rundbrief nr. 27

Liebe Freundinnen und Freunde des ITP,

wir haben diesen Rundbrief des ITP zeitlich ein wenig vorgezogen, um rechtzeitig über unsere Aktivitäten im Rahmen des Protestes gegen das G8-Treffen in Heiligendamm Anfang Juni informieren zu können. Wir haben schon Ende 2006 den Aufruf „Christen auf nach Heiligendamm!“ von Christen aus Afrika, Asien und Lateinamerika veröffentlicht, in dem sie uns hier in Deutschland auffordern, uns an den Protesten gegen das selbstherrliche G8-Treffen mit seinen politisch falschen Entscheidungen zu beteiligen. Wir werden uns dort nicht nur mit einem eigenen Motto beteiligen, sondern haben auch internationale Gäste dorthin eingeladen: Nancy Cardoso (Brasilien), Joel Suárez, Ariel Dacal und Kirenia Criado vom Centro Memorial Martin Luther King in Havanna/Cuba und Boniface Mabanza (Dem. Republik Kongo). Wir laden herzlich ein, nach Rostock und Heiligendamm zu kommen und mitzumachen.
Der genannte internationale Aufruf hat Folgen gehabt: Einige der UnterzeichnerInnen sahen sich angefragt, ihre Unterschrift doch zu begründen. Dies ist insofern erfreulich, dass es erstens zeigt, dass der Aufruf wahrgenommen wird, und zweitens, weil damit Positionen erklärt werden, und zwar deutlich. Wir drucken eine Begründung von brasilianischen Freundinnen ab.
Die Internetseiten des ITP waren im März/April gut besucht, und zwar zu Recht. Gesucht wurden dort vor allem aktuelle und gute Informationen zum Konflikt, den die römische Kirchenbehörden und der Papst mit dem Befreiungstheologen Jon Sobrino hat. Der Konflikt dreht sich vordergründig um christologische Fragen, die Person Jesu und seine Botschaft vom Reich Gottes. Im Hintergrund aber steht etwas anderes: die befreiungstheologische Option für die Armen und die damit verbundene Einsicht, dass Glaube erst „erlernt“ wird an der Seite der Armen. In der jüdisch-christlichen Tradition geht es zuerst um Gerechtigkeit, aus dem Tun der Gerechtigkeit erwächst Gotteserkenntnis und Glaube. Konsequent umgesetzt heißt dies aber: eine andere Kirche ist nicht nur möglich, sondern nötig: Extra pauperes nulla salus, ohne die Armen kein Heil.
Für Kirchenleitungen eine harte Nuss, denn eine Kirche im Bündnis mit den Reichen ist immer noch einflussreicher als eine an der Seite der Armen. Es geht also um „alles“. Und der Konflikt geht weiter. Man darf gespannt sein auf die lateinamerikanische Bischofskonferenz im Mai 07 in Aparedica/Brasilien. Wir werden auf unseren Internetseiten soweit möglich aktuell von dort berichten (www.itpol.de).
Eine segensreiche Lektüre wünscht
das ITP-Team

Die Todsünden der G8

Vom 6.-8. Juni 2007 treffen sich in Heiligendamm an der Ostsee die Staats- und Regierungschefs der sogenannten G(roßen) 8. Angesichts der Politik, die in den vergangenen Jahren bei den G 8-Treffen vertreten und ausgehandelt wurde, ist auch klar, dass es zu Protesten kommen wird. Um sich davor zu schützen, ist bereits ein 12 km langer und 2,50 Meter hoher Zaun um den kleinen Ort Heiligendamm gebaut worden. Die Vorbereitungen der Proteste laufen auf Hochtouren. Es wird am Samstag, den 2. Juni 2007, eine internationale Demonstration in Rostock geben. Vom 3.-6. Juni gibt es Aktionstage zu den Themen Landwirtschaft und Patente, Migration und Militarismus, Krieg und Folter. Vom 5.-7. Juni findet ein sog. Alternativgipfel statt. Gleichzeitig wird es Versuche geben, die Zufahrtsstraßen nach Heiligendamm zu blockieren. Das Institut für Theologie und Politik hat zusammen mit anderen Organisationen bereits früh einen internationalen Aufruf koordiniert, in dem ChristInnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika die Menschen in Deutschland aufrufen, sich an den Protesten zu beteiligen. Wir werden unsere Beteiligung an den Protesten unter das Motto stellen: Die Todsünden der G8.

Hochmut und Anmaßung

Die G8 maßen sich an, Politik für alle Menschen zu machen, als gewählte Staats- und Regierungschef vertreten sie aber nur 13 % der Weltbevölkerung. Sie vertreten eine Politik, die Menschen und Völker ausbeutet und ins Elend stürzt und auch in ihren eigenen Ländern Armut produziert, während der Reichtum Weniger in unermessliche Größenordnungen steigt.

Habsucht und Gier

Sie können nicht genug bekommen, ihre Sucht nach Macht und Reichtum ist unersättlich. todsunde-habgier.jpgSelbst unter dem Deckmantel „Afrika helfen“ verstehen sie „Investitionssicherheit“, setzen mit politischer und ökonomischer Macht Freihandel in Afrika, Asien und Lateinamerika durch und schotten die eigenen Märkte ab. Vor allen Dingen aber schotten sie ihre Territorien und ihren Wohlstand gegen MigrantInnen ab, mit hohen Mauern und Zäunen sowie rassistischer Verfolgung. So starben in den vergangenen Jahren ca. 400 Menschen jährlich an den EU-Außengrenzen, ca. 300 jährlich an der Grenze zwischen Mexiko und den USA.

