rundbrief nr. 26

Editorial

Liebe FreundInnen und UnterstützerInnen des ITP
Im Juni 2007 findet der G8-Gipfel, das informelle Treffen der Regierungschefs der mächtigsten Industrienationen an der deutschen Ostseeküste in Heiligendamm statt. Wir vom ITP sind an den Vorbereitungen der Proteste beteiligt und koordinieren einen internationalen Aufruf an die Christinnen und Christen in Deutschland, sich daran zu beteiligen. Der Aufruf wurde von namhaften BefreiungstheologInnen unterzeichnet. Statt eines Editorials dokumentieren wir ihn hier und möchten Sie und euch dazu ermuntern, auch in Gemeinden und Eine-Welt-Gruppen das Thema G8 zu diskutieren. Wir sind gerne bereit, dabei zu helfen. Wenn sich viele in der einen oder anderen Form beteiligen, wird es hoffentlich ein hör- und sichtbares „Nein“ zur neoliberalen Politik geben. Wir würden uns auch freuen, wenn Sie den Aufruf unterstützen und zu verbreiten helfen. In diesem Sinne, eine wirkliche Zeit des Neu-Anfangs und der Erwartung auf das Neu-Geborene
wünscht Ihnen und euch das ITP-Team

Das Problem des Klerus

José Comblin

Es gibt in der katholischen Kirche ein wachsendes Bewusstsein da­von, dass sich alle pastoralen Probleme um ein fundamentales Pro­blem konzentrieren, und das ist das Problem des Klerus. Dabei geht es nicht um Personen, sondern um Strukturen. Das, was in Frage gestellt wird, ist die Art der Ausbildung des Klerus, das Modell, das man den Schülern vermitteln will und das immer unangemessener wird. Nun, im geltenden kanonischen Recht bedeutet der Priester immer noch alles und der Laie nichts, oder nur ein wenig mehr als nichts. Denn alle Richtungen, die in der Pastoral eingeschlagen wer­den, gehen vom Priester aus, entweder von den Diözesen oder von den Pfarreien. Die schönen Worte, mit denen die Rechtssätze in der neuen Ausgabe des Codex Iuris Canonici formuliert werden, ändern an dieser Situation überhaupt nichts.
Die zukünftigen Priester werden darauf vorbereitet, Pfarreien zu verwalten und dafür die Welt zu evangelisieren. Nun, die Pfarreien erreichen nur einen kleinen Teil derer, die sich noch als Katholiken verstehen. Die große Mehrheit der Bevölkerung steht jedoch verlas­sen da und hat keinen Kontakt mehr mit der Kirche als Institution. …
Es gibt einige Priester, die ausreichend Persönlichkeit besitzen, um die Grenzen ihrer Ausbildung zu überschreiten, aber man kann nicht erwarten, dass viele von ihnen diese Fähigkeit besitzen. In der neuen städtischen Gesellschaft funktioniert die Gemeinde wie ein Ghetto, eine geschlossene Welt, die zur Selbstgenügsamkeit tendiert, die dazu neigt, das gesamte Leben der in ihr Lebenden zu bestimmen. Auf diese Weise entzieht die Gemeinde die Laien ihrer Welt und versucht alle Energien der Gemeindeglieder für sich in Anspruch zu nehmen. Die Pfarrei begründet eine Subkultur, die eine unüberwindbare Bar­riere um sich herum aufbaut: Die draußen fühlen sich ausgeschlossen. Deshalb fliehen viele, vor allem diejenigen, die gesellschaftlich enga­giert sind, aus der Gemeinde und verlieren so auch den Kontakt zur Kirche. Der Klerus ist nicht an den Orten präsent, an denen sich ihr Leben entwickelt.
Deshalb verfügt der Klerus weder über die Fähigkeit oder die Vor­aussetzungen noch über die persönli­che Vorbereitung, um zu evan­­ge­lisieren. Er wartet darauf, dass die Gläubigen kommen, aber er geht nicht auf die Welt zu. Er ist weder mental, psychologisch noch intel­lektuell für einen gleichberechtigten Dialog mit den Männern und Frauen vorbereitet, die in der gegenwärtigen Welt leben. 25 Jahre lang wurde immer wieder an eine neue Evangelisierung appelliert und noch immer gibt es sie nicht. Warum? Weil es eine Struktur gibt, die sie verhindert. Es gibt niemanden, der diese neue Evangelisierung in die Praxis umsetzen würde. …
Die priesterliche Spiritualität der französischen Schule des 17. Jh. machte aus dem Priester einen auserwählten, geheiligten und für die Liturgie bestimmten Mann. Dieses Modell funktioniert heute nicht mehr. …
Unglücklicherweise ist es nicht wahrscheinlich, dass das Priester­problem in absehbarer Zeit behandelt werden würde. Das wahr­schein­lich­ste ist, dass die Hierarchie sich den Legionären Christi und anderen fanatischen und fundamentalistischen Priesterbewegungen ausliefert, die ihnen versprechen, das quantitative Problem der Pries­terzahlen zu lösen und die Welt mit Eroberer-Priestern über­schwemmen werden. Auf diese Weise wird das Problem wieder ver­tagt, aber nicht wirklich gelöst. Denn die Legionäre Christi werden die Welt nicht evangelisieren.

