Zur aktuellen politischen Situation in Tunesien
von Kacem Gharbi, muslimischer Befreiungstheologe aus Tunis
Seit dem 25. Juli befindet sich Tunesien in einer – gelinde gesagt – außergewöhnlichen Situation. Aber um zu verstehen, was jetzt passiert, müssen wir ein wenig zurückgehen auf die Situation am Vorabend der Präsidentschaftswahlen 2019.
Nach dem ersten Wahlgang hatten wir das Pech, dass wir zwei untypische Kandidaten hatten. Der erste, Kais Said, ein Hochschuldozent, ein Spezialist für Verfassungsrecht, ohne jegliche politische Zugehörigkeit. Auf der anderen Seite standen ein korrupter Geschäftsmann, ein Fernsehmagnat (ein tunesischer Berlusconi) und seltsamerweise Nabil Karoui, der die meiste Zeit der Wahlen im Gefängnis verbrachte. Er wurde 4-5 Tage vor dem Wahltag entlassen.
Diese Situation veranlasste die Bevölkerung, massiv für den Universitätsprofessor mit den unbekannten Ideen zu stimmen, um nicht eine korrupte Person an der Spitze des Staates zu haben. Eineinhalb Jahre später führte dieser ehrliche Professor einen Staatsstreich durch.
Es muss betont werden, dass der Grundstein für den Erfolg dieses Staatsstreichs in der Unterstützung der Bevölkerung dieses Putschprojektes gelegt wurde: Eine Regierung ohne Unterstützung der Bevölkerung, die angeblich unabhängig von politischen Parteien ist. Doch in Wirklichkeit war diese Regierung eine Marionette, die von drei politischen Parteien manipuliert wurde: der Nahdha, der islamischen Partei, dem «Cœur de la Tunisie» (Das Herz Tunesiens), der Partei von Nabil Karoui und der Allianz El Karama (Die Würde), einer politischen Partei mit salafistischem Einschlag.
Hinzu kommt die miserable Wirtschaftslage, die auf die neoliberalen Entscheidungen der verschiedenen Regierungen seit dem Aufstand von 2011 zurückzuführen ist. Das Land steht am Rande des Bankrotts (immer öfter hört man, dass wir keine andere Wahl haben, als uns an den Pariser Club zu wenden, um den offiziellen Bankrott des Staates zu verkünden). Die soziale Lage ist mehr als katastrophal, die offiziellen Zahlen sprechen von einer Arbeitslosenquote von 18 %.
Nach Covid-19 hat sich die Situation noch verschlechtert. Die Zahl der Todesopfer liegt bei 20.000, die Regierung ist nicht in der Lage, die Situation zu bewältigen. Korruption und Bestechung sind an der Tagesordnung. Darüber hinaus ist das Parlament, das eigentlich dazu beitragen sollte, die Situation zu regeln, zu einem regelrechten Boxring zwischen den verschiedenen politischen Parteien (islamische, Geschäftsleute, Parteien des früheren Regimes, nationalistische Parteien, die dem Präsidenten der Republik nahe stehen…) geworden. Man muss sich vor Augen führen, dass die Bevölkerung zu Recht diese ganze politische Klasse beschuldigt, für die Situation verantwortlich zu sein. Seit Monaten finden im ganzen Land Streiks, Demonstrationen und Sitzstreiks statt. Der Unmut der Bevölkerung richtet sich vor allem gegen die Nahdha-Partei, die als Hauptverantwortliche für die politische, wirtschaftliche und soziale Lage gilt.
Was unternimmt nun der Präsident?
Seit einiger Zeit beginnen wir, die versteckte Agenda des Präsidenten zu verstehen. Der populistische Nationalist, der den Ideen des ehemaligen libyschen Diktators Gaddafi nahe steht, schlägt die Auflösung der staatlichen Institutionen vor und erkennt die Legitimität des Parlaments nicht an. Er schlägt eine Form der direkten Demokratie durch die Einrichtung einer Art Volksausschuss vor.
Die chaotische Situation im Parlament und die soziale Lage (Covid-19 und Arbeitslosigkeit) ermöglichten es ihm, sein Projekt ins Leben zu rufen. Am 25. Juli traf er die verfassungswidrige Entscheidung, die Tätigkeit des Parlaments einzustellen und die Regierung aufzulösen. Diese Entscheidung wurde übrigens von einem großen Teil der Bevölkerung unterstützt.
Jetzt stehen wir vor vollendeten Tatsachen, der Coup de Force ist gelungen. Die Zivilgesellschaft, die linken Parteien und die progressiveren Parteien sind in der Warteschleife, überrascht von einer Bevölkerung in Aufruhr und der Aussicht auf eine Manipulation der Erwartungen der Bevölkerung durch die populistische Rechte, die vom Präsidenten repräsentiert wird. Wir erleben den Beginn eines Angriffs auf das Recht auf freie Meinungsäußerung und die politischen Freiheiten. Gleichzeitig kursieren Informationen über französisch-amerikanische Verhandlungen über einen Ausweg aus der Krise, der die gegenseitigen Interessen in Einklang bringen soll.
Übersetzt aus dem Französischen von Benedikt Kern