World Forum of Theology and Liberation

World Forum of Theology and Liberation – Nairobi, 15. – 19. Januar 2007

Katja Strobel, Institut für Theologie und Politik, Münster

vom 16. bis 19. Januar 2007 trafen sich 360 TheologInnen und Menschen aus christlichen Basisgruppen sowie aus sozialen Bewegungen im Carmelite Fathers Center in Nairobi zum 2. Weltforum für Theologie und Befreiung, unmittelbar vor dem 7. Weltsozialforum (WSF). Schätzungsweise zwei Drittel der TeilnehmerInnen kamen aus afrikanischen Ländern.
Die Ziele des Forums wurden nach dem ersten, das 2005, auch in unmittelbarem Vorlauf zum WSF stattgefunden hatte, waren in der Zwischenzeit modifiziert worden. Sie lauteten nun:

  • Unsere Überlegungen mit den Werten und Vorschlägen des WSF verbinden
  • Zu einem weltweiten Netzwerk kontextuell arbeitender TheologInnen beitragen
  • Erfahrungen in Spiritualität, Befreiungspraxen und theologischen Diskursen integrieren
  • Die Teilnahme verschiedener Befreiungsbewegungen und Organisationen mit ihren Spiritualitäten in das WFTL mit einbeziehen
  • Den interreligiösen Dialog als eine Alternative zu Fundamentalismen verstärken, mit dem Ziel Armut abzuschaffen und sich für Frieden einzusetzen.
  • Erkennen, wie wir uns an den sozialen Transformationsprozessen aktiv beteiligen können.
  • Unseren Beitrag dazu leisten, eine interkulturelle, interreligiöse und inter-ethnische Welt zu schaffen, die auf Gleichheit, inklusive einer Gender-Perspektive, beruht.

Diese Ziele entstanden aufgrund der gemeinsamen Kritik am ersten WFTL, die z.B. interreligiösen Dialog, mehr Verbindung mit dem WSF und die Einbeziehung sozialer Bewegungen gefordert hatte. Als Thema wurde, u.a. angesichts der Herausforderungen befreiender Theologie durch charismatische und (Neo-)pentecostale Gemeinden das Thema ‚Spiritualität für eine andere mögliche Welt‘ gewählt.

„Spiritualität für eine andere mögliche Welt“

Spiritualität sollte nach der Ankündigung der OrganisatorInnen nicht spiritualisierend, sondern stark verbunden mit dem Slogan des WSF „Another world is possible!“ zu verstehen sein, und nach Sinn und Transzendenz in diesem Kontext fragen.

theoforum-1.jpgDies war allerdings im offiziellen Programm, in den Themen der Podien, schwierig, da das Gewicht auf der Repräsentation der verschiedenen Kontinente lag und damit die Tendenz groß war, in allgemeine Statements zu verfallen. Es gab auf den Podienbeiträgen wenig konkrete und kontextuelle Antwortversuche. Etwas anders sah es bei den Diskussionen unter den Teilnehmenden und in den Workshops aus. Hier wurde z.B. konkret zu den Themen HIV/ AIDS, Menschenrechte in Nigeria, Gender-Theologie, ländliche Entwicklung oder Klimawandel gearbeitet.
Ein wichtiges Element, das sowohl auf den Podien als auch in den Workshops auftauchte, ist die Kritik an Neoliberalismus und kapitalistischer Globalisierung. Rohan Silva (Sri Lanka) fasste dies auf dem Podium zu „Consequences of Analysis on Religion, Churches and Theology“ so zusammen: Wer auf der Seite Gottes stünde, müsse sich gegen Kapitalismus, gegen die Vergötzung von Markt und Geld wenden. Die neoliberale Homogenisierung der Kultur stelle eine Verarmung und eine Gefahr dar.
Eindrücklich war die Präsentation von John Mary Walligo – wegen krankheitsbedingter Abewesenheit vorgetragen von John Mary Lukwata. Sein Schwerpunkt im Vortrag über „African Socio-Religious/ Christian Reality“, in dem er exemplarisch über Uganda referierte, lag auf der Unterscheidung zwischen einer ‚genuinen‘ Religion, die sich für Menschenrechte einsetzt und menschliche Gemeinschaft fördert und Religionen/ (christlichen) Sekten, die Menschen finanziell und emotional ausbeuten und von ihren Gemeinschaften entfremden. Religiöse Gemeinschaften müssten sich der sozialwissenschaftlichen Analyse unterziehen, genauso wie soziale Phänomene theologisch reflektiert werden müssten.
Im Kommentar von Philomena Mwaura betonte auch sie die Unterscheidung zwischen lebensfördender und -feindlicher Religion und dass es notwendig sei, nicht-befreiende religiöse Elemente zu benennen, in die öffentliche Diskussion zu bringen und zu bekämpfen. In Bezug auf das Thema ‚Spiritualität‘ hob sie heraus, dass eine Auffassung von Gott als ultimativer Ausdruck von Beziehung und der Angewiesenheit des Menschen auf Beziehung sich gegen neoliberalen Individualismus wende und so das Reich Gottes durch die Werte bzw. die Kriterien Solidarität, Gerechtigkeit und Verlässlichkeit kennzeichne. Durch die Vision ’soziale Gerechtigkeit‘ seien die Kirchen verpflichtet, die sozialen Realitäten zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit zu nehmen und kritische soziale Analysen zu erarbeiten.