Das „Schweigen der katholischen Soziallehre“ 1

… Zweitens hat die katholische Soziallehre kaum Auswirkungen auf die gegen­wärtige Gesellschaft. Sie scheint keine Wirkmächtigkeit zu haben, gesellschaftliche Veränderungen hervorzurufen. Diesbezüglich ist die aktu­elle Situation zu der des II. Vatika­nums wohl sehr unter­schied­lich. … Man kann der Soziallehre legitimerweise einen gewissen Einfluss auf die Durchsetzung des Sozialstaates zuschrei­ben, wie er in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg installiert wurde. Heutzutage ist der Einfluss der katholischen Soziallehre mit Sicherheit wesentlich geringer.
Drittens schlug das II. Vatikanum absolut keinen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel vor. In dieser Zeit schien der Episkopat ziemlich optimistisch zu sein, was die Einschätzung der da­maligen Situation anging, und er war bzgl. der Zukunft zuversichtlich. Es schien so, als glaubte man, der Sozialstaat sei die Lösung aller Pro­bleme der Welt. Das Konzil konnte die triumphale Rückkehr des Liberalismus in den siebziger und den folgenden Jahren nicht voraus­sehen. Niemand hatte diese Situation vorausgesehen. Aber man hätte dem kapitalistischen System gegenüber an sich kritischer sein können. …
Nun, bis jetzt gibt es ein großes Schweigen der Kirche über den Kapitalismus an sich. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben jedoch einiges gelehrt. Es reicht nicht, den wilden oder extremen Kapitalismus zu kritisieren, wir müssen zum Ausdruck bringen, was das kapitalistische System an sich für einen Christen bedeutet. Alle gemeinsam müssen nach einem anderen Gesellschaftsmodell suchen. Dieses kann nicht auf einmal entstehen, sondern wird das Ergebnis vieler Veränderungen sein. Aber wir müssen wissen, wohin wir wol­len, wohin wir kommen müssen. Wir müssen alle Bewegungen ermu­tigen und unterstützen, die alternative Gesellschaftsmodelle entwi­ckeln oder dafür kämpfen, um einige neue Strukturen durchzusetzen, die von einem neuen Modell inspiriert sind.
… Ein weiteres Problem ist die strukturelle Ar­beitslosigkeit. Seit zwanzig Jahren befinden wir uns in einem Krieg der Unternehmen gegen die Gewerkschaften, die nun sehr ge­schwächt sind. Damit fahren die Unternehmen in der ganzen Welt fort, die Löhne der Arbeiter zu drücken: Arbeiter haben immer weni­ger Anteil am Bruttoinlandsprodukt. …
Aber es gibt noch etwas viel wichtigeres. Das soziale Handeln der Kirche seit Leo XIII. wurde durch Lehrdokumente vermittelt durch­geführt. In dieser Zeit schenkte man geschriebenen Dokumenten noch Aufmerksamkeit. Heutzutage gibt es eine solche Flut von Do­kumenten, dass ihnen niemand mehr Aufmerksamkeit schenkt. Wir brauchen bedeutsame Gesten. Wir brauchen symbolische Gesten im geeigneten Moment unter gut gewählten Bedingungen. Man braucht keine universale Lehre zu verkünden. Die Kirche muss sich zu be­sonderen Gelegenheiten an einmaligen Orten und Zeiten ausdrücken, um verständlich zu machen, worin ihre Botschaft besteht. Nur spek­takuläre Gesten erheischen Aufmerksamkeit, wie z. B. der Hunger­streik des Bischofs von Barra, Luis Flávio2 . Alle Fernsehsender waren gezwungen, über dieses Ereignis zu berichten. Wenn die Brasiliani­sche Bischofskonferenz ein Dokument zu diesem Thema veröffent­licht, interessiert das niemanden.
Das soziale Zeugnis der Kirche muss sichtbar werden, verankert im Bedeutsamen, von bedeutsamen Personen gegeben. Der Papst lockt das Fernsehen stärker an als ein Bischof, ein Bischof mehr als ein Priester und ein Priester mehr als ein Laie. Diejenigen, die stärker der Öffentlichkeit ausgesetzt sind, haben eine größere Verantwor­tung.
Im Falle der Soziallehre der Kirche brauchen wir ein soziales Zeugnis der Kirche. Das Problem besteht darin, dass Do­ku­mente nicht verpflichten, öffentliche Zeichen aber verpflichten. Für die vatikanische Bürokratie wie für jede Büro­­kratie ist genau das das Problem: Wie den Eindruck vermitteln, dass man Position bezieht, ohne eine Position zu bezieh­en? Dafür eignen sich Dokumente her­vorragend. Sie sind mit so vielen Farbtönen, so vielen Konturen, soviel Stil und Eigenschaften redigiert, dass sie den Eindruck vermit­teln, als würden sie etwas sagen, und sagen doch nichts.

