Ein Tagungsbericht von Tobias Heinzelmann zur Mitgliederversammlung des ITP-Trägervereins am 22. April 2017.
„Umkämpftes Kirchenasyl“
Stephan Theo Reichel hielt im Rahmen der ITP-Mitgliederversammlung am Samstag, den 22. April 2017, einen Vortrag zum Thema „Umkämpftes Kirchenasyl“. Herr Reichel ist vordergründig für die Beratung und Koordination der Kirchenasyle in Bayern verantwortlich, welches dort zurzeit hohe Wellen schlägt.
Sein Vortrag stand unter dem biblischen Vers: „Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen“ (Matthäus 25,35). Jedoch ging es ihm nicht um eine exegetische Auseinandersetzung (wie bei der letztjährigen Mitgliederversammlung), sondern um eine kirchen- und gesellschaftspolitische. Eine theologische Auseinandersetzung schloss sich mit dem Vortrag von Dr. Michael Ramminger im Anschluss daran an. Beide Vorträge verwiesen auch auf die politische Situation und Perspektiven dieser Praxis des solidarischen Menschenrechtsschutzes.
Kirchenasyl in Bayern
Herr Reichel ging zunächst auf die Entwicklung des Kirchenasyls ein, indem er kurz die Traditionen erläuterte, die in den Tempel- und Heiligtumsasylen wurzeln, bevor er dann auf die Geschichte des Kirchenasyls speziell in Bayern zu sprechen kam. Im Jahre 1803 wurde im damaligen Königreich Bayern das Kirchenasyl im Zuge der napoleonischen Reformen abgeschafft. Jedoch gab es schon davor sogenannte Stadtasyle, z.B. in der Stadt Freising, die damals noch nicht zu München gehörte.
Im Zuge der weltweiten Fluchtbewegungen und Flüchtlingsströme gab es seit 2013 einen enormen Zuwachs an Asylsuchenden in Deutschland und ganz besonders im Freistaat Bayern. Nach Auskunft der BAG Kirchenasyl „Asyl in der Kirche“ wurden 2016 in Bayern rund 500 Personen von evangelischer und katholischer Seite Kirchenasyl gewährt. Dies entsprach einer hohen Anzahl von rund 65 Kirchenasylen, im Vergleich dazu gab es in Baden-Württemberg gerade mal 4 Kirchenasyle. Die meisten Asylsuchenden kamen aus Syrien, Afghanistan und Eritrea.
Wieso gibt es in Bayern weitaus mehr Kirchenasyle als in anderen Bundesländern? Herr Reichel hob hier vor allem die gut organisierte Verteilung von Flüchtlingen hervor, aufgeteilt nach der Wirtschaftskraft der jeweiligen Gebiete. Des Weiteren sprach er von einem „Aufstand der Empathie“ vor allem in ländlichen Gebieten. Jedoch gibt es auch eine Kehrseite der Medaille, die leider die Realität ist: Denn in jüngster Vergangenheit gab es rund 50 systematische Anzeigen gegen Pfarrerinnen und Pfarrer, die Flüchtlingen Kirchenasyl gewährt haben bzw. noch gewähren.
Von manchen, sogar von einigen KirchenvertreterInnen, so Stephan Reichel, werden die 2015 geschlossenen Vereinbarungen der einzelnen Bundesländer mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) fälschlicherweise so ausgelegt, dass nur vom BAMF als Härtefall anerkannte Kirchenasyle weitergeführt werden könnten. Eine solche Auslegung ist aber kirchenrechtlich unmöglich und widerspricht auch dem Wortlaut der Vereinbarung. Aber auch die Vereinbarung selbst ist rechtlich problematisch: sie hat keine rechtliche Grundlage und beruht auf einer diffusen Urteilslage. Auch nach der Vereinbarung verbleibt das Kirchenasyl also in einer juristischen Grauzone.
Jedoch gibt es eine große Mehrheit der bayrischen Bischofssynode, so Reichel, die hinter dem Kirchenasyl steht, jedoch den Konflikt mit dem Staat scheut
Hier wäre es vor allem wünschenswert, wenn sich die beiden Großkirchen in Deutschland noch stärker zu Wort melden und sich ganz klar zum Thema „Kirchenasyl“ positionieren würden.
Nach Reichel sollte auch die Barmherzigkeit verteidigt werden. Dies kann durch genaues Hinschauen auf die Gründe, Ursachen von Flucht und Vertreibung geschehen. Jedoch darf es dabei nicht bleiben, vielmehr müssten die Fluchtursachen mit aller Entschlossenheit angegangen und bekämpft werden.
Ebenso könnten auch flüchtlingsfreundliche Positionen, Aussagen auf die Wählerschaft und auf Wahlen positive Auswirkungen haben, indem z.B. explizit auf die derzeitige politische Situation in Afghanistan aufmerksam gemacht wird. Herr Reichel nannte hier als Beispiel den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, der sich gegen Abschiebungen nach Afghanistan ausgesprochen hatte, was ihm hohen Sympathiezuwachs gebracht hat. Des Weiteren müsste über krasse, unmenschliche Zustände in den Lagern in Bulgarien und Ungarn aufgeklärt und Sammelklagen gegen Gefängnisleitungen, z.B. in Bulgarien, sollten auch vonseiten der Kirchen unterstützt und vorangetrieben werden. Hierzu bräuchte es aber einen gemeinsamen ökumenischen Konsens.
