Solidarität

Jon Sobrino

Im folgenden dokumentieren wir ein Statement des Befreiungstheologen Jon Sobrino, das er auf einem Seminar unseres Instituts Anfang April gehalten hat. Thema waren Fragen nach Möglichkeiten und Schwierigkeiten solidarischen Engagements. Es ging dabei nicht nur um Solidaritätsgruppen in der Bundesrepublik, sondern auch um politische Orientierungen und Motivationen von engagierten Menschen in El Salvador. Der Text ist in aller möglichen Sorgfalt nach einer Bandaufnahme angefertigt, aber gekürzt. Trotzdem möchten wir darauf hinweisen, daß er in dieser Form aus Zeitgründen von Jon Sobrino nicht mehr autorisiert werden konnte.

Ich möchte Solidarität so erklären, wie ich es verstehe: Solidarität setzt die Überzeugung voraus, daß wir alle auf dieser Erde zu einer Familie gehören. Das klingt utopisch, ich weiß. Aber uns als eine Familie und nicht nur als Spezies, als eine Art zu verstehen, ist das Wichtigste. Um dies zu verdeutlichen: Ich habe vor ein paar Wochen in El Salvador gesagt, daß es ein großer Irrtum wäre, Solidarität als Monopol von Solidaritätsgruppen zu verstehen. Jeder Mensch, jede Institution, jede Universität, jede Kirche sollte Solidarität üben. Das heißt, jeder Mensch und jede Institution sollte die Überzeugung haben, zur menschlichen Familie zu gehören. Und diese menschliche Familie, wie steht es um sie? Braucht diese Familie unsere Hilfe? Ich glaube schon. Wie wir dieser Familie helfen, das ist eine andere und sehr schwierige Frage. Solidarität hat die menschliche Familie zu fördern, der Mehrheit der Armen zu helfen und, wenn diese Armen sich organisiert und eine Befreiungsbewegung aufgebaut haben, dann ist es auch gut, mit diesen Bewegungen Kontakt zu halten.

Solidarität ist nicht einfach Hilfe

Solidarität ist Hilfe, aber sie ist nicht nur Hilfe. Hilfe als Almosen von Individuen oder von Regierungen hat eine lange Geschichte. Solidarität ist dagegen Hilfe, in der wir nicht nur irgendetwas, sondern uns selbst geben. Ich weiß nicht viel über Anthropologie, aber es ist etwas anderes, Zeit oder Geld zu geben oder sich selbst: Wenn man sich selbst gibt, nimmt man etwas nicht vollständig Kontrollierbares auf sich. Für mich ist das wichtig. Solidarität ist Hingabe auch von uns selbst. Es gehört zum Begriff von Solidarität, daß sie dauernde Hilfe ist. Sonst sollten wir nicht das Wort Solidarität benutzen.

Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit

Und Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit. Wenn wir etwas geben und nichts bekommen, dann ist das nicht Solidarität. Das ist für mich mehr als nur ein Wort. Nehmen wir die Beispiele Nicaragua, Südafrika oder Haiti: Menschen, die sich solidarisch engagiert haben, was haben die von den Nicaraguanern, den Südafrikanern oder den Haitianern bekommen? Dies ist eine wichtige Frage. Und es gibt Antworten. Und was bekommen wir heute z. B. von den Nicaraguanern? Vielleicht nicht mehr den Enthusiasmus, der vor zehn Jahren vorherrschte. Was können wir heute bekommen? Ich möchte es aus der Sicht El Salvadors beantworten: Ein Volk, das in Licht und Dunkelheit seinen Weg geht; ein Volk, das die Entscheidung getroffen hat, leben und überleben zu wollen; ein Volk, das auf die Schlagzeilen in den Zeitungen verzichtet. Vielleicht ist es das, was wir von ihnen heute bekommen. Und vielleicht macht uns diese Erfahrung menschlicher. Eine weitere Voraussetzung von Solidarität ist, daß es unter den Armen Werte gibt, die wir, die Leute aus der ersten Welt, nicht haben. Wir haben andere Werte. Und wenn wir diesen Leuten helfen können und wollen, dann müssen wir für ihre Werte offen sein. Und selbsvertändlich sollten wir nicht von vornherein entscheiden, was ein solcher Wert ist und was wir bekommen wollen und was nicht.