Die zwei Optionen

In Medellín und Puebla haben die Repräsentanten der lateinamerika­nischen Bischöfe die Option für die Armen getroffen. Diese Option wurde von der römischen Kirche nie akzeptiert, sondern bekämpft. … In der Pra­xis hat sich die Option für die Armen in den Kirchen insgesamt nie durchgesetzt, weil diese direkt nach Puebla eine größere Annäherung an die Bourgeoisie durch die sog. „neuen Bewegungen“ suchten. Die tatsächliche Richtung der Kirche wurde immer mehr von diesen so­genannten „Bewegungen“ bestimmt, die ausschließlich bürgerliche Bewegungen mit einer konservativen Theologie waren.
Heutzutage taucht die Frage angesichts der Verschlechterung der sozialen Verhältnisse, angesichts der wachsenden Anfechtung in der ganzen Welt gegen das System neoliberaler Globalisierung wieder auf: Steht die Kirche zu Gunsten der Reichen oder der Armen ein? Es handelt sich dabei nicht nur um eine Frage von bloßen Worten. In Worten sind alle für die Armen und alle erklären sich zum Dienst für die Befreiung der Armen bereit. Aber die Diskurse bedeuten nichts. Man muss die Taten und konkreten Ergebnisse in den Blick nehmen.
Eine Option für die Reichen ist sehr gut möglich und stellt eine starke Versuchung dar. Es ist die Option für die Macht. … Die neoliberalen Regierungen fühlen, dass ihre soziale Basis immer schwächer wird. … Sowohl die Regie­run­gen als auch die Wirtschaft können die ideologische Unterstützung, die ihnen die Kirchen geben können, zu schätzen wissen. Und die Mächtigen können die Hilfe, die ihnen die Kirchen geben können, großzügig zurückgeben. Bereits das Schweigen der Kirche über die existierenden Verhält­nisse ist eine große Hilfe. Das Schweigen besitzt eine sehr starke stabilisierende Wirkung. Um eine Option für die Macht zu treffen, würde es ausreichen, die dominierende Linie weiterzuführen. Zur Zeit akkumuliert die Kirche vor allem in Lateinamerika Macht und Instrumente der Macht. Das Opus Dei zeigt den Weg und viele andere Bewegungen folgen der Fahne der Macht. Sie schweigen angesichts der sozialen Verhältnisse und nutzen die Möglichkeiten, die ihnen die kapitalistische Gesell­schaft bietet – und davon gibt es viele.
option-1.jpg Ist eine Option für die Armen im Sinne von Medellín und Puebla gegenwärtig möglich? Die Verhältnisse haben sich verändert und der Inhalt einer Option für die Armen ebenfalls. Heute würde sie bedeu­ten, präsent zu sein innerhalb der Gesamtheit von Organisationen, die gegen das gegenwärtige Modell kämpfen. Sie wäre eine Präsenz der Kirche inmitten der Armen, was nur durch die Förderung von Missionaren aus dem Volk selber möglich wäre, da der Klerus in seiner gegenwärtigen Verfassung keine Voraussetzungen dafür be­sitzt, diesen Weg zu gehen. Es hieße, die notwendige Autonomie der Basisgemeinden unter ihrer eigenen Leitung zu gewähren.
Ein günstiger Umstand dafür ist, dass einige Teile der Hierarchie kürzlich entdeckt haben, dass die großen Massen des Volkes die ka­tholische Kirche verlassen. Dieses neue Bewusstsein könnte eine Nachdenklichkeit und den Willen hervorrufen, zu verhindern, dass dieser Auszug komplett voll­zogen wird. … Es wäre jedoch erforderlich, den Mut zu haben, notwendige Institutionen und Räume zu schaffen, die eine wahre Kirche der Basis hervorbringen könnten. … Wenn die Kirche die Menschen wirklich halten will, muss sie … ihre Strukturen selbst ändern. Der Klerus wird diese Aufgabe nicht übernehmen. Daher müssen wir dringlichst einen anderen Typus des Amtes vorbereiten, der von der Basis ausgeht und missionarisch ist.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt befindet sich die Institution wie in einer Wartehaltung. Viele warten darauf, dass aus Rom eine Richtung vorgegeben wird. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass von dort eine Richtung vorgegeben wird. Die Bürokratien geben keine Rich­tung an. Deshalb ist das Warten oftmals sinnloses Warten.
Wir erwarten das Kommen authentischer Personen, die die Be­wegung anstoßen und leiten. Ohne prophetische Führungen wird nichts geschehen. Öffnen wir die Augen, um sehen zu können, woher sie kommen. Es ist nicht möglich, dass Gott seine Kirche verlassen hat. Solche Leitungspersonen müssten bereits anwesend sein, wenn auch verborgen, unerkannt, versteckt. Warten wir auf ihr öffentliches Auftreten.

