Frei Betto
Zehn Ratschläge für die links Engagierten im Jahre 2008
1. Halte Deine Entrüstung lebendig!
Überprüfe von Zeit zu Zeit, ob Du wirklich ein Linker bist! Übernehme das Kriterium von Norberto Bobbio! Die Rechte hält die soziale Ungleichheit für so natürlich wie den Unterschied zwischen Tag und Nacht. Die Linke begegnet ihr wie etwas, das eine Abscheulichkeit darstellt und überwunden werden muss.
Vorsicht: Du könntest vom sozialdemokratischen Virus befallen sein, dessen hauptsächliche Symptome darin bestehen, rechte Methoden anzuwenden, um linke Resultate zu erzielen und im Konfliktfall, lieber die Kleinen zu enttäuschen, um so keine Probleme mit den Grossen zu bekommen.
2. Der Kopf denkt je nachdem wo die Füsse stehen.
Man kann nicht links sein, ohne sich die Schuhe da schmutzig zu machen, wo das arme Volk lebt und leidet. Freue Dich und teile mit ihm seinen Glauben und seine Siege ! Eine Theorie ohne Praxis bedeutet das Spiel der Rechten zu spielen.
3. Schäme Dich nicht, an den Sozialismus zu glauben!
Der Skandal der Inquisition bewirkte nicht, die Christen von den Werten und Vorschlägen des Evangeliums abzubringen. Genau so sollte uns die Niederlage des Sozialismus in Osteuropa nicht dazu verführen, den Sozialismus aus dem Horizont der menschlichen Geschichte zu entfernen.
Der Kapitalismus, den es 200 Jahre gibt, bedeutet eine Niederlage für die Mehrheit der Weltbevölkerung. Heute sind wir 6 Milliarden Weltbewohner. Nach Angaben der Weltbank überleben 2.8 Milliarden mit weniger als zwei Dollar pro Tag und 1.2 Milliarden mit weniger als einem Dollar. Die Globalisierung des Elends ist nicht noch grösser, weil der chinesische Sozialismus trotz seiner Fehler die Ernährung, Gesundheit und Erziehung von 1.2 Milliarden Menschen sichert.
4. Sei kritisch ohne aufzuhören, selbstkritisch zu sein.
Viele Militante der Linken wechseln die Seiten, wenn sie beginnen, den Floh auf der Nadelspitze zu suchen. Getrennt von der Macht, werden sie bitter und beschuldigen ihre compañeros/as wegen ihrer Irrtümer und Schwankungen. Wie Jesus schon sagte, sehen wir den Staub im Auge des anderen, aber nicht den Balken im eigenen. Auch engagieren sie sich nicht, um die Zustände zu verbessern. Sie verbleiben wie einfache Zuschauer und Richter und einige werden so vom System gewonnen.
Selbstkritik bedeutet nicht nur, eigene Fehler zu akzeptieren. Sie bedeutet auch, sich von compañeros/as kritisieren zu lassen.
5. Mache einen Unterschied zwischen Aktivist (militante) und dummem Mitläufer (militonto).
Der dumme Mitläufer ist derjenige, der sich rühmt, immer dabei zu sein, in allen Ereignissen und Bewegungen, an allen Fronten zu kämpfen. Seine Rede ist voll von Erklärungen, aber die Wirkungen seiner Aktionen sind oberflächlich.
Der Aktivist (militante) vertieft seine Bindung an das Volk, studiert, reflektiert, meditiert, versucht auf eine bestimmte Weise den Raum seiner Handlungen und Aktivitäten zu bewerten, schätzt die organischen Verbindungen so wie die kommunitären Projekte.
6. Sei rigoros, was die Ethik Deines Engagements angeht!
Die Linke handelt aus Prinzipien, die Rechte aus Interessen. Ein linker Aktivist kann alles verlieren, die Freiheit, die Arbeit, das Leben. Aber nicht die Moral. Wenn er sich demoralisiert, demoralisiert er zugleich die Sache, die er verteidigt und darstellt. Wenn das geschieht, leistet er der Rechten einen unschätzbaren Dienst.
Es gibt Emporkömmlinge, die sich als linke Aktivisten verkleiden. Es handelt sich um die Person, die mitmacht, um zuallererst ihre Macht zu vergrössern. Im Namen einer kollektiven Sache, verfolgt sie zuerst ihre persönlichen Interessen.
Der wirkliche Aktivist – wie Jesus, Gandhi, Che Guevara – ist ein Diener, bereit, sein eigenes Leben herzuschenken, damit andere Leben haben. Er fühlt sich nicht erniedrigt, weil er nicht an der Macht, auch nicht stolz, weil es der Fall ist. Er verwechselt sich nicht mit der Funktion, die er innehat.
7. Ernähre Dich mit der Tradition der Linken.
Das Gebet ist notwendig, um den Glauben zu kultivieren, die Zärtlichkeit, um die Liebe eines Paars zu ernähren, zu den Quellen zurückzukehren, um die Mystik der Militanz am Brennen zu halten. Kenne die Geschichte der Linken, lese die Autobiografien wie z.B. das Tagebuch des Che Guevara in Bolivien, Romane wie „Die Mutter“ von Gorki oder “Die Trauben des Zorns“ von Steinbeck!
8. Ziehe vor, Dich zusammen mit den Armen zu irren als zu meinen, im Recht zu sein ohne sie.
Mit den Armen zu leben, ist nicht leicht. Zuerst erscheint die Tendenz, sie zu idealisieren. Dann entdeckt man, dass unter ihnen dieselben Laster existieren, die man auch in anderen sozialen Klassen finden kann. Sie sind nicht besser und nicht schlechter als andere menschliche Wesen. Der Unterschied besteht darin, dass sie Arme sind. Deshalb stehen wir an ihrer Seite. Aus Gerechtigkeit.
Ein linker Aktivist verhandelt niemals über die Rechte der Armen und ist in der Lage, mit ihnen zu lernen.
9. Verteidige immer die Unterdrückten, auch wenn sie anscheinend nicht im Recht sind!
Die Leiden der Armen sind so zahlreich, dass man von ihnen nicht erwarten kann, dass sie Verhaltensweisen besitzen, die auch nicht im Leben derjenigen vorkommen, die eine feine Erziehung genossen haben.
In allen Sektoren der Gesellschaft gibt es Korrupte und Banditen. Der Unterschied besteht darin, dass in der Elite die Korruption unter dem Schutz des Gesetzes geschieht und die Banditen durch raffinierte ökonomische Mechanismen beschützt werden, die einem Spekulanten erlauben, eine ganze Nation ins Unglück zu stürzen.
Das Leben ist ein Geschenk Gottes. Die Existenz der Armut schreit zum Himmel. Erwarte niemals, von denjenigen verstanden zu werden, die die Unterdrückung begünstigen.
10. Mache aus dem Gebet ein Gegengift gegen die Entfremdung!
Beten heisst, sich vom Geist Gottes in Frage stellen zu lassen. Oft hören wir auf zu beten, um den Ruf Gottes nicht zu hören, der unsere Umkehr verlangt, d.h. die Änderung der Richtung unseres Lebensweges. Wir sprechen wie Aktivisten, leben aber wie die Bourgeosie, angepasst in einer bequemen Position, von der aus wir uns in Richter derjenigen verwandeln, die kämpfen.
Beten heisst erlauben, dass Gott unsere Existenz subversiv umgestaltet, indem er uns lehrt, zu lieben wie Jesús liebte, frei.