Unbedingte Solidarität und die Ästhetik des Schreckens
Michael Ramminger
Die Macht der Bilder: High-tech-Instrumente, die Flugzeuge, mit einfachsten Mitteln unter Kontrolle gebracht, unaufhaltsam und präzise ins Ziel, in das World-Trade-Center und das Pentagon gelenkt. Die Wehrlosigkeit der Opfer in Echtzeit übertragen – 5.000 Menschen tot.
Natürlich wußte jeder sofort, hier waren nicht ziellos 5.000 Menschen ermordet worden. Es ging auch um die Symbole einer Weltmacht, um ihre Ideen, ihre und unsere Globalisierung. Was immer Globalisierung bisher bedeutet hat, die Anschläge auf die Menschen im WTC und Pentagon sind ein Globalisierungsschub: Der “Terror” macht vor den Zentren nicht mehr halt, er hält sich nicht an die halbdurchlässigen Grenzen der Globalisierung. Diese Anschläge müssen auch als die Kehrseite verweigerter christlich-abendländischer Universalität verstanden werden.
Unsere Regierenden haben dies offenkundig sofort begriffen. Sie haben die Ästhetik des Schreckens für sich genutzt und durch den Slogan der “unbedingten Solidarität” ergänzt. Sie haben die spontane Betroffenheit für sich instrumentalisiert und zu einem Denkverbot ausgebaut: Sowohl Erklärungsversuche für diesen Anschlag als auch die Diskussion über politisch verantwortbare Reaktionen darauf werden als unstatthaft diffamiert. Ein Geständniszwang griff um sich. Wer nicht zunächst sein Entsetzen und sein tiefes Mitgefühl artikulierte, durfte über den Anschlag nicht reden. Und wer gestand, um danach differenzieren zu können, konnte immer wieder auf sein Geständnis zurückverwiesen werden, wie schrecklich doch alles gewesen sei, so dass Differenzierungen diesem Schrecken nicht angemessen sind.
Es blieb der Krieg gegen Afghanistan als schreckliche, aber weit weniger schreckliche und darin rationale Antwort auf den Anschlag, und die in den ersten Tagen abgezwungene kollektive Verpflichtung auf unbedingte Solidarität.
Solidarität
Solidarität bedeutet in der Definition des Wörterbuches der deutschen Sprache der Gebrüder Grimm: “Was ihn angeht, geht auch mich an, was ihn betrifft, betrifft auch mich. Ich stehe für ihn ein.” Solidarität wäre hier also zunächst nichts anderes als eine Gemeinsamkeit der Interessen, und unbedingte Solidarität die kritiklose und vorbehaltlose Übernahme der Interessen. Allerdings ist das eine ungenügende Interpretation von Solidarität. Solidarität verweist immer auch auf einen ethischen Impuls, transzendiert die unmittelbaren Interessen und bezieht sich auf Menschenrechte, auf Leiden und Leidensgeschichte. Die Frage nach “Solidarität” stellt sich also als Frage nach Solidarität mit den Angehörigen der Toten – und mehr noch als die Frage nach der Solidarität mit den Toten. Sie stellt sich aber definitiv nicht als unbedingte Solidarität mit der Politik der Vereinigten Staaten, wohl aber als Frage nach Solidarität mit der Pax-Christi-Bewegung der USA oder den war-resisters.
Die für die “unbedingte Solidarität” ausgenutzte Ästhetik des Schreckens hat im übrigen viele Menschen, vor allem in der Dritte-Welt-Bewegung, nicht erreicht. Für sie verweisen die Anschläge vielmehr auf den Schrecken allgegenwärtiger Politik, die ihr alter ego immer mit sich trägt. Wirklich überrascht waren wohl nur diejenigen, die geglaubt hatten, in einer friedlichen Welt zu leben, für die die Hungerkatastrophen in Afrika Naturgeschichte und der Nah-Ost-Konflikt ein regionaler Krieg waren.