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1 Dieser Ausdruck ist der Titel eines wichtigen Buches von Padre Jean Yves Calvez, Paris 1999.
2 Luis Flavio führte 2005 wegen einer geplanten Umleitung des Flusses Rio São Fran­cisco in Brasilien einen zweiwöchigen Hungerstreik durch. [Anm. d. Ü.]
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Dieser Text ist ein Auszug aus dem gleichnamigen Artikel von José Comblin in unse­rem neuen Buch: „Der unterbrochene Frühling – Das Projekt des II. Vatikanums in der Sackgasse“, edition ITP-Kompass, Münster 2006, 250 S., 16, 80 Euro. Das Buch ist bei uns oder über den Buchhandel erhältlich.

Deutsch-kubanisches Seminar auf Kuba

Sandra Lassak
Wenn hier in Deutschland von Kuba die Rede ist, begegnen einem in der Regel Begriffe wie „letzte kommunistische Bastion“, „Diktatur“ oder „Menschenrechtsverletzungen“. Da hilft dann auch der Verweis auf die Errungenschaften der Kubanischen Revolution nicht weiter, auf Gesundheitsversorgung und Bildungswesen, auf die sehr niedrige Säuglingssterblichkeit, auf den „Export“ von gut ausgebildeten Ärzten und die Tatsache, dass von den täglich in dieser Welt verhungerten 20.000 Kindern keines kubanisch ist.
Wenn wir allerdings mit unseren FreundInnen und PartnerInnen in Lateinamerika sprechen, dann ist die Reaktion auf das Stichwort Kuba anders: Die Errungenschaften der kubanischen Gesellschaft und auch das kubanische System erscheinen angesichts der verheerenden Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus in ihren eigenen Ländern als echte historische Fortschritte. In dieser Perspek­tive wird Kuba nicht zum „Reich Gottes“, aber sie ermöglicht eine realistische Einschätzung.
Vom 2.-13.10. 2006 haben wir in Kooperation mit dem Centro Memorial Martin Luther King (CMMLK) in Havanna ein internationales Seminar durchgeführt. Das 1987 gegründete und nach dem US-amerikanischen Baptistenpastor und Bürgerrechtler Martin Luther King benannte Zentrum ist eine in verschiedenen christlichen Kirchen verwurzelte Organisation und überschreitet in seinem Engagement nicht nur Konfessions-, sondern auch Religionsgrenzen. Wir, die acht TeilnehmerInnen aus Deutschland, bekamen in der ersten Hälfte des Seminars durch Besuche und Einführungen Einblick in Wirtschaft, Geschichte, Theologie und Religionen Kubas und auch in das Verhältnis von Staat und Kirche.
Ein Thema der Gespräche war immer wieder die wirtschaftliche Situation des Landes, die Wirtschaftsblockade durch die USA und die Ent­wicklungen der letzten Jahre auf dem Hintergrund der periodo especial, der sogenannten Sonderperiode. So wird in Kuba jene Phase in den 90er Jahren genannt, mit der auf das Ende der intensiven Außenhandelsbeziehungen mit der Sowjetunion reagiert wurde. Diese Phase war, wie uns Gladys Her­nández vom Forschungszentrum für Weltwirtschaft erläuterte, von akuten und extremen Versorgungsengpässen für die Bevölkerung geprägt. In dieser Krise, die über mehrere Jahre andauerte, wurden verstärkt marktwirtschaftliche Mechanismen in die kubanische Wirtschaft eingeführt und der Dollar wurde eine Zeit lang zur Parallelwährung. Zwar ist die kubanische Wirtschaft inzwischen wieder auf Wachstumskurs, doch noch immer ist das Land und sind die Menschen auf Devisen angewiesen. Vor allem durch ausländische Unternehmen, Tourismus und Rücküberweisungen von KubanerInnen im Ausland gelangen sie ins Land. Dies führt natürlich zu Ungleichheiten zwischen denen, die Zugang zu „Peso Convertible“, wie die Dollarersatzwährung heißt, haben, und denen, die in nationalem Geld bezahlt werden: für eine auf Gleichheit gründende Gesellschaft wie Kuba eine erhebliche Belastung.