Zorn / Rachsucht / Krieg

Sie treiben Völker in Kriege, wo es ihnen zur Durchsetzung eigener ökonomischer oder politischer Interessen opportun erscheint, so z.B. in Zentralafrika, im Nahen Osten, im Irak und Iran, in todsuende-krieg.jpgAfghanistan, in Sri Lanka, und sie scheuen auch nicht davor zurück, Gegnerschaften auf Kosten der Bevölkerungen leichtfertig kriegerisch auszutragen.

Unmäßigkeit / Völlerei

todsuende-voellerei.jpgSie treiben den Energie- und Ressourcen-Verbrauch hoch, indem sie die entsprechenden Industrien subventionieren. Ihr Energie-Hunger führt zu Kriegen, Klimakatastrophen, atomaren Verseuchungen etc. Sie eignen sich Ressourcen (Öl, Gas, Mineralien etc. an) und sichern gleichzeitig Produktionsverfahren (Patente, Ideen, Erfindungen) unter dem Stichwort „geistiges Eigentum“ für sich. So werden z.B. Länder, die günstige AIDS-Medikamente produzieren, mit Verfahren und Boykotten überzogen.

Trägheit / Zynismus

Sie sind handlungsunwillig angesichts des Elends, der Armut und des vorzeitigen Todes von täglich mehr als 20.000 Menschen. Sie nehmen den Tod von Menschen aufgrund der Schuldknechtschaft (Auslandsschulden) als Opfer hin. Sie behaupten, dass diese Opfer für Fortschritt, Entwicklung und Wohlstand weltweit unvermeidbar oder gar notwendig seien. Dies alles tun sie in vollem Bewusstsein, nur notdürftig mit Sachzwängen kaschiert.
Wir laden ein und rufen auf, sich an dieser Demonstration zu beteiligen. Wer mitmachen möchte, melde sich bitte im Institut für Theologie und Politik. Dort ist eine Materialmappe für die Vorbereitung zu erhalten. Wir möchten die Beteiligung nicht nur unter ein gemeinsames Motto stellen, sondern auch das Erscheinungsbild entsprechend durch farbige Umhänge, Trommeln, Masken und Plakate gestalten. Diese Materialien können dann bei Bedarf während der anderen Protesttage weiter benutzt werden. Wir sehen uns in Rostock und Heiligendamm!

Wir danken E. Trebitz sehr herzlich für die Anregung zu dieser Aktion!

Warum wir „Nein“ sagen zu G8

Romi Márcia Bencke, Graciela Patrícia Cornáglia, Sônia Gomes Mota, Sandra Regina Viau, Maribel Lindenau, Elisabeth Trampusch/ Brasilien

„Wehe denen, die Unheil ersinnen und böse Taten auf ihren Lagern! Beim Morgenlicht führen sie es aus, weil es in der Macht ihrer Hand steht. Begehren sie Felder, sie rauben (sie), und Häuser, sie nehmen (sie) weg; und sie üben Gewalt am Mann und seinem Haus, am Menschen und seinem Erbteil.“ (Mi, 2,1-2)

Lateinamerika steht erneut im Mittelpunkt. Zum einen haben patriarchale Strukturen der konservativen Kirche aufs Neue ihren Blick auf prophetische Theologien gerichtet, die die Unterdrückung der Armen durch die Mächtigen anklagen und befreiende Prozesse der unterdrückten Völker verheißen. Ebenso aber rückt Lateinamerika auch ins Visier patriarchaler Strukturen der entwickelten Länder, die seit Jahrhunderten darauf aus sind, unseren Kontinent in einen Raum zu verwandeln, der ihnen frei zur Verfügung steht, dessen Reichtümer sie ausplündern, den sie ausbeuten und beherrschen können, und die verhindern, dass wir autonom sind und uns zu souveränen Ländern entwickeln.
Dieses Jahr findet das Treffen der G8 in Deutschland, in Heiligendamm statt. Eine bedeutende Anzahl von Christen und Christinnen aus Deutschland blickt auf eine lange Tradition der Kooperation mit unserem Kontinent zurück. Diese besteht in Solidaritätsaktionen, gemeinsamer Verbundenheit und Empörung über die Ungleichheiten, die charakteristisch für unsere Länder sind. Zahlreiche Projekte wurden von diesen Personen unterstützt, die einen Beitrag dazu geleistet haben, die Auswirkungen wirtschaftlicher und sozialer Armut zu verringern. Diese Projekte sind zwar unentbehrlich, aber sie reichen nicht aus, um die ökonomische Struktur zu verändern, die die Ungleichheiten und die verschiedenen Arten von Gewalt produziert.
Es muss mehr getan werden! Und dieses Mehr bedeutet, die Dynamik des Kapitalismus und seine Auswirkungen auf die lateinamerikanische Gesellschaft kritisch in den Blick zu nehmen.
Die Welle des Neoliberalismus kann nicht losgelöst werden von dem zunehmenden sozialen Ausschluss, wodurch immer mehr Menschen das Recht auf Nahrung verweigert und ihr Recht auf ein würdiges Leben mit Füßen getreten wird und sie zu „Ungeziefer“ werden, wie es der Dichter Manuel Bandeirante ausdrückt.1 Wir sind müde geworden über die Armut, die unter uns zu einer natürlichen Sache geworden ist, zu diskutieren. Wir wollen Taten, die der Art von Politik, die wir im Volksmund als „Politik der grauen Katze“ bezeichnen, eine deutliche Absage erteilen. Damit ist jene Politik gemeint, die zwar von Veränderungen spricht, aber in der Praxis alles beim Alten belässt.

