auf die ökumenische und makroökumenische (interreligiöse) Dimension des missionarischen Wesens der Kirche.

IV. Kontinuität von Engagement und Optionen

Aus dem missionarischen Wesen der Kirche, das sich im Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Welt äußert, ergeben sich konkrete Optionen und Arten des Engagements für die Kirche, die sich als Volk Gottes versteht und durch ihre gelebte Übereinstimmung mit dem Evangelium sowie durch ihre Treue zum Reich Gottes zur guten Nachricht wird.

1. Sich zum Reich Gottes bekehren

Sich zum Reich Gottes bekehren ist eine tägliche Aufgabe. In dieser Aufgabe „evangelisiert“ die Kirche „sich selbst“ (EN 15), indem sie einerseits das Menschenopfer verursachende System denunziert und mit ihm bricht und andererseits zugleich die Gute Nachricht von der unter uns anbrechenden anderen Welt verbreitet (vgl. EN 15). Medellín, aber auch Puebla und Santo Domingo beschreiben diesen Bruch mit theologischen Termini wie „Umkehr“, „neue Schöpfung“, „Option für die Armen“ und „Befreiung“. Aparecida kann vielleicht den Terminus „Unentgleltlichkeit“ (gratuidade) zum Schlüsselwort für die Deutung der Umkehr machen. Durch das Bewusstsein von der „umsonst geschenkten Existenz“ (Unentgeltlichkeit/gratuidade) wird unsere Verletzlichkeit auf ein Minimum reduziert.

2. An der Seite der Opfer auf dem Wege sein und ihr Gedächtnis retten

Das Leben aller Christen in den unterschiedlichsten gesellschaftlich-kulturellen Ausprägungen (Junge, Alte, Verarmte, Migranten, Mittelklasse) ist an die Sache der Armen und Anderen gebunden, die Opfer des herrschenden Anti-Reiches sind. In seinen zentralen Predigten – in der Synagoge von Nazareth (Lk 4), den Seligpreisungen (Mt 5) und der Rede vom Letzten Gericht (Mt 25) – äußert sich Jesus unzweideutig. Kristallisationspunkt seines Projektes, des Reiches Gottes, und dessen Hauptpersonen sind die Opfer (die Armen, Gefangenen, Blinden, Hungernden, Unterdrückten, fremden Pilger, die Elenden und Kranken). Mit den Opfern von gestern und heute auf dem Weg sein bedeutet, ihre Stimmen hörbar zu machen, ihnen zuzuhören und sie zu unterstützen, und zwar durch eine Nähe von Angesicht zu Angesicht, die sich auf ihre Kultur und Lebensverhältnisse einlässt, sowie durch eine Solidarität bis zur letzten Konsequenz.
Für die Armen, die Ausgeschlossenen und kulturell Anderen ist die Erinnerung an die Vergangenheit ein entscheidendes Instrument, um Identität zu gewinnen, die Wunden zu schließen und Widerstand zu organisieren. Die Glut unter der Asche der Vergangenheit zu entfachen, macht die missionarische Tätigkeit zu einem Katalysator der Hoffnung. Wer mit seiner Vergangenheit Frieden gemacht hat, ist vorbereitet für diese Mission ohne Grenzen. Die grundlegende Botschaft der Mission ist die Hoffnung.

3. Die Armen, die Epiphanie Gottes

Die Opfer sind nicht nur die Hauptpersonen bzw. Adressaten des Projektes Gottes, sie sind der Ort, an dem Gott selbst par excellence erscheint. Im Christentum sind Soziale Frage und Rechtgläubigkeit eng miteinander verbunden. Gleichgültigkeit gegenüber der Ausbeutung und Missachtung der Armen ist Sünde. In ihnen erkennt die Kirche „das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war“ (LG 8c).
Nur in der Nähe zu den Armen kann die Kirche ihre Lehre wahr machen. Es gibt eine enge Verbindung zwischen Wahrheit und Armut. Im Christentum hat die Armut Gottes viele Namen: Inkarnation in der Krippe, Kreuz und leeres Grab, eucharistisches Brot. Der damalige Kardinal Ratzinger schreibt dazu sehr treffend: „Die Armut ist die wahre göttliche Erscheinung der Wahrheit“ (2) . Seitens der lateinamerikanischen Theologie ergänzen wir: die Armut, die von den Armen und Anderen, von den Leidenden und den Migranten gelebt wird. Die Migranten mit ihrer radikalen Entwurzelung repräsentieren heute Jesus Christus in besonderer Weise. Durch sie kommt das Evangelium auf die Straße. Die Kirche auf der Straße ist einfach, transparent und österlich.

4. Aktive Mitwirkung praktizieren

Die Armen und Anderen in ihrer Würde und Verschiedenheit anzuerkennen bedeutet sie einbeziehen und teilhaben lassen. Puebla widmete einen der fünf Teile seiner Schlussfolgerungen dem Thema „Gemeinschaft und Mitbeteiligung“ (Puebla 563-891). Darauf hinwirken, dass das Gottesvolk sich an wichtigen Entscheidungen aktiv beteiligen kann, bringt das missionarische Wesen der Kirche kohärent zum Ausdruck. Diese aktive Mitwirkung und geschwisterliche Teilhabe an Befugnissen und Ämtern wird die Option für die Armen durch die Option mit den Armen, die den Weg zum Leben weisen, mit neuem Leben erfüllen.

