Das Institut für Theologie und Politik hat den tunesischen Philosophen und muslimischen Befreiungstheologen Kacem Gharbi vom 25.05.-08.06.2016 nach Deutschland zu einer Vortragsreise eingeladen. Der Kontakt zu Kacem Gharbi besteht seit dem Weltsozialforum im März 2015 in Tunis und seit unserer Versammlung zum 50. Jubiläum des Katakombenpaktes im November 2015 in Rom, an der er dank der finanziellen Unterstützung der Dr. Buhmann-Stiftung teilnehmen konnte. Die Idee zu dieser Vortragsreise entstand aus dem gemeinsamen Willen, die muslimische Befreiungstheologie mit christlich-politischer Theologie ins Gespräch zu bringen und befreiende Perspektiven des Islam zu unterstreichen und stark zu machen. Wir sind sehr froh, dass die Veranstaltungen in Leipzig, Luzern (CH), Freiburg, Berlin, Münster und Aachen zustande gekommen sind, bei denen mindestens 600 Menschen erreicht werden konnten.
Am 27. Mai 2016 nahm Kacem Gharbi auf dem Katholikentag in Leipzig an der Podiumsdiskussion „Die unerledigte Revolution. Wann sind friedliche Revolutionen möglich und erfolgreich?“ teil. Die MitdiskutantInnen waren Ralf Haska, Pastor der deutsch-evangelischen Gemeinde in Kiew während des Maidan und Ruth Misselwitz, Kuratoriumsmitglied der Stiftung Friedliche Revolution, Pfarrerin in Berlin-Pankow. Inhaltlich ging es bei dem Podium um die Frage nach dem eigenen Erleben gesellschaftlicher Umbrüche (Leipzig 1989, Maidan/Ukraine und den Arabischen Frühling), sowie den unerledigten Aspekten dieser Revolutionen, die es noch umzusetzen gilt in den jeweiligen Kontexten. Kacem Gharbi schilderte seine persönlichen Erfahrungen (er war in den 1990ern acht Jahre lang politischer Gefangener) während des Arabischen Frühlings und dessen erblassten Hoffnungen: „Heute ist Tunesien trauriger Exportweltmeister junger Menschen, die sich dem IS anschließen, weil sie ohne Perspektiven sind.“ Dennoch sei er nicht ohne Optimismus, dass sich von unten her eine radikale Veränderung der Gesellschaft vollziehen könne, wenn der Islam in einer befreienden, d.h. emanzipatorischen Lesart verstanden würde. Dazu leiste er mit anderen zusammen die „Wachstumshilfe erster zarter Pflänzchen“.
Am 29. Mai 2016 gestaltete Gharbi zwei Veranstaltungen im RomeroHaus in Luzern (CH). In einem dreistündigen Workshop verschaffte er den Teilnehmenden einen Einblick in die kapitalismuskritische Traditionen im Islam und erläuterte vor allem die Theologie der Befreiung des 1977 ermordeten iranischen Aktivisten und islamischen Vordenkers Ali Shariati. Im anschließenden öffentlichen Vortrag legt er seine Analyse der Konflikte im arabischen Raum, sowie des Phänomens des IS dar: „Wenn der IS ausgeschaltet würde, könnten sich viele Probleme schnell lösen lassen.“ Die Befreiungstheologie, die leider nur der Ansatz einer intellektuellen Minderheit sei, könne dann zu einer größeren Entfaltung kommen und neue Perspektiven eröffnen. Diese emanzipatorischen Kräfte zu stärken, sei einer der wichtigsten Schritte für die Zukunft. Denn islamistische Fundamentalismen seien nicht gewaltsam zu überwinden, sondern nur durch eine theologische Gegenbewegung, die verhindere, dass sich nach einer militärischen Besiegung des IS nach kurzer Zeit ähnliche Organisationen neu bilden können.
Der Vortrag am 30. Mai in der katholisch-theologischen Fakultät in Freiburg trug den Titel: „Der Islam – Zwischen Emanzipation und Terror. Eine Einführung in und ein Gespräch über die muslimische Befreiungstheologie“. Ca. 60 Studierende und Interessierte nahmen daran teil und beteiligten sich sehr aktiv an der Diskussion über die befreiende Hermeneutik des Islam, die einem traditionalistischen Koranverständnis entgegengesetzt ist. Kacem Gharbi stellte beispielhaft für dieses Denken die islamischen Denker Ali Shariati und Mahmoud Taha vor und verknüpfte dies mit seiner Sichtweise auf den Islam, politische Praxis und gesellschaftliche Veränderung. Dabei unterstrich er die notwendige Allianz zwischen den befreienden Traditionen und Bewegungen im Islam, Christentum und Judentum.
