Am 28. Februar 2022 ist unser Freund, unser Lehrer gestorben. Wir trauern um einen Weggefährten, dessen Sprachkraft, dessen Standfestigkeit in Auseinandersetzungen, dessen inspirierende Kraft uns fehlen wird.
Klarheit und Verständlichkeit
1993 veröffentlichte Ton einen Aufsatz in der christlich-links-alternativen Zeitschrift „Kreuz und Quer“, überschrieben: „Was steht in diesem Buch?“. In diesem Text erklärt er einer chinesischen Musikstudentin, was der Inhalt seines gerade erschienenen Buches „Autonomie und Egalität“ als Auslegung der Bibel bedeute.
„Dieses Buch der Juden und Christen“, schreibt er, „sagt nun: Man darf sich unter ‚Gott‘ eben gar nichts vorstellen. Warum nicht? Sobald man sich von Gott ein Bild macht, legt man ihn fest. Er ist dann dies und nicht das, er ist dann meistens ein ‚Mann‘ und nicht eine ‚Frau‘… ‚Gut‘, fragst Du: ,aber warum dann überhaupt ‚Gott‘, wenn es gar nichts bedeutet?‘ Weil viele Götter über uns regieren, das heißt, vieles, was unser Leben bestimmt, sagt: ‚Das musst Du tun, Du darfst nicht einmal fragen, warum.‘
Dieses Buch antwortet: ‚Gott‘ ist eine Stimme, die die Menschen auffordert, ‚wahrhaft‘ und ‚gerecht‘ zu sein. Das heißt: Ein Mensch soll so sein, daß alle Menschen in seiner Umgebung sich auf ihn verlassen können – das bedeutet ‚wahrhaft‘; und ein Mensch soll so sein, daß alle Menschen in seiner Umgebung zu ihrem Recht kommen – das ist ‚gerecht‘. Aber die Stimme hat keine ‚Gestalt‘. Es steht geschrieben: ‚Du hast keine Gestalt gesehen, nur Stimme gehört.‘ Das bedeutet: Was ‚wahrhaft‘ und ‚gerecht‘ ist, das ist von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit verschieden. Das kann man nicht festschreiben. Das merkt ihr ja in eurem Land, wo sich jetzt gerade viel ändert. Wenn man sagt: Die Menschen ‚müssen‘ unbedingt so und so sein und zwar für immer‘, geschieht meistens Unrecht. Das war die Lüge der Kulturrevolution. Sie wollte die Menschen zwingen so zu sein, wie sich einige Funktionäre wie Mao Zedong oder Lin Piao sich das ausgedacht hatten…“
Der Text ist heute noch lesenswert, weil er die Gabe Tons verdeutlicht, theologisch (oder auch politisch) kompliziert erscheinende Sachverhalte so klar und durchsichtig vorzustellen und auf die konkrete Situation seiner Zuhörerinnen und Zuhörer zu beziehen, dass sie unmittelbar verständlich werden.
Aber er verkörperte auch, was er sagte. Als ich 1973 in die ESG Freiburg kam, gehörte er zum Vorstand der Studentenpfarrerkonferenz. Dort begegnete ich ihm zum ersten Mal. Es gab damals heftige Auseinandersetzungen mit verschiedenen Kirchenleitungen, denen die ESG „zu politisch“ war. Für mich war er derjenige, der faulen Kompromissen entgegentrat und nicht nur politisch, sondern auch theologisch argumentierte. Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit waren keine leeren Worte.-
Lehrer im Lehrhaus
Ich hatte zwar Theologie studiert und Religionsunterricht gegeben, aber mir wurde es auf der Grundlage der Universitätstheologie zunehmend schwieriger, die biblischen Erzählungen den Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe I zu vermitteln. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen retteten sich in einen „problemorientierten Religionsunterricht“, in dem die biblischen Texte kaum mehr vorkamen. Um so wichtiger war es für mich und andere in den Studentengemeinden, als in den siebziger Jahren Ton und andere die Theologische Kommission in der ESG und die exegetische Zeitschrift „Texte und Kontexte“ gründeten, die ich von der ersten Nummer an abonniert habe. In der ESG Freiburg entstand eine Gruppe der „Christinnen und Christen für den Sozialismus (CfS), die sich dieser neuen Lektüre biblischer Schriften widmete, die wir provokativ ‚materialistisch‘ nannten.
Was ‚die ‚Stimme‘ (5. Buch Mose, 4,12) uns zu sagen hatte, wurde politisch geerdet. Für mich galt, etwas überspitzt gesagt: An der Universität habe ich gelernt, die biblischen Texte auseinander zu nehmen und die Teile mit Hilfe einer Menge Sekundärliteratur zu betrachten, was nur begrenzte Freude bereitete. Bei Ton Veerkamp habe ich gelernt, die Texte wieder zusammenzusetzen, auf sie zu hören und sie zu erden. Deshalb sage ich manchmal scherzhaft: Die Begegnung mit Ton Veerkamp war mein Bekehrungserlebnis.
