Am gestrigen Sonntag fand in Venezuela eine Volksbefragung über Verfassungsänderungen statt. Weit über 100 Artikel sollten verändert werden. Darunter solche, die die Wahldauer des Präsidenten verlängern sollten und solche, die seine Wiederwahl ermöglichen sollten. Genau von diesen war, wenn überhaupt, auch in unserer Presse immer wieder die Rede. Keine Erwähnung fanden selbstverständlich diejenigen Änderungen, in denen es um eine Ausweitung der demokratischen Strukturen ging, darum, dass Diskriminierung aufgrund geschlechtlicher Orientierung verboten werden sollte, dass der Schutz der Umwelt Verfassungsrang bekommen sollte. Und schon gar nicht wurde darüber berichtet, dass verschiedene Eigentumsformen (staatliche, kollektive, genossenschaftliche etc.) neben dem Privateigentum aufgenommen werden sollten.
Statt dessen wurde von den Protesten von Studenten gegen die Verfassungsreform berichtet: ein widerliches Spiel unserer Massenmedien – denn Studentenproteste gehören hier ja nun nicht zu den Ereignissen, die man als demokratische Willenskundgebung gerne sieht. Im Falles Venezuelas sollten sie nun wohl für einen demokratischen „Freiheitswillen“ stehen und den autoritären Charakter der Regierung von Präsident Chavez unterstreichen. Keine Rede war in den Medien davon, dass es sich um Studenten der Mittelschicht handelte, die scheinheilig fehlende Demokratie beklagten (und sich neben erwähnt gegenseitig erschossen). Wer Lateinamerika ein wenig kennt, weiß um die Doppelbödigkeit der demokratischen Grundeinstellung von Mittelklasse und Oligarchie. Sie sind die ersten, die sich einen Kehricht um Demokratie und Menschenrechte kümmern, wenn es um ihre eigenen Interessen geht!
Gleichwohl hat die Regierung sich mit ihren Vorschlägen nicht durchsetzen können. Von ca. 45 Prozent der Wahlbeteiligten stimmten knapp über 50 Prozent gegen die Verfassungsreform. Es war ein riskanter Versuch: Über eine demokratische Entscheidung sowohl die Macht als auch die politischen Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit und Basisdemokratie festigen zu wollen. Der Bewegung ist es nicht gelunghen, ihre eigenen Leute zu mobilisieren: „Dieses mal haben wir es nicht geschafft“ sagte Präsident Chavez und gestand die Niederlage ein. Weiter sagte er, dass er mit dieser Entscheidung besser leben könne, als mit einem knappen Sieg. Und hat vorerst alle die Lügen gestraft, die ihm einen dikatorischen, undemokratischen Regierungsstil anhängen wollen.
Natürlich ist das venezuelanische Modell widersprüchlich: Wie kann der „Populismus von Unten“ überwunden werden? Welche institutionellen Formen sollen die neuen basisdemokratischen Versuche bekommen? Läßt sich ein solches Projekt eines Sozialismus unter den gegebenen Kräfteverhältnissen legal durchstehen? Chavez ist Stratege: seine Politik baut auf verschiedenen Säulen auf: Demokratisierung, Organisierung der AnhängerInnen und nicht zuletzt seine Bündnispolitik mit der banco sur. Dies läßt hoffen.
Venezuela wird hierzulande viel zu wenig beachtet und als populistisches Projekt abgetan. Aber hier wie auch in anderen Ländern ist es mehr: die unorganiserte Armutsbevölkerung hat Regierungen gewählt, die Schluss mit dem neoliberalen Wahnsinn machen. Jetzt sehen sich diese Regirungen vor das Problem gestellt, dass sie die „Bewegung“ sozusagen von Oben organisierenund Zustimmung verfestigen müssen. Aber es handelt sich tatsächlich um breite Ablehnung neoliberaler Armutspolitik.
Vermutlich aus solchen guten Gründen werden die vielen bedeutsamen Umstrukturierungen in Ökonomie, Bildungs- und Sozialpolitik hier verschwiegen. „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ist ein grosses Wort. Es steht ein wenig in merkwürdigem Kontrast zu der oft sehr pragmatischen und ergebnisorientierten Politik der venezuelanischen Regierung: Venezuela hat unsere Aufmerksamkeit und Solidarität verdient!