In seinem Vortrag am 01. Juni in Berlin stellte Kacem Gharbi die enge Verknüpfung von Islamismus und Neoliberalismus vor. „Die islamistische Ennahda-Partei hat sich im Mai 2016 in Tunesien zwar für eine vordergründige Trennung von Parteipolitik und Religion ausgesprochen, doch auch das ist strategischer Teil ihrer Neoliberalisierung“, so Gharbi. Die konservative Regierungspartei Ennahda sei gerade dabei, sich ganz der Marktideologie anzubiedern und würde deswegen in Europa als außergewöhnlich fortschrittliche und somit vertrauenswürdige Strömung der Muslimbrüder gefeiert, fügte er hinzu. Er stellte heraus, dass somit die Marktlogik Teil der religiösen Überzeugung werde – wogegen sich ein wirklich fortschrittlicher Islam nur verwehren könne. Ein emanzipatorischer Aufbruch in der Linie des Arabischen Frühlings sei damit jedenfalls wieder einen Schritt weiter in die Ferne gerückt.
Inhaltlich daran anschließend hielt Gharbi am 02. Juni in Münster auf Einladung des ITP einen Vortrag mit dem Titel: „Der politische Islam zwischen antikolonialer Emanzipation und IS-Terror. Politisch-theologische Perspektiven“. Einem breiten politisch und theologisch interessierten Publikum zeigte Gharbi das Verhältnis von Neoloberalismus, Fundamentalismus und dem Phänomen des IS auf.
Am Folgetag, dem 03. Juni, fand im ITP in Münster ein Studientag in unserer Reihe „Theologie in Bewegung denken“ unter dem Titel „Die muslimische Befreiungstheologie. Ihre Traditionen und hermeneutischen Ansätze der Gesellschaftsanalyse“ statt. Im ersten Teil erläuterte Gharbi den 25 Teilnehmenden den hermeutischen Ansatz Tahas, Shariatis und Hanoffis, der die Grundlage der befreiungstheologischen Koranexegese und Entwicklung der daraus folgenden Implikationen ist. Im zweiten Teil wurde in Kleingruppen die Bedeutung des Geldes im Koran bearbeitet. Dabei wurde deutlich, dass die frühe mekkanische Tradition Geld und angehäuften Besitz als moralisch und theologisch verwerflich behandelt: Geld übernehme somit die Funktion eines Nebengottes und sei mit dem monotheistischen Gottesbild des Islam nicht vereinbar. Die Einführung eines islamischen Bank- und Finanzsystems stehe, so Gharbi, in einem eindeutigen Widerspruch zur mekkanischen Tradition, was anhand zahlreicher Koranverse belegt werden könne. Die Teilnehmenden nahmen mit großem Interesse an der Auseinandersetzung mit den daraus folgenden Fragestellungen nach einem postkapitalistischen Islam und dessen Modell einer klassenlosen Gesellschaft teil.
In der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen fand in Kooperation mit Misereor am 06. Juni der letzte Vortrag statt, bei dem Kacem Gharbi vor allem die Wichtigkeit einer befreiungstheologischen Bewegung in der arabischen Welt unterstrich. Der „Islam der Befreiung“ habe viel von den christlichen Basisbewegungen v.a. aus Lateinamerika zu lernen. Eine Kooperation und gegenseitige Unterstützung sei somit notwendig, damit tatsächlich ein theologischer und politischer Wandel in Tunesien und den übrigen muslimisch geprägten Ländern des arabischen Raumes möglich werden könne.
Die große Bandbreite der Themen, die Kacem Gharbi theologisch, philosophisch und politisch bei den Veranstaltungen bearbeitet hat, war sowohl für die Teilnehmenden, als auch für uns als OrganisatorInnen dieses interreligiösen Bildungsangebotes sehr bereichernd. Die aufgeworfenen Themenbereiche haben uns als ITP deutlich gemacht, dass wir unsere Zusammenarbeit mit Kacem Gharbi weiter intensivieren und kontinuierlich weiterführen möchten. Erste Überlegungen für Folgeprojekte, wie die Veröffentlichung von Aufsätzen und die Unterstützung zur Gründung eines Netzwerkes von muslimischen BefreiungstheologInnen, wurden bereits gemeinsam mit Kacem Gharbi angestellt. Als ITP sind wir dementsprechend sehr gespannt auf die Weiterentwicklung unserer theologisch-politischen Kooperation.