Das Problem sind die Katastrophen

Das Problem ist nicht, ob für uns Solidarität zu üben schwierig ist oder nicht. Das Problem ist die Welt, die Katastrophen. Ob wir diese Welt mit einem adäquaten Begriff beschreiben und erfassen können, ist eine andere Frage. Die kommt immer erst an zweiter Stelle. Das erste Problem ist die Wirklichkeit, die schlecht ist. Wenn uns bewußt ist, daß diese Welt eine Katastrophe ist, dann müssen wir selbstverständlich kreativ werden und überlegen. Wir müssen durch Sozialwissenschaften, Philosophie und Theologie die Situation besser zu verstehen suchen und Entscheidungen darüber vorbereiten, was wir dagegen tun wollen. Wenn man nicht genau weiß, was zu tun ist – und das ist Eure Situation und unsere Situation in El Salvador -, dann sollte man immer zum Ursprung von Solidarität zurückgehen. Und das war nicht Daniel Ortega, Joaquín Villalobos oder Monseñor Romero. Der Ursprung der Solidarität war das gekreuzigte Volk. Wenn wir zum gekreuzigten Volk zurückgehen – mit oder ohne Daniel Ortega, mit oder ohne Monseñor Romero -, dann bin ich überzeugt, daß der menschliche Geist kreativ genug ist, um Wege zu finden, dieses Volk vom Kreuz herunterzunehmen. Die Rede vom gekreuzigten Volk ist zunächst eine Metapher. Kreuz heißt Tod. Und in unseren Ländern, wie wir alle wissen, sterben Menschen. Entweder schnell aufgrund der Gewalt, oder langsam durch Armut. Jedes Jahr sterben, soweit ich weiß, 20 oder 30 Millionen Menschen aufgrund von Hunger oder von Krankheiten, die im Hunger ihren Ursprung haben. Es ist aber nicht nur eine Metapher. Das Kreuz bedeutet auch, daß eine Gruppe von Menschen eine andere Gruppe von Menschen tötet. Warum reden wir dann aber vom Kreuz und nicht von Hinrichtung? Weil das Kreuz der Tod ist, den Jesus erlitten hat. Ich habe mich gefragt, ob es einen Gott gibt. Nicht hier in Deutschland, in El Salvador. Wenn wir vom gekreuzigten Volk sprechen, dann nicht, weil das so gut klingt oder weil wir Gott verteidigen wollen. Es ist vielmehr etwas sehr Persönliches. Mir hat die Wirklichkeit geholfen, den gekreuzigten Christus zu verstehen. Warum soll Jesus Christus so verschieden sein von Rufina, einer Frau, die das Massaker von El Mozote überlebt hat. Ich sagte in einer sehr globalen Art, daß nicht wir das Problem sind, sondern die Katastrophen. Wenn wir, z.B. an der Universität in El Salvador, an Solidarität denken, sind wir angesichts der sozialen und politischen Situation offensichtlich mit ernsten Problemen konfrontiert. Und beim größten Problem liegt auch der Ursprung der Lösung. Ich möchte dies an einem Beispiel aus El Salvador erläutern. Die große Offensive der Befreiungsbewegung von 1989 hatte keinen Erfolg. Aber die Strategen waren überzeugt, daß sie Erfolg haben würden. Sie ließen nicht zu, daß die Wirklichkeit spricht. Sie – dies ist meine Interpretation – sie ärgerten sich, wenn jemand zu sagen wagte, daß sie nicht erfolgreich sein würden. Es gab einen, der sagte, wie die Realität wirklich war: Pater Ignacio Ellacuría. Dieses Beispiel soll nicht in erster Linie zeigen, daß Ellacuría Recht hatte. Vielmehr soll es deutlich machen, daß er sich im Moment der Konfusion darauf konzentrierte, welchen Lösungsweg es sich in der gegebenen Situation gab: Was liegt auf der Linie unserer Ideen, die wir von der salvadorianischen Revolution haben?