Protest und Solidarität

Die Armut kann nicht als etwas Natürliches und Unveränderbares auf unserem Kontinent akzeptiert werden. In diesem Sinne ist der Protest gegen die globalen ökonomischen Blöcke, die uns ihre politischen Entscheidungen aufzwingen, eine Form, sich solidarisch zu zeigen. Für uns ist es sehr notwendig, dass ihr euch über diese Politik entrüstet.
Entgegen dem Bild, das in der Öffentlichkeit verkauft wird, ist Lateinamerika ein reicher Kontinent. Wir verfügen über Öl, Land, eine Vielfalt landwirtschaftlicher Produkte, alternative Energiequellen, einen hohen Grad intellektueller Kapazität, kulturelle Vielfalt, Biodiversität und die Bedingungen dafür, eine Entwicklung anzustoßen, die nachhaltig und sozial gerecht ist.

Beispiel Brasilien

Brasilien beispielsweise ist die neuntgrößte Volkswirtschaft, zugleich steht es aber an vierter Stelle mit der weltweit höchsten Einkommenskonzentration. Bei uns gibt es 50 Mio Personen, die mit 80 Reais, das entspricht 30 €, im Monat überleben müssen. Das bedeutet, das 29,26% der BrasilianerInnen ihre täglichen Grundbedürfnisse nicht stillen können. Während 1% der reichsten Familien 15% des Einkommens verbrauchen, verteilen sich auf 85 Mio, die Ärmsten des Landes, lediglich 12%.2
wsf.jpgDer private Reichtum liegt in Brasilien bei einer Größenordnung von 2 Trilliarden.3 Die Reichen kontrollieren 53% von diesem Wert. Und diese Ungleichheit führt dazu, dass die Armut in unserem Land weiterhin besteht. Für die verarmte Bevölkerung ist es zudem sehr schwierig, Räume der Information, Bewusstseinsbildung und politischen Mobilisierung zu besetzen, denn je ärmer eine Gesellschaft ist, um so schwieriger ist es, politische Räume der Kontrolle und der gesellschaftlichen Veränderung zu schaffen. Armut entfremdet. Neben dem Problem der Globalisierung und der neoliberalen Politik haben wir regionale Eliten, die keinerlei Interesse daran haben, die Ursachen für die soziale Ungleichheit anzugreifen. Die Investitionen, die in Lateinamerika getätigt werden, sind zahlreich. Allein die Europäische Union investiert 450 Mio € jährlich4 in Entwicklungsprojekte auf unserem Kontinent. Dabei handelt es sich um Projekte, die nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung in unseren Ländern vorantreiben sollen. Wenngleich sie es auch schaffen, einige Szenarien der Exlusion zu verändern, so reichen sie nicht dafür aus, die politischen und wirtschaftlichen Strukturen, die diesen Ausschluss hervorbringen, zu verändern.
Demnach besteht eine Form der Solidarität darin, aufmerksam die Entscheidungen, die die großen ökonomischen Gruppen des Planeten im Namen der „Entwicklung der unterentwickelten Länder“ treffen, zu „begleiten“, was bedeutet, seinen Unmut darüber zum Ausdruck zu bringen, zu protestieren, Forderungen aufzustellen. Das bedeutet, unseren Glauben zu politisieren, damit eine gerechtere Welt tatsächlich konkret Gestalt annimmt.

Aufruf

Der Aufruf „ChristInnen auf nach Heiligendamm!“ ist eine konkrete Geste der Solidarität mit uns, denn damit wird eine Solidarität symbolisiert, die über den wirtschaftlichen Aspekt hinausgeht. Dieser Aufruf gibt die Möglichkeit, in den Blick zu nehmen, wer und was ökonomischen und sozialen Ausschluss hervorbringt und trifft somit den Satz von Ché Guevara, in dem er sagt: „Ich verneine nicht die objektive Notwendigkeit von materieller Unterstützung, aber ich bin dagegen, sie als grundlegenden Motor zu nehmen. Denn das endet darin, dass ihre Dynamik die Beziehungen zwischen den Personen bestimmt.“
Und das ist der Grund dafür, warum wir uns diesem Aufruf angeschlossen haben. Über die materielle Unterstützung hinaus wollen wir eine Solidarität der Empörung/ des Protestes, denn wir wollen souverän und autonom sein.
Übersetzung: Sandra Lassak

