Eine gekürzte und leicht überarbeitete Version des folgenden Artikels ist auf dem Blog feinschwarz am 21.03.2020 erschienen.
Spätestens am Abend des 13. März 2020 war klar, dass die Bundes- und Landesregierungen weitergehende Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie ergreifen würden. Stellungnahmen von Politiker*innen und Anderen folgten auf dem Fuß. Seitdem „überschlagen sich die Ereignisse“. All das einzuordnen, fällt schwer. Wir möchten hier nur auf einen Punkt aufmerksam machen und zwar, was Solidarität bedeutet und unter den aktuellen Umständen weiterhin bedeuten muss. Ihre Notwendigkeit wird kaum bezweifelt werden. Genauso wenig wie die Notwendigkeit, bestimmte Formen sozialer Kontakte dramatisch zu reduzieren: Abstand halten. Die selbstverständliche Verbindung von beidem darf nicht einfach so gesetzt werden.
Universale Solidarität
von Andreas Hellgermann und Julia Lis
„Solidarität zeigen, indem Sie Abstand zueinander halten – eine scheinbare paradoxe Sache, die aber heute notwendig ist. Gerade den Schwächsten, den älteren Menschen, den Menschen mit Vorerkrankungen hilft man am besten, wenn soziale Kontakte so weit wie möglich gemieden werden. Das ist die Solidarität in dieser Zeit, die wir brauchen.“ (Angela Merkel, Tagesschau 13.3., 20 Uhr)
Ähnlich klingt es beim Münsteraner Bischof, Felix Genn: „Wir sind alle zu einer großen Solidarität herausgefordert, die bedeutet, dass wir einander Nähe zeigen, indem wir Distanz halten. Das klingt in der Tat paradox, ist aber sehr hilfreich.“ (Bischof Felix Genn, Pressemeldung vom 17.3.2020)
Es ist egal, ob dies eine unfreiwillige Offenlegung, ein Art Freud’sche Fehlleistung oder ein ernstgemeinter Versuch ist. Und selbstverständlich bestreitet auch niemand die Notwendigkeit, die Weitergabe des Virus durch räumlichen Abstand zu unterbrechen. Ja, das ist geboten. Aber das ist noch kein Zeichen von Solidarität. Bei Solidarität geht es um mehr und ganz anderes als jede noch so notwendige und hilfreiche Hygieneregel vermag, wenn auch gerade alles dafür spricht, solche Regeln einzuhalten!
Wie hingegen gerade über Solidarität gesprochen wird, spiegelt vor allem eins wieder: Das Subjekt, das die Corona-Pandemie zu fordern scheint, scheint das Subjekt zu sein, das wir schon aus dem neoliberalen Alltag kennen: atomisiert, isoliert, auf sich allein gestellt. Dieses Subjekt ist in seiner stärksten Ausprägung obendrein das digitale Subjekt, das über eine Vermittlungsinstanz, über einen Filter im Kontakt mit der Welt ist – oder besser: mit dem, was dieser Filter als „Welt“ autorisiert. Am wenigsten gefährdet und gefährdend ist die Person, die im Idealfall sowohl ihre „Sozialkontakte“ als auch ihre Konsumaktivitäten realisiert, ohne das Haus, die Wohnung, den Stuhl vor dem Bildschirm zu verlassen. Und das stimmt gerade natürlich. Angela Merkel hat Recht. Aber dieses neoliberale digitale Subjekt ist auch dasjenige, das im neoliberal-kapitalistischen Alltag außerhalb der Corona-Krise am besten klarkommt. Was das bedeutet, könnte uns vielleicht, nachdem die Pandemie überstanden ist, deutlicher denn je vor Augen treten.
Indessen trügt das Wir-Gefühl, das landauf landab unter dem Deckmantel der Krisenbewältigung beschworen wird. Wir sitzen genauso wenig in einem Boot wie auch sonst in unserem neoliberal-kapitalistischen Alltag. Im Grunde treten die Gegensätze sogar drastischer und deutlicher denn je zutage: Jetzt in der Krise gibt es Menschen, die gelernt haben, mit den neoliberalen Gegebenheiten in einer digitalisierten Welt umzugehen und darin den Alltag zu bewältigen und diejenigen, für die die neoliberale Atomisierung schon immer nichts anderes als Leiden produziert hat. Nicht alle können ihren Arbeitsplatz in das Home-office verlegen oder verfügen über die finanziellen Mittel und befinden sich in der privilegierten Situation, Corona „abfedern“ zu können. Es gibt diejenigen, die das gar nicht können: die prekär Beschäftigten, die Pflegeberufe, diejenigen, die die Basisfunktion zur Reproduktion aufrecht erhalten. Und es gibt Menschen in Lagern, in Gefängnissen, Menschen, die deshalb nicht zu Hause bleiben können, weil sie gar kein „Zuhause“ haben.