ALBA – wirtschaftliche Morgendämmerung

Auf dem lateinamerikanischen Subkontinent zeichnet sich seit einiger Zeit ein politischer Richtungswechsel ab. Die Menschen haben die neoliberale Privatisierungspolitik satt, die alle Bodenschätze und Reichtümer der Länder in die ausschließliche Verfügung internationaler Großunternehmen gebracht hat. In diesem Kontext stärker werdender Protestbewegungen gegen den Neoliberalismus und im Zuge der Wahlsiege linker und sozial orientierter Parteien wird Kuba zunehmend wieder zum Referenzpunkt.
Aber auch für Kuba selbst bedeuten die von einigen als „Linksruck“ bezeichneten politischen Veränderungen neue ökonomische und politische Perspektiven. Neben dem starken Handelspartner China werden Venezuela und Bolivien zu wichtigen Bündnispartnern in der Region. Durch neue politische Allianzen ist es Kuba zur Zeit auch möglich, dass seit mehr als 40 Jahren von den USA aufrechterhaltene Handelsembargo zu unterlaufen. Juan Valdés Paz und Ariel Dacal, Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter am Centro Martin Luther King, erläuterten die neue Situation am Beispiel des gerade neu vereinbarten Kooperationsabkommens ALBA zwischen Venezuela, Kuba und Bolivien. ALBA steht für Alternativa Bolivariana para las Américas (Bolivarische Alternative für Amerika). Der Name bezieht sich auf Simon Bolivar, der im vorletzten Jahrhundert die Idee einer großen, unabhängigen Regionalmacht Lateinamerika vertreten hat. Ziel der Kooperation ist ein solidarischer Han­dels­aus­tausch zwischen den Ländern unter Berücksichtigung der jeweiligen nationalen Bedingungen. Dieses Ab­kom­men, das der lateinamerikanischen Integration und regionalen Zusammenschlüssen Vorrang gibt, wird bewusst der von den USA proklamierten, gesamtamerikanischen Freihandelszone von Alaska bis Feuerland ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas) entgegen gestellt. ALBA bedeutet im Spanischen aber auch „Morgendämmerung“ und steht damit für einen neuen Aufbruch, für neue Formen der Solidarität der Völker. So bietet Kuba z.B. zahlreichen venezolanischen Studierenden die Möglichkeit des Medizinstudiums an der Lateinamerikanischen Schule für Medizin in Havanna. Kuba bildet dort jährlich 1.500 MedizinerInnen aus 24 Ländern aus. Die lateinamerikanische Schule für Medizin, deren Besuch gleich zu Beginn unseres Aufenthaltes auf dem Programm stand, ist ein Beispiel für die Bedeutung internationaler Solidarität in der kubanischen Politik.
Die wirtschaftliche Krise der 1990er Jahre konnte weitestgehend überwunden werden und die Veränderungen und Aufbrüche auf dem lateinamerikanischen Kontinent zeigen, dass Kuba dort nicht politischer und wirtschaftlicher Isolation ausgesetzt ist. Dies sind zwei wichtige Bedingungen dafür, dass die inneren Widersprüche, die Reform­blockaden überwunden und die Hand­lungs­spiel­räume erweitert werden können, die für eine Zukunft des sozialistischen Projektes auf der Basis der Beteiligung der Bevöl­kerung notwendig sind. Diskussionen über die Zukunft Kubas werden, so haben unsere Erfahrungen gezeigt, geführt. Ob sie Kuba angesichts des Unwillens Europas, der pathologischen Aversionen der USA und der verblendenden Kraft des neoliberalen Kapitalismus eine Zukunft verschaffen können, bleibt offen.