Wir haben keine andere Wahl: Solidarität mit den Opfern verlangt von uns die kritische Auseinandersetzung mit einer Globalisierung, in deren Verdrängungswettbewerb den Anderen nur die Rolle von billigen Rohstofflieferanten und taktischem Material zugewiesen wird. Solidarität mit den Opfern verlangt von uns, dass wir uns dafür einsetzen, dass die Kriege, die unter dem Deckmantel der “humanitären Intervention” längst schon wieder Normalität geworden sind, endlich einer Globalisierung weichen, die für alle Menschen Hoffnung sein kann.
Armut und Terror
Allerdings reicht der einfache Hinweis auf die “Ungerechtigkeit” und die Armut in der Welt als Erklärung für die neue Form der Politik, wie sie sich in den Anschlägen gezeigt hat, nicht aus. Denn Armut und Ungerechtigkeit führen in der Regel nicht zu wie auch immer geartetem Widerstand, sondern zu Autoaggression, z.B. Alkoholismus, oder zu Gewalt gegen gegen Frauen oder Minderheiten.
Mit einer solch verkürzenden Interpretation “Armut =Terror” begeben wir uns in die Gefahr, das sich abzeichnende Szenario von “Entwicklungspolitik” als “Sicherheitspolitik” ungewollt zu legitimieren. Das wäre äußerst fatal. Denn “Entwicklung” wird darin lediglich als Funktion unserer eigenen Sicherheit verstanden.
Religion und Terror
Deshalb stellt sich die Frage nach der besonderen ideologischen Konstellation, die diese Anschläge begründet. Es stellt sich die Frage nach der Religion und nach einem ökumenischen Dialog. Dabei hilft uns allerdings jener billige Dialog nicht weiter, der sich darauf beschränkt, die Gemeinsamkeiten aller Religionen wie Friedenswille, Menschlichkeit usw. zu betonen. Aus unserer eigenen Geschichte wissen wir, wie unehrlich es wäre, aus den Religionen quasi einen menschlichen, friedensliebenden Kern herauszuschälen, und alles andere als unwahre Interpretation oder fundamentalistisches Sektierertum zu verwerfen.Wir wissen, dass es äußerst unterschiedliche und widerstreitende Religions- und Traditionsinterpretation gibt. Jede Religion muss in gewissem Sinne auch Verantwortung für die schlechtesten seiner historischen Verwirklichungen übernehmen, muß wenigstens in seiner befreienden Interpretation seine Legitimation gegenüber den herrschenden Interpretationen nachweisen.
Ein ökumenischer Dialog muss deshalb über die verschiedenen Traditionsstränge seiner eigenen Geschichte Auskunft geben, und er muss über die Differenzen zwischen den Religionen reden. Dies gilt nun allerdings zuerst für das Christentum, denn die Globalisierung, die am 11. September 2001 zu uns gekommen ist, hat ihre Vorläufer in der Globalisierung von 1492 genauso wie in der vom 11. September 1973, als CIA und Militärs den demokratische gewählten Präsidenten in Chile von der Regierung bombten. “Praying today – fighting tomorrow” war auf einem Plakat während der Trauerfeier im Yankee-Stadion eine Woche nach dem Anschlag in New York zu lesen. Diese Feier war nichts anderes als eine sorgfältige Inszenierung christlich-fundamentalistischer Theologie, an der sich allerdings auch Rabbiner, Moslems, Buddhisten und Sikhs beteiligten.
Es gibt also viele Gründe, nachdenklich zu sein, allerdings wenig Gründe, Hoffnung auf ein Ende dieser katastrophalen christlich-abendländischen Universalisierung und Globalisierung zu haben. Lassen wir uns also dieses Recht auf das Denken nicht durch den Zwang zur “unbedingten Solidarität” nehmen. So wie bei den bisherigen militärischen Interventionen werden wir auch dieses Mal von den Folgen des Krieges in Afghanistan erst später erfahren – und feststellen, dass er keine Probleme gelöst, sondern nur neues Leid geschaffen hat. Solidarität mit den Opfern bedeutet: keinen Krieg zu führen, sondern mit dem Philosophen Walter Benjamin zu begreifen, dass “der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist” – und diese Regel zu durchbrechen.