Die Zusammengehörigkeit von Abstand und Solidarität sei eine scheinbar paradoxe Sache, so sagt es Bischof Genn: Paradox bedeutet gegen, entgegen der Meinung. Aber warum nur scheinbar? Soll es bedeuten, dass wir es nur noch nicht wissen, dass die Tugend des Abstandhaltens, die Tugend auf Sozialkontakte zu verzichten nun Solidarität heißt? Das dürfen wir nicht einmal ansatzweise denken. Solidarität ist keine Anstands- oder Verhaltensregel. Sie meint vielmehr etwas ganz anderes: Im Horizont des guten Lebens aller Menschen zu denken und zu handeln und damit jene Grenzen zu sprengen, die notwendig sind. um das gute Leben einiger auf Kosten vieler aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne lässt sie sich christlich gesprochen auch als Einheit der Nächsten- und Fernstenliebe beschreiben: Es geht um viele mehr als um mich, meine Familie, meine Freund*innen, Nachbar*innen, Bekannten. Nämlich um alle. Unterhalb dieses Maßstabs ist Solidarität nicht zu haben.
Natürlich meint solch eine Solidarität mehr als erhabene Worte oder Gesten. Sie ist auch nicht allein und zuerst eine Haltungsfrage, sondern erweist sich im praktischen Handeln: „Was ihr dem geringsten meiner Geschwister getan habt…“ (Mt 25). Was also bedeutet das für uns konkret in Zeiten einer Pandemie wie Corona, die weltweit die Körper und Leben so vieler Menschen bedroht?Worum es gehen muss, ist Formen von Solidarität zu finden, die sich mit dem Abstand, dem Verlust sozialer Kontakte nicht einverstanden erklären. Die nicht einfach nur von der Mitte der Gesellschaft her denken, von denen, die mir unmittelbar nahe sind, weil sie meine Lebensumstände teilen, sondern von den Anderen her, den Ausgeschlossenen, Bedrohten, der Lebensperspektiven Beraubten. Für die Menschen auf Lesbos, die Geflüchteten in den Lagern Europas mit ihren katastrophalen medizinischen Bedingungen, die Wohnungslosen und Gefangenen wird unser Händewaschen nicht ausreichen. Sie brauchen unsere Stimmen, die nach wirklicher Solidarität schreien und sich dafür einsetzen, dass auch im Angesicht der Pandemie keine*r zurückgelassen wird, das unsere Sorge nicht im nationalen Rahmen auf die Menschen der europäischen Mittelschichten beschränkt bleibt, sondern allen gleichermaßen gilt, weltweit, weil sie alle „die Unseren“ sind. Bezeichnend ist, dass diese Menschen in Bischof Genns Botschaft gar nicht vorkommen. Die gegenwärtige Situation produziert also Unsichtbares und Unsichtbare. Solidarität besteht darin, die medizinischen, epidemologischen Notwendigkeiten zwar selbstverständlich nicht zu verleugnen, sie absolut ernst zu nehmen, aber das, was sie erfordern, gerade nicht Solidarität zu nennen. Damit sanktionieren wir nicht nur die Gegebenheit jetzt, sondern produzieren eine Kontinuität, die sich aus der unmittelbaren Verlängerung des neoliberalen Alltags in die Krise hinein ergibt. Dies Logik haben alle Krisen und wenn sie vorbei sind, dann bleiben die Einübungen der Verhaltensweisen und Denkmuster aus der Krise als neuer, selbstverständlich gewordener Baustein zurück. Wir dürfen uns deshalb der Feindeslogik des Ausnahmezustands nicht beugen! Diese Logik ist nämlich langfristig ein genauso schwieriger Gegner wie die Pandemie selbst. Wir müssen Corona bekämpfen wollen, aber nicht um jeden Preis, nicht um den Preis der Aussetzung der Menschenrechte und der Aufgabe einer universalen Solidarität. Und wir glauben sogar, dass der Kampf gegen Corona aus einer Perspektive universaler Solidarität eher und besser zu gewinnen ist.
Jetzt über Solidarität zu sprechen bedeutet auch über das zu sprechen, was uns bereits als Solidarität in einer atomisierten Welt ausgetrieben werden sollte und was uns auch nach der Krise nicht auf einem silbernen Tablett serviert werden wird. Eine solche Rede ist kein überflüssiges Luxusgut, sondern bittere Notwendigkeit, wenn wir weiter am Aufbau einer menschenwürdigen Welt für alle festhalten wollen. Trotz medizinisch gebotener Distanz also Nähe zu wollen und zu suchen und kreativ zu werden, dafür, vielleicht auch neue, Formen zu entdecken. Das aber stellt die eingangs zitierten Empfehlungen geradezu auf den Kopf: Obwohl wir gerade auf Distanz gehen müssen, suchen und wollen wir gegenseitige Nähe!
Papst Franziskus bringt diese ganz andere, umgekehrte Paradoxie auf den Punkt: „Denken wir zum Beispiel an die Nähe Jesu zu den verängstigten Emmaus-Jüngern. Er nähert sich ihnen nach und nach, macht ihnen die Botschaft des Lebens verständlich. Und er bittet auch uns, einander nah zu sein. In diesem Moment der Krise, den wir wegen der Pandemie erleben, müssen auch wir diese Nähe zeigen.“ (Papst Franziskus, Ansprache in der Frühmesse am 18.3.2020) Lasst uns gemeinsam nach Formen und Wegen dafür suchen und uns in unserem Mut und unserer Kreativität gegenseitig inspirieren.