5. Unentgeltlichkeit in österlicher Haltung leben

Jesus im Heiligen Geist nachfolgen bedeutet, das umsonst geschenkte Dasein (gratitude) in österlicher Haltung zu leben. Das Evangelium der Gnade ist überall präsent, wo aus der Offenheit für das Reich Gottes Leben ermöglicht wird: durch interreligiösen Dialog, durch schweigende Präsenz, im Zeugnis, in Kontemplation und Aktion, durch Solidarität, Erbarmen und Gerechtigkeit, kurzum überall, wo das Wort des Lebens (vgl. EN 22) verkündet wird. Sich dessen bewusst sein, dass das Leben umsonst geschenkt ist (gratuidade), schafft die Voraussetzung für Gewaltlosigkeit, Frieden und für die Hoffnung, dass eine andere Welt – ohne Kosten-Nutzen-Kalkül – möglich ist. Diese Welt wird antizipiert, wenn die Sakramente als Initiations- und Transformationsriten gefeiert werden.

V. Quo vadis Aparecida ?

Die Legende erzählt, dass in der Zeit der ersten großen Christenverfolgungen der hl. Petrus, aus Furcht vor dem Martyrium, aus der Hauptstadt des Kaiserreiches floh. Auf der Via Appia, schon einige Kilometer von Rom entfernt, sah er von Ferne, dass der kreuztragende Christus ihm entgegenkam. Petrus fragte den Meister: „Wohin gehst du, Herr (quo vadis, domine)?“ Und Jesus antwortete: „An deiner Stelle will ich das Kreuz noch einmal tragen, weil du mein Volk verlassen hast.“
Wohin gehst du, Aparecida? Wirst du wieder Versprechungen machen, um sie dann nicht zu erfüllen? Widerstehst du der Logik der Welt mit ihren Strukturen des Ausschlusses und des Konsums der wenigen Privilegierten? Wird es in Aparecida die Umkehr zum Reich Gottes geben? Umkehr zum Reich Gottes bedeutet, von neuem das Wehen des Geistes zu spüren und seine Gaben als Aufgaben akzeptieren. Diese Gaben verweisen darauf a), die Armen uneingeschränkt und unentgeltlich anzunehmen durch Widerstand gegen Ausschluss und Kosten-Nutzen-Kalkül, und b) die Anderen in ihrer ausdrücklichen Verschiedenheit zu akzeptieren, so dass „Einheit im Heiligen Geist“ erst entsteht.
Gegen das Verlangen nach Akkumulation und Exklusion besteht der Heilige Geist auf Teilen, auf Unentgeltlichkeit und auf Würdigung der Verschiedenheit. Die Gaben Gottes werden vermehrt, wenn man sie austeilt. Auf dem Weg sein ist die radikalste Form des Teilens. Die innere Loslösung auf dem Weg und der Reichtum unterschiedlicher Begegnungen birgt die Chance für eine neue Welt. Die Delegierten von Aparecida können mit Mut, Weisheit und persönlicher Selbstlosigkeit neue Wege für die Kirchen Lateinamerikas und der Karibik öffnen.
Der hl. Augustinus sagt, der Heilige Geist ist Gott in der Geste des Schenkens. (3) In der Tradition der Kirche wird derselbe Geist „Vater der Armen“ genannt (Pfingstsequenz), und in Redemptoris Missio ist er „die Hauptperson für die ganze kirchliche Sendung“ (RM 21b). Wenn sich die katholische Kirche dem Problem stellt, wie sie den Pfingstkirchen begegnen soll, bietet sich der Heilige Geist als Führer zur Lösung an, weil er missionarische Tätigkeit, unentgeltliche Zuwendung und die Armen und Anderen zusammenführt. In ihm sind die Mission ad gentes und die Mission ad pauperes vereint.
Die umsonst geschenkte Zuwendung (gratuidade) ist Gottes Art zu handeln. In ihm ist alles Gnade, Großherzigkeit und Erbarmen. Die Armen und Anderen sind die Auserwählten, die die Welt erhalten und verändern sollen. Der Heilige Geist sendet sie. In diesem Heiligen Geist prophezeit Unsere Liebe Frau von Aparecida die Veränderung der Welt: Gott „zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Erniedrigten. Er gibt den Hungrigen Brot und lässt die Reichen leer ausgehen“ (Lk 1, 51 ff).
Umsonst geschenkte Zuwendung bedeutet Einfachheit. Im Gegensatz zu der auf Wettbewerb und auf Ausschluss gebauten Welt, in der alles nach seinem Marktwert beurteilt wird, ist das Christentum seinem Wesen nach daran gebunden, dass durch das Kreuz Christi das Reich der Notwendigkeit beseitigt und der alternative Raum von Nicht-Markt und umsonst geschenkter Zuwendung wieder hergestellt wird. Ausgehend vom Kreuz bestreitet das Christentum, dass überhaupt noch irgendwelche Erlösungsopfer notwendig sind. Es leistet Widerstand gegen jede Macht, die Opfer fordert und Menschenopfer schafft. Das nachösterliche „Opfer“ ist das „Gedächtnis“, die „Danksagung“ (Eucharistie), ist „Solidarität mit den Geopferten“ bis an die äußersten Enden der Erde und in der „Einheit des Heiligen Geistes“.
Wohin gehst du, Aparecida? Das Volk Gottes erwartet Signale der Gerechtigkeit, Gesten des Mutes und Entscheidungen zugunsten aktiver Mitwirkung in der Kirche, nicht um vor dem Imperium zu fliehen, sondern um es zu verändern.
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1. vgl. O Estado de S. Paulo, 10.12.2006, A32
2. J. Ratzinger, Der Dialog der Religionen und das jüdisch-christliche Verhältnis, in IDEM, Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund. 3. Ausg., Bad Tölz: Urfeld, 2003, 93-121, hier 116
3. Augustinus, Die Trinität, Buch XV, Nr. 29

Übersetzung aus dem bras. Portugiesisch: Maria Schwabe/Norbert Arntz