Der Ort der Theologie

Und wo verorten sich Theologie und Kirchen in diesen Prozessen? Werden sie in der Lage sein, notwendige neue politische Prozesse zu begleiten? Viele traditionelle und historische Kirchen, aber auch pentecostale Gemeinschaften und afro-kubanische Religionen bedienen ganz klassisch religiöse Bedürfnisse oder engagieren sich caritativ. Das Centro Martin Luther King, mit dem wir das Seminar durchführten, versteht sich als ein Ort inmitten der Gesellschaft. Es ist ein Ort gesellschaftlicher und theologischer Reflexion, aber auch ein Ort, von dem gesellschaftliche Einmischung und Mitgestaltung, z.B. in sozialen Stadteilprojekten oder Bildungsarbeit ausgehen. Und vielleicht sind es gerade solche Orte, in denen Utopien Wirklichkeit werden, die gegen gesellschaftliche und auch theologische Orientierungslosigkeit die Hoffnung denk- und lebbar machen.

Bibellektüren

Wie soche Reflexion praktisch aussehen kann, wurde in einer gemeinsamen und doch unterschiedlichen Bibellektüre an einem Numeri-Text deutlich: Wir, die TeilnehmerInnen aus Deutschland, konzentrierten uns besonders auf die Frage nach der Bewahrung des Gesetzes (Thora), die der „Privatisierung“ des Landes entgegenwirken soll, während die KubanerInnen sich mit der Unzulänglichkeit, ja sogar Starrheit des Gesetzes beschäftigten, dass Gleichheit garantiert. Der Bibeltext wurde für uns – positiv – jeweils zum „Gebrauchsgegenstand“, um eigene Fragen und Probleme ins Gespräch zu bringen und machte uns zum Schluss unseres Besuches noch einmal deutlich, mit welcher Ernsthaftigkeit ChristInnen in Kuba darüber diskutieren, wie eine Zukunft in Gleichheit und Gerechtigkeit aussehen kann – ganz anders als in Europa.
Wir sind mit neuen Ideen, veränderten Perspektiven und mit Hoffnungen zurückgekehrt, und mit der festen Verabredung mit den KollegInnen des Centro Martin Luther King, den begonnenen Austausch in gemeinsamen Arbeits­vorhaben fortzusetzen. Es ist bereits eine weitere kontextuelle Bibelarbeit zum Buch Ezechiel verabredet. Außerdem werden wir versuchen, ein gemeinsames Jahresthema zu entwickeln und zu bearbeiten. Und wir werden versuchen, bereits bestehende internationale Zusammenhänge wie die Weltsozialforen oder das Forum für Theologie und Befreiung für unsere weitere Zusammenabeit zu nutzen.

ReligionslehrerInnentreffen

Ricarda Koschick
Anfang November hat sich der Arbeitskreis „Religionslehrerinnen“ getroffen und die Fachtagung “Widerständiger Religionsunterricht“, die im Mai in Bad Hersfeld stattfand ausgewertet. Ausgehend von den Impulsen T.Veerkamps und N. Mettes während dieser Tagung haben wir uns auf sechs Eckpunkte widerständigen Religionsunterrichts geeinigt, die unser Programm in den nächsten zwei Jahren bestimmen sollen:
• Grundlagen der Schrift und Bibelarbeit in der Schule
• Situation von Schülern und Elternhäusern: über die „Gnadenlosigkeit“ des Bildungssystems.
• Konstruktionen von Standardisierung und Normierung: über einen „Gegenbildungsbegriff“ des Religionsunterrichts.
• Eindeutigkeiten schaffen: die Scheinverheißungen des Kapitalismus aufdecken und die Rolle des Lehrers reflektieren.
• Entschleunigung, Zeit und Verdichtung der Lernzeit
• Widerständige Praxen (Tipps und Tricks).
Thema des nächsten Treffens, das am 17.2.2007 von 10.30 bis 16.00 Uhr stattfinden wird, ist “Grundlagen der Schrift – die Schrift als Grundlage.“ Es geht um die Frage: Was erzählen wir wann wie unseren Schülern von den Grundlagen der Großen Erzählung, ohne museumskundlich zu sein.