1 Gestern sah ich ein Tierchen, das auf dem schmutzigen Boden des Innenhofes zwischen den Abfällen nach Nahrung suchte. Wenn es etwas entdeckte, dann begutachtete es dies nicht und roch auch nicht daran, sondern schlang es wahrhaftig hinunter. Dieses Tierchen war kein Hund, keine Katze und auch keine Ratte. Das Tierchen, mein Gott, war ein Mensch.
2 Zur Reichtumskonzentration in Brasilien siehe: universia.com.br/html/materia/materia_dieg.html
3 Diese Einkommenskonzentration teilt Brasilien in 5 gesellschaftliche Klassen. (Vgl.:sociologos.org.br/textos/outros/conctrda.htm)
4 Ein Informationsbuch zur Kooperation zwischen Europa und Lateinamerika hilft Institutionen, an Ressourcen zu gelangen. Vgl.: http://www.ufpa.br/portalufpa/imprensa/noticia.php?cod=852

Soziale Rechte sind keine Almosen – Gerechtigkeit nach der Tora

Christine Berberich

Unter diesem Titel veranstaltete das ITP am 14. April zusammen mit dem Exegeten Prof. em. Dr. Frank Crüsemann ein Tagesseminar zur sozialen Frage im Licht biblischer Traditionen. Es ging um die bleibende Bedeutung der Tora, ohne die – knapp formuliert – das Evangelium nicht verständlich wird.

Gesetzlicher Schutz vor Verarmung

Im Deuteronomium, dem Kern für die Schriftwerdung der Tora, läßt sich ein Gesamtsystem als Entwurf einer gerechten Gesellschaft erkennen, das versucht, der in den altorientalischen Gesellschaften immer gegebenen Gefahr der Verarmung großer Teile der Bevölkerung effektive Schutzmechanismen entgegenzusetzen. In solchen Agrargesellschaften hing die Verarmungsgefahr in erster Linie an der Schuldenproblematik, die für den Grundwiderspruch dieser Gesellschaften ähnliche Bedeutung hatte wie die abhängige Lohnarbeit für die heutigen. Formal freie Bauern, die Subsistenzwirtschaft betrieben und sich aufgrund einer akuten Notlage verschuldeten, hatten kaum eine Chance, sich aus dem daraus resultierenden Abhängigkeitsverhältnis wieder zu befreien. Da die Gläubiger das Recht beanspruchten, den Besitz des Schuldners, wie z.B. sein Land, aber auch Menschen aus seiner Familie als Pfand zu nehmen, resultierten daraus Schuldsklaverei und dauerhafte Verarmung. Dies ging soweit, dass Könige zuweilen einen allgemeinen Schuldenerlaß aussprechen mußten, um die Wirtschaft des Landes überhaupt wieder funktionsfähig zu machen.
Der Entwurf des Deuteronomium geht weit über solche Notmaßnahmen hinaus. Seine Wirtschafts- und Sozialgesetze gehen davon aus, dass es möglich ist, die Güter des von Gott geschenkten Landes so zu verteilen, dass alle genug zum Leben haben – Dtn 15,4 formuliert explizit, dass es die Armut eigentlich gar nicht geben dürfte. Aufgrund der Erfahrung, dass sich faktisch trotzdem immer wieder einige auf Kosten anderer bereichern, enthalten diese Gesetze konkrete Schutzrechte für die Armen.
So wird z. B. der Zehnte als Abgabe für Tempel und Königshöfe hier zur Sozialsteuer für die Versorgung der Besitzlosen (Dtn 14,22–29; 26,12–15). Die Armen haben Anspruch auf das, was bei der Ernte übrig bleibt (24,19–22), und das Recht, ihren Hunger auch mit den Früchten von Feldern zu stillen, die anderen gehören (16,25f.). Auch die Praxis des Pfändens wird so eingeschränkt, dass zumindest die notwendigsten Lebensgrundlagen niemandem genommen werden dürfen (24,6. 10–13. 17f.); das Verbot an den Gläubiger, das Haus des Schuldners zu betreten (24,10f.), schützt die Wohnung und gleichzeitig die Würde dessen, der in Not geraten ist.
Sowohl das Zinsverbot (16,20f.) als auch der regelmäßige Schuldenerlaß alle sieben Jahre (15,1-11) sollen verhindern, dass Menschen dauerhaft in Armut und Abhängigkeit geraten. Für den Fall, dass es dennoch zu Schuldsklaverei kommt, muß diese im siebten Jahr beendet werden und die dann freigelassenen Menschen sollen Güter für einen wirtschaftlichen Neuanfang erhalten (15,12–18).
Darüber hinaus delegitimiert das Dtn die zu jener Zeit für selbstverständlich gehaltene Sklaverei, indem es den SklavInnen ausdrücklich das Recht zur Flucht sowie auf einen geschützten Wohnort zuspricht (23,16f.).

