Entscheidende Stunden in Aparecida.
1. Vom ersten zum zweiten Entwurf für das Schlußdokument
In der vergangenen Woche haben die 266 Kardinäle, Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien in sieben Themengruppen um die erste Fassung des Schlussdokuments gerungen. Sie konnten sich zuvor für drei Themen einschreiben und wurden dann vom Versammlungs-Sekretariat einer der sieben Kommissionen zugeteilt. Die jeweilige Kommission selber bestimmte ihren Moderator und Berichterstatter. Die Texte, die in das Schlussdokument Eingang finden werden, hängen also entscheidend von der jeweiligen Kommission, ihrer Zusammensetzung und den Berichterstattern ab. Jede Kommission arbeitet nochmals in zwei bis drei Untergruppen. Die Untergruppen befassen sich mit einem spezifischen Thema (z.B. in der Kommission 1 erstellt die Unterkommission 1.1. einen Text zur wirtschaftlichen, sozialen, politischen, ökologischen Situation des Kontinents, die Unterkommission 1.2 zu den heutigen Herausforderungen für die Kirche: ethnische und religiöse Vielfalt, Priestermangel, Probleme bei der Weitergabe des Glaubens). Die insgesamt 16 Unterkommissionen erarbeiten Texte, und legen diese ihrer jeweiligen Gesamtkommission vor. Auf dieser Ebene sind dann alle Kommissionsmitglieder an der Entscheidung beteiligt, welche Texte an die Redaktionskommission weitergegeben werden. Aus den in der vergangenen Woche erarbeiteten Texten machte die Redaktionskommission einen ersten Entwurf für das Schlussdokument. Dieser mit 86 Seiten und 600 Nummern aus den 7 Kommissionstexten zusammengestellte Entwurf ging am Freitag und Samstag zur Überarbeitung in die Kommissionen zurück. Die erneuten Eingaben der Kommissionen arbeitet am heutigen Pfingst-Sonntag die Redaktionskommission so ein, dass sie einen zweiten Entwurf vorlegt, der am morgigen Montag diskutiert werden soll.
2. „Neues Pfingsten“ oder alte Gleise?
In diesen Stunden also entscheidet sich, wohin die Bischofsversammlung von Aparecida die Kirche führen will – in ein neues Pfingsten oder auf den alten Gleisen. Zwar ist viel von einem neuen Pfingsten die Rede. Ob sich die Kirche Lateinamerikas aber mit dem Mut der Apostelversammlung von Jerusalem dem neuen Geist öffnet, der in Lateinamerika weht, und damit in der gegenwärtigen geschichtlichen Stunde ebenso präsent wird wie vor 40 Jahren, als sie mit Medellín zu einer Kraft wurde, die dazu verhalf, die gegenwärtig neuen Zeiten heraufzuführen? Oder ob sich die Kirche selbst blockiert und nur mit den alten Antworten den neuen Fragen gegenübersteht? Das ist die Grundfrage, die sich in diesen Stunden stellt. Darf die Kirche Lateinamerikas und der Karibik den Mut zum eigenen Weg haben oder wird sie schließlich doch wieder nur als Filiale Roms agieren können? Darf und wird sie die einmalige Chance ergreifen, die diese Versammlung bietet, sich als kontinentale Kirche in den geschichtlichen Prozess mit all ihrer Kraft und Erfahrung, mit ihren Märtyrern, ihrem spirituellen, intellektuellen und politischen Reichtum gestaltend einzumischen und damit wieder zum „Salz“ und „Licht“ für diese historische Stunde Lateinamerikas zu werden?
3. Das Projekt einer kontinentalen Mission
Es scheint, als würde das Projekt einer kontinentalen Mission ausgerufen. Wenn sich dieses Projekt jedoch an den bisherigen Modellen von Volksmission orientiert, das die Leute in die Sonntagsmesse holen soll, die nach dem herrschenden Modell vom Priestermangel abhängig und daher nur für wenige überhaupt erreichbar ist, oder wenn dieses Projekt dazu gedacht wäre, den Indígenas von Perú und Guatemala den römischen Katechismus beizubringen, dann wird es zu einem Strohfeuer. Kardinal Hummes, bisher Erzbischof von São Paulo und seit kurzem Präsident der römischen Kleruskongregation, behauptete bei der Vorstellung des Projektes zwar, dass nach seinem Verständnis „Mission“ bedeute, herauszugehen, um:
- aufeinander zu hören
- das Leben miteinander zu teilen
- gemeinsam das Wort Gottes zu hören und zu beten
- das Leben aller solidarisch sichern helfen.