Theologische Perspektive
Michael Ramminger ging in seinem Vortrag noch einen Schritt weiter, indem er im Zusammenhang mit dem Kirchenasyl die Frage nach dem Gottesverhältnis stellte. Dies ist eine Bekenntnisfrage, die die Flüchtlings- und Menschenrechtsarbeit, ebenso die Universalität der Menschenrechte und Solidarität impliziert.
Gemäß dem Ersten Testament hat Gott das Volk Israel aufgrund seiner Unterdrückungssituation erwählt. So ist eine Kernaussage im Deuteronomium: Das Volk Gottes soll auch den Fremdling lieben, da es selbst Fremdling in Ägypten gewesen ist (Vgl. Dtn. 10,17-19). Denn JHWH hat Israel wegen seiner Fremdlingsschaft erwählt und liebt deshalb auch die Fremden wegen ihrer Unterdrückung.
Das Volk Gottes ist somit ein Volk ohne Grenzen. Wer die Grenzen dicht macht, verweigert anderen die Zugehörigkeit zum Volk Gottes. Auf uns heute übertragen heißt dies, dass eine Kirche sich nicht mehr als christliche „katholische“ Kirche bezeichnen sollte, wenn sie die Rechte der Bedürftigen zurückweist und zuschaut, wie Flüchtlinge an den Grenzen Europas sterben, in Abschiebeknästen inhaftiert werden oder auf die Müllhalden ihrer Herkunft zurückgeschickt werden.
Deshalb muss es, so Ramminger, Menschenrechte ohne Grenzen geben und zugleich ein Christentumverständnis, welches mit einer Politik im kosmopolitischen Sinne konvergiert, die die Menschenrechte realisiert und garantiert. Hier zitierte er den französischen Aufklärer Charles Montesquieu:
„Wenn mir etwas bekannt wäre, das mir nützlich, für meine Familie aber schädlich wäre, so würde ich es mir aus dem Sinn schlagen. Wenn mir etwas bekannt wäre, das meiner Familie zuträglich wäre, meinem Vaterland aber nicht, so würde ich versuchen, es zu vergessen. Wenn mir etwas bekannt wäre, dass meinem Vaterland zuträglich, für Europa aber abträglich wäre, oder etwas, das für Europa nützlich, für die Menschheit aber schädlich wäre, so würde ich es für verbrecherisch halten“.
Recht und Gesetz
Des Weiteren plädierte Ramminger für ein Recht auf Einwanderung (ein Recht auf Auswanderung existiert bereits). Es gäbe zwar ein Recht auf Asyl, das nationalstaatlich verankert ist, aber noch nicht universalistisch für alle Menschen verwirklicht worden ist. Denn die Menschenrechte, die genauso auch für Flüchtlinge gelten sollten, machen nicht einfach an den Grenzen des jeweiligen Nationalstaates halt, sondern müssten auch darüber hinaus ihre Gültigkeit besitzen.
In der Bibel ist oft von (Grenz-)Situationen die Rede, in denen der Widerstand gegen das Gesetz gerade seine Erfüllung in sich birgt. Deswegen ist die Aussage des Innenministers, dass es keine rechtsfreien Räume geben darf, falsch. Denn wenn es keine rechtsfreien Räume mehr geben würde, dann würde es auch kein menschliches Leben mehr geben. Ein Verbot wäre der absolute Totalitarismus. Denn jedes Recht und Gesetz muss auch sein Gegenüber, den rechtsfreien Raum, in sich tragen, um überhaupt Recht und Gesetz sein zu können.
Ebenso muss es auch ein universales Recht geben, das über das von Menschen gemachte Recht hinausgeht. Ramminger sprach hier von der Transzendierung des Rechts, das aber nicht mit göttlichem Recht bzw. Gottesrecht gleichgesetzt werden darf. Selbstverständlich muss sich hier unsere Gottesvorstellung an den Menschenrechten erweisen und orientieren.
Von Seiten der Politik wird oft verlangt, dass Religion, Kirche sich nicht gesellschaftspolitisch einmischen dürfe, sondern vielmehr Kontingenzbewältigung (Sterben, Krankheit, Unglück, persönliches Scheitern usw.) betreiben solle. Ramminger machte hier deutlich, dass die globalisierte bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft ein kritisches Verhältnis zur Demokratie und Moderne entwickeln müsse und Christinnen und Christen sich nicht mit gesellschaftlichen Vorgaben zufriedengeben dürften, sondern sich verstärkt in politische Debatten einmischen sollten, aber nicht in einem fundamentalistischen, sondern in einem menschenrechtlich-solidarischen Sinne.
Des Weiteren braucht es auch eine Militanz der Menschlichkeit, Solidarität, Barmherzigkeit und Toleranz, ebenso Widerstandsfähigkeit, Standfestigkeit und Durchsetzungsstärke. Das Kirchenasyl muss vor allem aus der Perspektive der Geflüchteten betrachtet werden, da auch in Zukunft die Migrationsbewegungen anhalten werden, solange die Fluchtursachen nicht wirksam bekämpft werden. Und solange dies nicht geschieht, wird es auch weiterhin engagierte Gemeinden geben, die ihre Herzen für Geflüchtete öffnen und ihnen Kirchenasyl gewähren, egal ob mit oder ohne Erlaubnis des Staates.