Segen durch Gerechtigkeit

Diese Sozialgesetzgebung richtet sich an die Besitzenden und verpflichtet sie zu solidarischem Handeln und zur gerechten Verteilung der Güter. Die Bestimmungen werden theologisch begründet: Gott selbst hat Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit und ihm das Land als Lebensgrundlage geschenkt. Wer mit diesem Geschenk so umgeht, dass die Freiheit und das Leben in Würde für alle bewahrt werden, dessen Arbeit wird Gott segnen. Dieser Segen ist durchaus im Sinne von Wohlstand gemeint, aber die Perspektive des Dtn begnügt sich nicht mit einer Rationalität, die ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit nur zum Erhalt der bestehenden Gesellschaftsordnung samt dem Reichtum und den Privilegien der Reichen versteht. Vielmehr sind es die Armen, von denen der Segen abhängt und die den Reichen ihre Gerechtigkeit vor Gott zu- oder absprechen (z.B. 24,13–15).
Diese Einsicht widerspricht der Illusion, der die besitzenden Klassen in der Geschichte immer wieder aufsaßen, sie könnten unabhängig vom Rest der Menschheit leben und die Armen hätten ihnen untertänigst dankbar zu sein, wenn sie ihnen gnädigerweise erlaubten, für sie zu arbeiten. Die Texte, mit denen wir es hier zu tun haben, sind auf dem Hintergrund sozialer Konflikte entstanden, die sich in der Gesellschaftskritik der Propheten widerspiegeln. Sie benennen die Zusammenhänge der Entstehung von Armut durch die Bereicherung einiger Weniger und lassen keinen Zweifel daran, dass der Gott Israels auf der Seite der Armen steht.
armut.jpgDie Geschichte, wie sie die Bibel selbst erzählt, zeigt einen ständigen Konflikt um die Durchsetzung dieses Gerechtigkeitsanspruchs und seine immer neue Aushöhlung durch die Oberschichten. Dennoch wurden die Bestimmungen der Tora zumindest teilweise, vor allem in den Phasen staatlicher (Teil-)Autonomie, tatsächlich umgesetzt und erreichten immerhin, dass in Israel, im Gegensatz zu seinen Nachbargesellschaften, noch bis in die Römerzeit hinein eine breite Schicht freier Kleinbauern existieren konnte.
Erst das hellenistische und dann vor allem das römische Herrschaftssystem setzten die Tora völlig außer Kraft, und unter diesem Eindruck entstand die apokalyptische Theologie, deren einzige Hoffnung auf Gerechtigkeit darin bestand, dass Gott selbst sein Reich auf Erden errichten werde. Das Christentum, das diese Theologie beerbt hat, verlor in dem Maße den Bezug zur Tora, wie es das Reich Gottes in ein erst nach dem Tod zu erreichendes Jenseits verlegte.
Demgegenüber gilt es in der Tora den Versuch wiederzuentdecken, auch unter den jeweils bestehenden geschichtlichen Voraussetzungen ein Höchstmaß an Gerechtigkeit zu erreichen – nicht im Sinne einer der „eigentlichen“ Erlösung nachgeordneten Ethik, sondern weil es um des von Gott gewollten Lebens der Menschen willen notwendig ist.

Theologie und soziale Rechte heute

Im zweiten Teil des Seminars setzten zwei verschiedene Arbeitsgruppen das bisher Besprochene in Beziehung zu heutigen Problemstellungen.

„Demokratie braucht Tugenden?“

Die eine Gruppe analysierte das gemeinsame Wort der Dt. Bischofskonferenz und des Rates der EKD, „Demokratie braucht Tugenden“ von 2006 und kam zu dem deprimierenden Ergebnis, dass in diesem Papier nichts von der eindeutigen Stellungnahme der Tora zugunsten der Schutzbedürftigen wiederzufinden ist. Das ganze Dokument bezieht sich sachlich nur ein einziges Mal auf die Bibel, indem es das Gebot der Nächstenliebe als Grundlage politischer Tugenden bezeichnet (S. 47). Die Tugendethik selbst entlehnt es aus der antiken Philosophie – eine Ethik, die individualistisch und aus der Perspektive der Herrschenden gedacht ist. Von menschlichen Grundbedürfnissen oder gar sozialen Rechten ist ebensowenig die Rede wie von der undemokratischen Struktur einer Ordnung, die solche Rechte im Namen des Profits einer Minderheit permanent verletzt. Stattdessen bedient sich das Papier kritiklos der Sprache und Denkweise der neoliberalen Sozialabbau-Politik und ermahnt die BürgerInnen unter dem Etikett „demokratischer Mündigkeit“ zur Akzeptanz der angeblich notwendigen Reformen, ohne die Zurichtung des gesamten gesellschaftlichen Lebens ausschließlich auf Verwertungsinteressen überhaupt zu hinterfragen.
Es ist erschreckend, wie weit die KirchenvertreterInnen sich hier von den eigenen Grundlagen entfernt haben und sogar noch hinter den im Sozialwort von 1997 erreichten gesellschaftsanalytischen Stand zurückfallen.