Kohelet-Lektüren im Gespräch

Christine Berberich
Im September dieses Jahres hatten wir im ITP Gelegenheit, mit Carlos Mesters, Lucia Weiler und Edmilson Schinelo vom brasilianischen Centro de Estudos Biblicos (CEBI), ein Werkstattgespräch zum Buch Kohelet zu führen, an dem gut 30 Interessierte teilnahmen.
Aufgrund der Abfolge der in der brasilianischen Kirche üblichen Bibelmonate „zufällig“ ausgewählt, ließ dieser Text zunächst den Einfluß der unterschiedlichen Kontexte auf die Lektüre besonders deutlich werden. Gerade das empfanden die Beteiligten im Verlauf des Gesprächs als ausgesprochen bereichernd für das eigene Verständnis.
Das Buch Kohelet entstand in der Zeit des Hellenismus, vermutlich ca. 250 v. Chr., einer Zeit der politischen „Ruhe vor dem Sturm“, der ein knappes Jahrhundert später mit den Makkabäeraufständen ausbrechen sollte. Die Gründe waren bereits in der Zeit Kohelets deutlich: Ein ökonomisches System, das die Ordnung der Tora aushebelte und zur Verelendung breiter Bevölkerungsschichten führte, während eine kleine Oberschicht davon profitierte. Diese paßte sich gleichzeitig der griechischen „Leitkultur“ der Herrschenden an, was für die Bevölkerungsmehrheit eine massive Bedrohung und bald auch direkte Unterdrückung ihrer jüdischen Identität bedeutete.

Radikale Kritik, aber bescheidener Auftrag?

Der Autor (oder möglicherweise die Autorin) des Buches Kohelet beschreibt und kritisiert den Zustand dieser Gesellschaft schonungslos, soweit die übereinstimmende Wahrnehmung der „brasilianischen“ und der „deutschen“ Lektüre. Was die daraus folgenden Empfehlungen an die LeserInnen angeht, gingen die Meinungen zunächst auseinander:
Seitens des ITP-Teams hatten wir ein gewisses Unbehagen gegenüber dem Buch zur Sprache gebracht, das auch mit unserem kirchlichen Kontext in Deutschland zusammenhing – zu genau schien der Rat, sich mit dem kleinen, privaten Glück zufriedenzugeben und sich nicht durch politische Einmischung in Gefahr zu bringen, zur Haltung einer bürgerlichen Kirche zu passen, die in ihrer Selbstbeschränkung auf das „Machbare“ nicht mehr über die persönliche Anständigkeit und bestenfalls eine Politik der kleinen Schritte hinaus denken will. Kann, so war unsere Frage, nur ein Autor, dem es selbst trotz allem Leiden an den Verhältnissen noch gut genug geht. auf diese Weise über den Sinn des Lebens philosophieren, ? Und was sollen diejenigen, deren Leben durch diese Verhältnisse unmöglich gemacht wird, mit seiner Antwort anfangen?
Diesen Fragen standen die Erfahrungen aus der Praxis des CEBI gegenüber, das als Netzwerk von Bibelgruppen eine im „einfachen“ Volk veran­ker­te Bibellektüre anleitet. Dabei beginnen die TeilnehmerInnen mit einem Gedankenaustausch über Fragen und Probleme ihres konkreten Lebens und hören den biblischen Text als eine Stimme in diesem Gespräch. Sie entdecken Parallelen in der Erfahrung der Wirklichkeit und finden konkrete Hilfen für die Bewältigung ihres Alltags. So ist bei der Kohelet-Lektüre z. B. die Erfahrung der Sinnlosigkeit, für die Bereicherung anderer zu arbeiten, und der Aussichtslosigkeit der Politik unmittelbar nachvollziehbar. Auch müssen für Menschen, deren ganze Energie von der Organisation des Über­lebens beansprucht wird, die Schritte klein genug sein, um nicht zu verzweifeln, sondern zu sehen, daß sie überhaupt etwas tun können.

Worin liegt die befreiende Botschaft?