Die in Freiburg begonnene Lehrhausarbeit konnte ich dann im Pädagogisch-Theologischen Institut Kassel, wo ich die Arbeitsstelle Bad Hersfeld übernahm, fortsetzen und erweitern. Ton war öfter in unserem Lehrhaus-Kreis zu Gast. Ich erinnere mich an das Erstaunen unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, als er uns seine Auslegung des Johannes-Evangeliums vortrug. Ein neuer Blickwinkel, ein ganz eigener Sprachrhythmus und eine eigene, angemessene Übersetzung des Textes, der in einer jüdisch-heterodoxen Gemeinschaft entstand, dies alles fesselte die Zuhörerschaft. „So kennen wir die Bibel nicht“ ist der Titel eines Buches von Michel Clevenot, das wir in der ESG gelesen hatten. Genau das war unsere Reaktion auf diese neue Deutung des Johannes-Evangeliums.
Inspirator
So versorgte uns Ton mit inspirierender Kraft, um uns auf neue Art mit den biblischen Erzählungen auseinander zu setzen. In seinen Büchern brauchte er nicht viele Fußnoten, um seine Arbeit gegenüber Universitätskollegen zu legitimieren. Dafür waren seine Untersuchungen und Deutungen wirkmächtig. Bis 2014 habe ich in der Oberstufe in Bad Hersfeld Religionsunterricht gegeben. Dort habe ich oft Übersetzungen biblischer Texte von Ton Veerkamp verwendet. Sie waren zunächst sperrig für die Schülerinnen und Schüler, die ja auf das Lesen fixiert werden. Aber wenn ich sie als Hörtexte vortrug, begannen sie nachzufragen und die politischen, die sozialen, die heute noch relevanten menschlichen Hintergründe zu verstehen, an denen wir dann arbeiteten Das war für sie spannend.
Lehrhausarbeit
Alle Bücher, die Ton geschrieben hat, ebenso wie die Hefte von „Texte und Kontexte“ stehen in der Nähe meines Schreibtischs. Wer in ihnen blättert, erkennt sofort, dass mit ihnen gearbeitet wird. Das gilt ganz besonders für „Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung“. Lehrhausarbeit eben, weitergegeben in Schule, Kirchengruppen und CfS-Arbeitsgruppen. Dazu kamen immer wieder neue Impulse durch Tons Vorträge. Der leichte niederländische Akzent war eine Zutat. Er konnte die unterschiedlichen Texte sprachgewaltig und plausibel miteinander und mit ihren politischen, ökonomischen und ideologischen Hintergründen in Beziehung setzen. Ich erinnere mich an ein Lehrhaus zum 5. Buch Mose. Als eine Frage auftauchte, nahm er seine abgegriffene offensichtlich viel benutzte hebräische Bibel und blätterte darin hin und her wie jemand, der in einem Stadtplan architektonische Besonderheiten und Leitfunktionen in der Verkehrsplanung darstellt. Wir bekamen auf diese Weise nicht nur Einblick in die Sprachstruktur der Texte, sondern auch in die Grundlinien, die Orientierungsfunktion der Texte vor dem Hintergrund historischer Auseinandersetzungen. So wurde die Lehrhausarbeit zur Grundlage für die anschließende politische Diskussion zu Fragen der Gegenwart.
Tons Impulse (aber auch die seiner Schülerinnen und Schüler wie z.B. Gerd Jankowski oder Andreas Bedenbender) wurden uns als CfS wichtig, Nicht nur, dass sie in unseren Politischen Morgengebeten während unseres jährlichen Intensivseminars eine Rolle spielen. Sie fließen auch in unser jährliches Lehrhaus-Seminar ein, das für CfS ein wichtiges Standbein geworden ist und unsere Gruppe zusammenhält.
Ton selbst beschreibt in seinen „Politischen Erinnerungen: ‚Abschied von einem, messianischen Jahrhundert‘“, wie seine Lehrhaus-Arbeit in Münster am Institut für Theologie und Politik (ITP) durch andere weitergeführt wurde, als er aus gesundheitlichen Gründen seine Arbeit ruhen lassen musste. So schmerzlich sein Tod ist, so sehr wir ihn vermissen werden: Es gibt Orte, wo seine Arbeit weitergeführt wird. Und es gibt Menschen, die das tun.
Hartmut Futterlieb
Bad Hersfeld, am 10. März 2022