Globale soziale Rechte

Die zweite Arbeitsgruppe befaßte sich mit der Diskussion um globale soziale Rechte, wie sie derzeit in sozialen Bewegungen, auf den Sozialforen usw. geführt wird. Mit der Grundvoraussetzung der Tora, dass das Lebensrecht aller der Ausgangspunkt jeder gesellschaftlichen Organisation sein müsse, stimmt der hier vertretene Menschenrechts-Ansatz überein. Demnach sollten die sozialen Grundrechte (auf Ernährung, Gesundheit, Wohnung, Bildung usw.) ebenso gesetzlich verankert werden wie die bisher schon als Menschenrechte anerkannten bürgerlichen Freiheitsrechte, und zwar unabhängig von Herkunft und Nationalität. Auch wenn dies allein noch nicht ihre tatsächliche Durchsetzung garantiert, wäre es doch ein wichtiger Schritt für ein verändertes Bewußtsein, das die Verletzung solcher Rechte überhaupt als Unrecht wahrnähme.
Im Moment erleben wir stattdessen weltweit eine immer weiter fortschreitende Entrechtung aller, die zum Überleben auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind. Obwohl die wirtschaftliche Entwicklung immer größere Teile der Bevölkerungen ausschließt, läßt die Politik der kapitalistischen Globalisierung keine alternativen Wege dieser „überflüssig“ gemachten Menschen zu – Alternativen darf es schließlich aus ihrer Sicht nicht geben. Vielmehr schafft die Zerstörung auch der schon erreichten sozialen Sicherheiten einen Zwang zu abhängiger Lohnarbeit, der die Entrechtung derer, die noch eine solche haben, um so schneller vorantreibt.
Politische Entscheidungen haben dazu geführt, dass Staaten zu konkurrierenden Wirtschaftsstandorten verkommen sind, die immer weniger soziale Ausgleichsfunktionen erfüllen. Für die sozialen Bewegungen folgt daraus, dass der gegenwärtigen Entwicklung nur durch internationale Bündnisse wirksamer Widerstand entgegengesetzt werden kann, der aber gleichzeitig konkrete lokale Initiativen und Alternativmodelle erfordert.
Der Beitrag der Theologie hierzu ist wesentlich ideologiekritischer Art. Wie oben erwähnt, konnte die Sozialgesetzgebung der Tora vor dem Hintergrund der prophetischen Gesellschaftskritik entstehen, welche immer auch Götzenkritik war: Sie entlarvte die scheinbar numinosen Mächte als von Menschen gemachte Systeme und verurteilte den Götzendienst, der im Widerspruch zum Willen Gottes die Menschen fremden Zwecken unterwarf. Indem die scheinbar naturgesetzhaften wirtschaftlichen Sachzwänge als von Menschen gemacht erkannt werden, sind sie auch von Menschen veränderbar.
Die Reflexionen dieses Seminars haben die befreiungstheologische Einsicht bestätigt, dass zu einem Christentum, das seine eigenen Wurzeln ernst nimmt, der Einsatz für soziale Gerechtigkeit im Hier und Jetzt gehört – auch wenn es leider den Anschein hat, dass ChristInnen, die sich darum bemühen, von ihren Kirchen weiterhin alleingelassen werden.

Auf ein Neues:
Rom gegen die Befreiungstheologie

Michael Ramminger

Am 14.03. dieses Jahres veröffentlichte die Glaubenskongregation der katholischen Kirche eine Erklärung, in der sie dem salvadorianschen Befreiungstheologen Jon Sobrino einige theologische Irrtümer vorwarf. In einer erläuternden Note wurden dem Opus-Dei-Ortsbischof von San Salvador, Saenz Lacalle, Sanktionen gegen Sobrino freigestellt, zu denen sich die Glaubenskongregation selbst nicht durchringen konnte.
Im einzelnen ging es anders als in den achtziger Jahren nicht um den sog. Marxismusvorwurf oder um den Begriff der Befreiung, sondern um behauptete theologische Irrtümer, die die Menschwerdung Christi, sein Verhältnis zum Reich Gottes, das Verständnis von Geschichte und Glaube und die Heilsbedeutung seines Todes angehen.
Aber es geht natürlich letztlich immer noch um die gleiche Sache: Erweist sich die Wahrheit christlichen Glaubens in der Praxis der Nachfolge, in der Option für die Armen, oder ist diese Nachfolge ein ethischer Anhang des Christentums, auf den im „Ernstfall“, d.h. dann, wenn die Existenz der Kirche als Institution gefährdet scheint, verzichtet werden kann, wie der auch jetzt wieder maßgeblich beteiligte Joseph Ratzinger wohl meint? Sobrino hielt zu Recht dagegen und begründete die Weigerung, seine Thesen zu widerrufen, mit dem Satz: „In einer so schwer kranken Welt wie der unseren ist unsere Utopie: ‘extra pauperes nulla salus’ (ohne die Armen kein Heil, Anm. MR.).
Er wies darauf hin, dass es ihm schwerfällt, mit der Glaubenskongregation in Dialog zu treten: „Es fällt nicht leicht, einen Dialog mit der Glaubenskongregation zu führen. Manchmal erscheint es unmöglich. … Meiner Meinung nach trifft man hier zum großen Teil auf Ignoranz, Vorurteil und die Zwangsvorstellung, mit der Befreiungstheologie ein für alle mal Schluss machen zu müssen. Es ist – ehrlich gesagt – nicht einfach, mit solcher Mentalität einen Dialog zu führen.“

Warum jetzt?