Notwendig ist Demut

Ich glaube, dies geschieht immer wieder, auch im solidarischen Engagement: Wir haben einige Ideen. Die Situation ändert sich. Was nun? Notwendig ist zumindest eine Sache: Demut. Es ist eine Haltung der Demut in bezug auf die Realität. Sie wird uns den Weg weisen. Und danach brauchen wir Theorien. Die Realität hilft uns, den Weg zu finden, den wir einschlagen müssen. Ich betone noch einmal, daß der Ursprung der Solidarität tiefer, unterhalb dieser politischen oder auch religiösen und kirchlichen Motive liegt. Er liegt im gekreuzigten Volk, in der Wirklichkeit der leidenden Menschen. Ich betone dies, weil wir im Dunkeln stehen. Vielleicht können wir von hier aus neue politische und soziale Theorien entwickeln, so daß wir einen Weg finden können, den Völkern besser zu helfen. Ich glaube aber, daß diese Dinge nicht die Grundmotivation ersetzen können, sich an die Seite des gekreuzigten Volkes zu stellen. Vor einigen Jahren schien die politische Orientierung sehr klar. Aber die soziale Richtung war nicht so klar. Ich möchte ein Beispiel nennen: die Befreiungsbewegungen verfolgten eine Politik, deren Ziel größere Gerechtigkeit war. Und sie stellten entsprechende soziale Forderungen auf. Aber waren diese wirklich so klar? Im politischen Bereich war das Ziel klar. Ich teile und unterstütze das. Aber es gab dunkle Seiten; die Solidarität wurde in einem bestimmten Sinne einer politischen Richtung angepaßt. So blieb z.B. die große Uneinigkeit der Linken immer im Dunkeln. Sie existierte aber während des ganzen Krieges. Es gab einige große Irrtümer und terroristische Akte. Ich sage dies, obwohl ich die Linke mehr unterstütze als die Regierung. Und ich sage dies, um jene Aussage zu präzisieren, die besagt, daß vorher alles klar und heute alles im Dunkeln liegt.

Solidarität bedeutet heute: die Wahrheit zu sagen

Sicher gibt es heute viel Dunkelheit. Aber ist es stockfinster? Meiner Meinung nach nicht. Auf der politischen Ebene gibt es viel Dunkelheit, in El Salvador, in Nicaragua. Welche politische Partei kann man z. B. unterstützen? Es ist nicht klar. Das Positive ist kaum greifbar. Wenn ich von El Salvador rede – dort kenne ich die Situation -wäre Solidarität heute, jenes „soziale Gut“ zu unterstützen, welches man mit „die Wahrheit sagen“ beschreiben kann. „Die Wahrheit sagen“ heißt nicht nur, das achte Gebot zu erfüllen. Es meint, ein soziales Gut für die Gesellschaft zu schaffen. Und dies kann geschehen, indem man Publikationen oder Radios unterstützt. Oder indem man dafür sorgt, daß die Wahrheit darüber verbreitet wird, was dort passiert. Von diesem Punkt aus ist es wichtig, das Wachsen aller Volksbewegungen zu unterstützen, die versuchen, die Fehler der alten Bewegungen zu vermeiden und die guten Erfahrungen der Vergangenheit aufzugreifen.

Solidarität bedeutet heute: humanisierendes Wissen zu schaffen

Ich sagte zu Beginn, daß Solidarität nicht nur das ist, was die Solidaritätskommitees machen. Aber diesen Typ von Solidarität und alles was damit zu tun hat, zu erforschen und Theorien über Menschenrechte, Wirtschaft und Politik zu entwickeln, um der Gesellschaft Kenntnisse darüber zu verschaffen, humanisierendes Wissen beizusteuern, das wäre heute Solidarität. Zwar hat Solidarität normalerweise mit Politik, mit politischen Bewegungen zu tun, aber ich glaube nicht, daß eine Solidaritätsbewegung so eng mit einer politischen Bewegung verknüpft ist, daß sie verschwindet, wenn die politische Bewegung verschwindet.