Kultur und Identität

Im Rahmen des Themas ‚Spiritualität‘ wurde oft auf Kultur Bezug genommen, vor allem auf die afrikanische Tradition und Kultur, die es wieder zu beleben gälte, als auch auf indigene Kulturen und Traditionen, auf die von lateinamerikanischer Seite Bezug genommen wurde.
Interessanterweise gab es dazu, vor allem in den Workshops, von AfrikanerInnen stets kritische Einwürfe. Gerade im Vergleich zu den TheologInnen aus Lateinamerika bezogen sie sich selten unkritisch auf Tradition und ‚alte Kultur‘, sonden hoben hervor, dass unmenschliche Traditionen wie z.B. der diskriminierende Umgang mit Witwen oder alleinstehenden/ alleinerziehenden Frauen oder die weibliche Genitalverstümmelung Erbe dieser Kultur und abzulehnen seien. Fragen nach einer neuen ‚afrikanischen Kultur‘, die sich vom kolonialen Erbe absetzt und neues ‚afrikanisches‘ Selbstbewusstsein hervorbringt, waren auf beiden Foren Thema, aber eben auch das Bewusstsein eines notwendigen kritischen Bezugs auf Traditionen und die Problematisierung von kultureller Identität und Moderne – Fragen z.B. nach dem Verhältnis afrikanischer Traditionen zu moderner Technologie.
In diesem Sinn ist ein Ringen um den Begriff von Inkulturation zu spüren, der sich kritisch sowohl mit den kolonialen ‚Importen‘ als auch mit den ‚alten‘ Traditionen auseinandersetzt.

‚Vielfalt‘ als Einfallstor neoliberaler Marktförmigkeit

Das Thema ‚Verschiedenheit‘, das das letzte Podium bestimmte, wurde auch von den ReferentInnen eher kritisch aufgenommen. José Tamayo aus Spanien sprach z.B. von der Verschiedenheit als Markt und einer individualisierten Spiritualität des Neoliberalismus als Phänomene, denen aus befreiungstheologischer Perspektive entgegen getreten werden muss. Verschiedenheit wird im neoliberalen Diskurs nicht als Bereicherung menschlicher Existenz, sondern – z.B. in Form des ‚diversity management‘ – als Pseudo-Toleranz und Beliebigkeit zur Bekräftigung des status quo, zum marktförmigen ‚everything goes‘. Diskussionen über Werte oder grundsätzliche Ausrichtung von Gesellschaft werden damit unterbunden und als ‚intolerant‘ bzw. auch die individuelle Freiheit einschränkend gebranntmarkt und verunmöglicht. Auch hier ist wieder die Unterscheidung wichtig zwischen befreienden und angepassten bzw. marktförmigen Ausprägungen von Religion.

Exposure-Programm im Slum

Am zweiten Tag des des WFTL waren Exkursionen zu Sozialprojekten und Slum-Gemeinden organisiert. Wir besuchten die Gemeinde St. John in Korogocho, einem Slum in der Nähe der einzigen Restmülldeponie Nairobis, in dem 120 000 Menschen auf 1 km² leben.
Insgesamt leben in Nairobi von 4 Mio. Menschen 60-70% in Slums, auf ca. 5 % des städtischen Territoriums. Die Regierung kümmert sich kaum um sie, auf den offiziellen Karten sind die Gebiete weiße Flecke.
In den Slums sind die Lebensbedingungen unglaublich hart. Hütte drängt sich an Hütte, aus Lehm und Blechteilen, und das Abwasser fließt teils dazwischen, teils durch die Hütten ab. In der Regenzeit gibt es überhaupt keine Drainage mehr, dann vermischt sich alles, auch in den Hütten gibt es nur noch Schlamm. Hunderte, manchmal tausende von Menschen teilen sich eine Toilette; alles, auch Toilettengang, Dusche etc., muss einzeln bezahlt werden – davon lebt dann auch wieder jemand… JedeR im Slum hat sein/ ihr eigenes kleines Geschäft. Die Preise sind sehr niedrig, wie die Leute an ihre Waren kommen, kann keineR genau sagen. Es gibt viel Prostitution und Alkoholabhängigkeit, der selbstgebraute Schnaps ist berüchtigt und wird als giftig bezeichnet.
Es gibt viele Religionsgemeinschaften in den Slums, anscheinend viele charismatische, evt. neopentecostale Gemeinden, auch Moscheegemeinden und islamische Einrichtungen wie Schulen. Unser Begleiter meinte, wer hier zu Geld kommen will, macht eine Kirche auf. Auch sie dienen dazu, Geschäfte zu machen.
Diejenige, die wir besuchten, ist allerdings etwas anders.