Natürlich stellt sich die Frage, warum Rom gerade zum jetzigen Zeitpunkt so einen Angriff gegen die Befreiungstheologie startet. Zwar hat die Auseinandersetzung mit Sobrino eine jahrelange Vorgeschichte bis in die achtziger Jahre. Aber die Veröffentlichung der notificatio ist strategisch gut plaziert. Zum einen steht die fünfte Vollversammlung des lateinamerikanischen Episkopats ins Haus, die mit ihren Vorläufern Medellín 1968 und Puebla 1979 in Lateinamerika die Befreiungstheologie kirchlich verankert hatte. Das Vorbereitungspapier zur V. Generalversammlung im Mai 2007 ist zwar nicht eindeutig befreiungstheologisch inspiriert. Es trägt aber die Sprache einer selbstbewußten lateinamerikanischen Kirche und der Offenheit für die sozialen Probleme. Hier könnte die notificatio sozusagen ein „Warnschuss“ gewesen sein, um die LateinamerikanerInnen einzuschüchtern.
Außerdem hat es gerade in den letzten Jahren einen „Linksruck“ in vielen lateinamerikanischen Ländern gegeben, den der emeritierte brasilianische Bischof Casaldáliga so beschreibt: „Hier in Amerika vollzieht sich … eine Wende nach links. Auf Kongressen und in der öffentlichen Meinung stellt man unvermeidlich die Frage: Was ist links? Was ist Demokratie? Wo ist die wahre Politik? Wo ist die wahre Religion? Wo ist die wahre Kirche? … Religion und Politik müssten selbst diese Antwort geben – bis zu den letzten Konsequenzen. Das gesamte Leben Jesu ist die Antwort auf diese Frage. Die Option für die Armen ist das Unterscheidungskriterium für alle Politik und alle Religion.“

Warum keine Sanktionen gegen Sobrino?

Rom konnte sich offenkundig nicht zu einem direkten Lehrverbot gegen Sobrino durchringen. Ein Grund dafür könnte der Widerstand des Jesuitenordens gewesen sein, dem Sobrino angehört. Ein weiterer wichtiger Grund ist wohl auch die breite Solidarität und Unterstützung, die Sobrino aus aller Welt erfahren hat. Vor allem aus Spanien kamen schon frühzeitig Informationen über den Stand des Verfahren, Analysen und Proteste. Auch in der Bundesrepublik hat es Solidaritätserklärungen gegeben: Missionsorden, kirchliche Basisinitiativen wie die IkvU und „Wir sind Kirche“ und viele Einzelpersonen haben sich einer Erklärung des ITP angeschlossen, die schnell dazu geführt hat, dass in vielen Presseorganen und kirchlichen Zeitungen, auf Internetseiten und im Radio empört über das Vorgehen Roms berichtet wurde.
Nicht zuletzt mit Hilfe des Mediums Internet konnten wir hier Außergewöhnliches leisten: Wir konnten unmittelbar Hintergrundinformationen und Quellen publizieren, die sich dann weiterverbreitet haben und vielfach die Grundlage für Berichterstattungen in der BRD wurden. Die Reaktionen darauf haben gezeigt: Die Empörung über das Vorgehen Roms war gross. Für viele ChristInnen auch hier im „reichen Norden“ ist klar: „extra pauperes nulla salus“.

Internationalismus und Protest?

Die G8-Protestvorbereitungen und das Weltsozialforum 2007

Katja Strobel

„We fight the system – do you know what that is?“ Diesen Satz hörten wir von zwei Jugendlichen aus einem Slum in Nairobi, die auf einer Veranstaltung zu den Protesten gegen das G8-Treffen in Heiligendamm während des Weltsozialforums (WSF) in Nairobi im Januar 2007 einen Rap vorführten. Das System – das sind die Slums, es sind AIDS, fehlende(s) Wasser, Gesundheit und Bildung. Das System, das sind der kommende G8-Gipfel in Heiligendamm und sein Thema der Investitionssicherheit in Afrika für die Industrieländer. Das System, das ist eine Welt, in der genug für alle da ist, die aber nicht gerecht zu teilen bereit ist. Wenn wir sehen, was das System ist, schließt sich eine weitere Frage an für uns, christliche Solidaritätsbewegungen, an alle, die sich einer gerechteren Welt verschrieben haben: Welche Konsequenzen ziehen wir daraus?
Die beiden Rapper sind nun vom Evangelischen Entwicklungsdienst nach Heiligendamm eingeladen worden und werden wahrscheinlich auf vielen Veranstaltungen des Alternativgipfels in Rostock ihr Stück zum besten geben. Angesichts ihrer Botschaft kann einen das schon stutzig werden lassen.
Auf dem Alternativgipfel – wie auch auf dem gleichzeitig stattfindenden Kirchentag in Köln – werden Gäste aus Afrika, Lateinamerika und Asien von ArbeiterInnenkämpfen gegen die Ausbeutung durch transnationale Konzerne, von Land- und Hausbesetzungen erzählen. Die Politik der sie einladenden Organisationen hier vor Ort dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass sie die konfrontativeren Proteste nicht untestützen oder sich offen davon distanzieren. So hat die Evangelische Landeskirche Mecklenburg Meldungen dementiert, dass sich „die Kirche“ an den Protesten gegen das G8-Treffen beteilige. Vielmehr gehe es um „friedliche Gespräche“ am Rand des Gipfels.

Was ist Solidarität?