Autor(in) und ursprüngliche AdressatInnen des Buches gehörten vermutlich tatsächlich einem Personenkreis an, den man heute als Mittelschicht bezeichnen würde – materiell hinreichend gesichert, gebildet – was für eine befreiungstheologische Lektüre aber durchaus kein Hindernis sein muß. Schließlich, so erinnerte Carlos Mesters, haben solche Menschen oft eine wichtige Rolle in Befrei­ungsbewegungen gespielt. Was also wird diesen LeserInnen in einer politisch aussichtslos erscheinenden Situation gesagt?
Nach der Methode jüdischer Weisheitsliteratur präsentiert das Buch keine fertige Lehre, sondern stellt These und Gegenthese nebeneinander und will zum eigenen Denken provozieren.
Alles, was der „common sense“ für wichtig hält – Reichtum, Macht, Ansehen, sogar das Streben nach Weisheit – bezeichnet Kohelet als sinnlos, Nichtigkeit, „Windhauch“. Gleichzeitig durchzieht das Buch wie ein roter Faden der wiederholte Hinweis auf Dinge, die doch nicht sinnlos sind: Essen und Trinken, gute zwischenmenschliche Beziehungen und Freude am eigenen Tun. Und immer wird dabei betont, daß dies von Gott geschenkt ist.
In diesem Zusammenhang fiel der Begriff Mystik: Vielleicht müssen Menschen, die sich um der scheinbaren Werte willen abstrampeln, die Wertschätzung der elementaren Dinge des einfachen Lebens erst wieder lernen, um die Empörung da­rüber, daß diese einem Teil der Menschheit vorenthalten werden, wirklich empfinden zu können.

Gegen den Mythos der „Eigenverantwortung“

Anhand zahlreicher Beispiele widerlegt Kohelet den sog. Tun-Ergehen-Zusammenhang: die Vorstellung, in der bestehenden Welt sei Wohlergehen der Lohn, Not und Leiden die Strafe Gottes für (moralisch) richtiges bzw. falsches Verhalten. Diese Theologie war stellenweise in der älteren Weisheit anzutreffen und feiert derzeit in den neopentecostalen Kirchen Lateinamerikas als „Theologie der Prosperität“ fröhliche Urständ – in säkularisierter Form auch in der neoliberalen Entsolidarisierung gesellschaftlichen Denkens durch eine Leistungs- und Eigenverantwortungs-Ideologie, die die Ungleichheit der Ausgangsbedingungen und damit die Frage nach Gerechtigkeit völlig ausblendet.
Kohelet wendet sich an Menschen, die Tora und Propheten kennen: Sie wissen, daß ihr Gott Leben für alle will. Das Buch erinnert daran, daß niemand sich dieses von Gott geschenkte Leben selbst verdienen kann – gerade über die eigene Leistungsfähigkeit, Jugend, Gesundheit kann niemand verfügen –, und daß nicht etwa ein strafender Gott den Menschen das Leben schwer macht, sondern eine von Menschen gemachte falsche Ordnung – wirtschaftlicher Erfolg beruht auf der Ausbeutung anderer, die Mächtigen beugen das Recht, die Dummheit wird zur Herrschaft erhoben und der Weise wird nicht gehört, weil er arm ist.
Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, erkennt die „Schweinerei“ (so Elsa Tamez’ Übersetzung für „Windhauch“). Und doch ist die mitschwingende Bedeutung „Nichtigkeit“ für einen befreienden Blick entscheidend: Man muß nicht mitmachen …

Suche nach Alternativen

Dennoch blieb eine gewisse Ratlosigkeit, was die Handlungsperspektiven in diesem Buch angeht. Hilfreich war eine weitere historische Rückfrage: In der nachexilischen Gesellschaft gab es zwei einander widerstrebende Tendenzen, die der Eliten zum Arrangement mit den Herrschenden und die hauptsächlich von Gelehrten vertretene zur kulturellen Abschottung. Beide Wege haben nach Ansicht Kohelets keine Zukunft, statt dessen gehe es um die Wiederherstellung der egalitären Clan-Gesellschaft, die nach dem Exodus in der Tora grundgelegt wurde.
Aber dieser Hintergrund wird kaum explizit angesprochen, vielmehr konzentriert sich der „Rat“ des Buches tatsächlich auf den Genuß des einfachen Lebens und die Pflege solidarischer Gemeinschaft im unmittelbaren Umfeld. Wege müssen die LeserInnen selbst finden, zur Orientierung ist ihnen die Aussage gegeben, daß der Wert, für den es sich zu leben lohnt, das gute Leben für alle ist.
Der Anfang der Umkehr ist das Umdenken, so der weisheitliche Grundsatz, und dazu kann aus diesem Buch vor allem gelernt werden, daß Gesellschaft und Ökonomie nicht von all den als „Windhauch“ entlarvten Dingen her zu denken sind, sondern vom konkreten Leben und den Bedürfnissen der Menschen her. Von da aus können sich Gemeinschaften auf die Suche nach einer anderen Lebensweise begeben.