Aber ich bin gespannt, ob die in diesem Missionsverständnis implizit enthaltenen Herausforderungen tatsächlich wahrgenommen werden. Denn solcherart Mission hätte doch zur Folge, einen großen Dialogprozess in Gang zu bringen, der den innerkirchlichen Dialog ebenso umfasst wie den ökumenischen, den interreligiösen ebenso wie den interkulturellen. Da dürfte es keine zentralistischen Herrschaftsansprüche, keinen Klerikalismus, keinen Proselytismus, keine Lehrverurteilung mehr geben. Da dürfte man nicht mehr triumphalistisch behaupten, man sei im wahren Christentum; da müsste man zu neuer Demut und Lernbereitschaft finden, und gleichzeitig zur Offenheit gegenüber denen, die möglicherweise mit heftiger Kritik losstürmen, weil sie allzu lange überhört, missachtet, geringgeschätzt oder zum Schweigen verurteilt wurden. Wenn ich das Projekt zu entwerfen hätte, würde ich die Mission als einen solch umfassenden, zur Selbstkritik bereiten Dialogprozess der Kirche anlegen, der bis zur nächsten, der VI. Generalversammlung auf allen Ebenen durchzuführen wäre und dann einmünden müsste in eine kontinentale Versammlung des Volkes Gottes in der katholischen Kirche. Das wäre dann keine Bischofsversammlung mehr, zu der einige Laien als fachkundige Berater ohne Stimmrecht zugelassen wären, sondern die Versammlung von Delegierten Frauen und Männern aller verschiedenen Dienste und Ämter in der Kirche, und nicht nur der bisher anerkannten feudalistischen Ämterstruktur.
Es geht in diesen Stunden also nicht darum, ein paar Zitate aus früher wirksamen Dokumenten wie Medellin und Puebla ehrfürchtig zu erinnern und fortzuschreiben, und sei es auch der kostbare Gedanke von der „Option für die Amen“ (Medellín) oder vom „evangelisierenden Potential der Armen“ (Puebla). Sondern es geht darum, diese Weisungen mit prophetischem Mut in die Tat umzusetzen und dafür die strukturellen Voraussetzungen zu schaffen.
4. Verschiedene Strömungen im streitbaren Dialog?
Diese V. Generalversammlung des lateinamerikanischen und karibischen Episkopats bietet ein getreues Spiegelbild der Strömungen, die in der Kirche neben einander leben. In den Debatten der 160 Bischöfe liegen drei Kirchenmodelle stets miteinander im Streit: das Modell von Trient mit seiner streng hierarchischen, doktrinären und zentralistischen Tendenz; das Modell des II. Vatikanums mit seiner pastoralen Orientierung und seiner Öffnung zur modernen Welt und schließlich das Modell von Medellín, das die eigenen Kreise verlässt, in die „Unter-Welten“ der herrschenden Weltordnung herabsteigt, um das Leben aller zu sichern, vor allem das der Ausgeschlossenen.
Als einer, der der Medellín-Strömung zuzurechnen ist, hat Bischof Alvaro Ramazzini aus Guatemala in einer aufrüttelnd provozierenden Predigt vor wenigen Tagen alle Teilnehmenden gefragt,
- ob die kirchlichen Amtsträger, wenn sie in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen eher das Titelprotokoll als das Protokoll der Geschwisterlichkeit gelten lassen, wirklich der Liebe Christi entsprechen?
- ob die kirchlich Verantwortlichen, wenn sie hart und streng jene verurteilen, die sie als Sünder oder Irrgläubige ansehen; wenn sie im Monolog steckenbleiben; wenn sie die Realität aus der sicheren Burg ihrer eigenen Wahrheit betrachten, aber nicht in die Täler von Leid und Verzweiflung der Nahen und Fernen hinabsteigen, ob sie dann wirklich der Liebe Christi entsprechen?
Andere Bischöfe dagegen wie der der römische Kardinal Re, einer der drei Vorsitzenden der Versammlung und Präsident der vatikanischen Kommission für Lateinamerika, oder Kardinal Majella von Salvador de Bahia in Brasilien reihen in ihren Predigten eine Fülle von bekannten Leerformeln aneinander, ohne auch nur anzudeuten, was sie damit wirklich zum Leben der Menschen, der Kirche und zu ihrem eigenen Engagement beizutragen meinen.
Heftige Konfrontation oder einen offen ausgetragenen Konflikt hat es bisher zwischen den verschiedenen Strömungen noch nicht gegeben. Das seit Anfang viel beschworene Klima von Einheit und Geschwisterlichkeit wirkt immer noch. Aber das friedsame Miteinander darf nicht zum Schwamm der Liebe werden, der alle Unterschiede verwischt, oder sich als die Nacht erweisen, in der alle Katzen grau sind. Ich hoffe in den nächsten Tagen auf mehr Mut und mehr prophetische Kraft.
5. Die Methode: „Der Heilige Geist und wir haben beschlossen…“
Papst Benedikt hatte für das Verfahren der Versammlung einen verwunderlich guten Tipp gegeben, als er in seiner Predigt am Eröffnungstag der Konferenz in Anspielung auf das Apostelkonzil in Jerusalem darlegte: Damals hätten die Beteiligten sich gemeinsam den Problemen gestellt, sie miteinander diskutiert und darüber sogar Streit ausgetragen, aber immer in spiritueller Offenheit für das Wort Christi, so dass sie schließlich zu der Formel gefunden hätten: „Der Heilige Geist und wir haben beschlossen…“(Apg 15,28). Papst Benedikt zog daraus wörtlich den Schluss: „Nach dieser ‚Methode’ arbeiten wir in großen und kleinen Versammlungen der Kirche“. Also nicht der Gehorsam gegenüber dem Papst oder gegenüber dem Lehramt, sondern der Gehorsam gegenüber dem Heiligen Geist ist verlangt, der – nach der Pfingstsequenz – der „Vater der Armen“ ist und der weht, wo er will. Dann kann ein „neues Pfingsten“ werden.
Aparecida/ Brasilien, Pfingsten 27. Mai 2007
Norbert Arntz