Auf dem WSF – zumindest auf den Veranstaltungen zum G8 und auf den Treffen der Sozialen Bewegungen – wurde klar: Die existenziellen Probleme, vor allem der afrikanischen Länder, müssen vom Norden ernst genommen werden, wenn es um glaubwürdiges Bemühen für gerechtere Verhältnisse geht. Im Brief von MitarbeiterInnen des CECA/Brasilien in diesem Rundbrief wird klar: Dazu gehört nicht nur finanzielle Unterstützung der Länder des globalen Südens, sondern auch eine wahrhaftige Anstrengung, die ausbeuterische und verschwenderische Produktions- und Vermarktungsweise der transnationalen Konzerne (TNK) sowie die sie unterstützende Politik der G8-Länder, in denen 79 der 100 größten TNK ihren Sitz haben, anzuprangern und zu zeigen, dass es auch hier eine bedeutende Zahl von Menschen und Gruppen gibt, die sich etwas ganz anderes unter einer global verantwortungsvollen Weltwirtschaft und -politik vorstellen. Dabei haben die letzten Jahre – z.B. das Desaster der Entschuldungskampagne – gezeigt, dass Lobbyarbeit und Verhandlungen, die von den G8-Sherpas inzwischen großzügig einigen NGOs angeboten werden, zu Vereinnahmung für die G8-Interessen führen. Gegen- und Alternativgipfel könnten „friedlich“ mit den G8-Treffen koexistieren – wobei klar ist, wer den größeren JournalistInnentross anzieht –, wenn nicht das Medieninteresse den Störungen gelten würde und so auch den Inhalten des Alternativgipfels mehr Aufmerksamkeit bescherte.
In Nairobi waren, wenn von internationaler Solidarität die Rede war, immer Afrika, Lateinamerika und Asien gemeint: Europa spielte in diesen Diskussionen kaum eine Rolle. Zusammen mit den USA (für Lateinamerika) gehört Europa (für Afrika) aus der Sicht des „Südens“ zum imperialistischen Block, der durch internationale Solidarität von Ländern des „Südens“ bekämpft werden muss, wenn es Befreiungsperspektiven geben soll.
Es erstaunt uns nicht, dass FreundInnen aus Afrika von „uns“ nichts mehr erwarten, wenn – so war die Erfahrung – in G8-Mobilisierungsveranstaltungen Fragen nicht beantwortet werden, die aus ihrer Perspektive die einzig relevanten sind: „Was und wieviel tut ihr konkret in euren Protesten, damit es uns hier besser geht?“

Wir haben keine Zeit!

Wenn wir die Botschaften, die wir aus Nairobi mitbekommen haben, ernst nehmen – und vor allem auch die Erfahrung in den Slums dort – dann ist klar: Wir haben keine Zeit! Veränderungen sind bitter notwendig. Dass dies eine Frage von Kräfteverhältnissen ist, die zur Zeit sehr ungleich verteilt sind, und Diskussionen und Bildungsarbeit notwendig sind, um überhaupt Alternativen zu thematisieren, ist unbestritten. Aber gerade zum seltenen Anlass des G8-Treffens hier vor Ort in Deutschland, einem der Symbole für das bestehende Weltwirtschaftssystem, aber auch für internationalen Widerstand – müssen Protest und Widerstand mit der Alternativen-Diskussion verbunden werden, um deutlich zu machen: Es geht anders, und wir sind entschlossen, uns mit ganzer Kraft dafür einzusetzen, dass es bald anders wird!
„Wir haben keine Zeit!“ Sogar ein Vertreter des Evangelischen Entwicklungsdienstes sah das so auf einer Veranstaltung des WSF zum Thema „G8 – Forderungen stellen oder delegitimieren?“ – nur dass er nicht bemerkte, dass er damit seinem vorhergehendem Plädoyer für eine Lobbypolitik, die nun mal langwierig sei und Geduld erfordere, selbst die Glaubwürdigkeit nahm.
Zusammenarbeit verschiedenster gesellschaftlicher Akteure und Akzeptanz verschiedener Aktionsformen im G8-Protest sind unabdingbar. Aus einer internationalistischen Perspektive gehört eine Verantwortung für die Dringlichkeit von Veränderung und damit ein hörbares „Nein!“ dazu – eine wahrnehmbare Konfrontation derjenigen, die ihre Macht demonstrieren, mit unserer Botschaft: „Ya basta!“ – „Es reicht!“
So verstanden könnte auch das INKOTA-Motto „Gebt 8 – wir können auch anders!“ – statt wie geplant auf „alternative“ G8-Politik auf die Organisierung von Protest und Widerstand bezogen – durchaus eine optimistische Botschaft an unsere internationalen PartnerInnen sein.

Wir laden ein zu unserem Programm in Rostock/Heiligendamm:

• 2.6., ab 10 Uhr Teilnahme an der internationalen Demonstration unter unserem Motto „Die Todsünden der G8“

• 3.6. um 16 Uhr: Internationaler Workshop „Wider die Todsünden der G8“ mit Nancy Cardoso (Brasilien), Joel Suárez, Kirenia Criado, Ariel Dacal (Kuba) und Boniface Mabanza (Dem. Rep. Kongo).
Ort: Convergence-Center, Rostock, Knut-Rasmussen-Str. 8

• 5.-7.6.: Gottesdienste und Mahnwachen am Sperrzaun (genauere Informationen zu Ort und Uhrzeit beim ITP-Team während der Aktionswoche im Convergence Center)

Wir sind während der Aktionstage in Rostock unter 0160/3070083 erreichbar.