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St. John in Korogocho wird von Comboni-Missionaren geleitet. Zusammen mit Gemeinden anderer Konfessionen machen die Gemeindemitglieder viel Sozialarbeit, organisieren Schule, Sport und Kinderbetreuung bzw. arbeiten mit HIV/ AIDS-Betroffenen und Alkoholsüchtigen, organisieren Selbsthilfegruppen – hauptsächlich Frauen, die Schmuck, Puppen oder Körbe herstellen, die hauptsächlich über den Fairen Handel exportiert werden. Des weiteren gibt es eine Ausbildungsschule für Friseurinnen und einen Recycling Center, der auch Bricketts und Kompost herstellt, aber auch gemeinsames Bewusstsein schafft und vor allem den gemeinsamen Verkauf der gesammelten Wertstoffe organisiert, um die Ausbeutung der einzelnen MüllsammlerInnen durch die Verwertungsfirmen bzw. ZwischenhändlerInnen zu vermeiden.
Zur Gemeinde gehört auch ein Rehabilitationszentrum für AlkoholikerInnen und Kinder, das vor allem angesichts der Mülldeponie, die durch Schwelbrände permanent giftige Gase verbreitet und Atemwegserkrankungen und Krebs hervorruft, besonders wichtig ist.
Ein Straßenkinder-Programm bietet einen Treffpunkt, wo die Kinder medizinische Betreuung und eine Mahlzeit am Tag bekommen können, Bildung und kulturelle und sportliche Veranstaltungen in Anspruch nehmen können. Es gibt auch Informationsprogramme für die Eltern. Viele bleiben dennoch drogenabhängig, schnüffeln z.B. Klebstoff, und kaufen und verkaufen weiterhin Müll.
St. John in Korogocho ist Teil des Kutoka-Netzwerkes von Slum-Gemeinden, die sich auch politisch engagieren. So haben sie eine interreligiöse Kampagne für die Verlegung der Dandora-Mülldeponie initiiert. In 2004 wurde zusammen mit NGOs und anderen die Räumung und Zerstörung von Hütten von mehr als 300 000 Slumbewohnern gestoppt.
Ein langfristiges Ziel ist der Erwerb von Landrechten, da 80-90% der Slumbewohner für ihre Hütte Miete zahlen, teils an private Eigentümer und teils an die Regierung.
Prägnant ist die Diskrepanz zwischen dem „Vatikan Afrikas“ in Langata, wo im Haus der Carmelite Fathers das WFTL stattfand, und der Realität in den Slums. Außer den Comboni-Missionaren scheinen kaum Ordensgemeinschaften oder Kirchen in den Slums zu arbeiten. Sie konzentrieren sich offensichtlich auf Gemeindearbeit in „besseren“ Vierteln und auf die Priesterausbildung. An den Häusern in Langata ist zu sehen, dass sie reich sind – und zu vermuten ist, dass das viele Geld, was z.B. in Europa in den christlichen Gemeinden für „Afrika“ gesammelt wird, eher in diese Häuser und Kirchen gesteckt wird, und bei den Bedürftigen herzlich wenig ankommt.
Dieser teils schockierende Einblick in die Realität der Menschen vor Ort war auch für die afrikanischen TeilnehmerInnen ein besonderes Erlebnis und trug viel dazu bei, die Diskussionen zu erden. Die Gebete und Theaterstücke und die Musik, die es vor und zwischen den Workshops und Panels gab, waren zum großen Teil auch von Projekten aus den Slums organisiert und brachten diese Realität wenigstens ansatzweise nach Langata.

Ausblick

In der charismatischen Rede von Erzbischof Desmond Tutu auf der Abschlussveranstaltung des Forums feierte er die internationale Solidarität zur Zeit der Anti-Apartheids-Bewegung, betonte sehr stark die ‚unverbesserliche Parteilichkeit Gottes‘ auf der Seite der Entrechteten, ließ aber auch Probleme in der jetzigen Situation durchblicken – er frage sich manchmal, ob die gegenwärtige Situation in Südafrika das ist, was der Anti-Apartheids-Kampf wollte, und beschrieb die Schwierigkeit für soziale Bewegungen und damit auch befreiende Theologie, wenn der deutliche gemeinsame Gegner, die Apartheid, wegfällt und die Ziele wieder unspezifischer und dennoch nicht weniger dringend werden – Hunger und Armut zu beseitigen, zum Beispiel.

Befreiungstheologie reloaded?!

Insgesamt ist es ermutigend, dass Befreiungstheologie in internationaler Perspektive durch das WFTL eine Wiederbelebung erfährt. Im Gegensatz zur ersten Generation scheint sie weniger katholisch als ökumenisch geprägt, was sicher mit der Bekämpfung v.a. der lateinamerikanischen Befreiungstheologie durch den Vatikan in den 80er Jahren zu tun hat.
Wenn es im nächsten Jahr kein WSF sondern dezentrale Aktionstage gibt, ist geplant, auch das WFTL dezentral in den verschiedenen Kontinenten stattfinden zu lassen. Von ersten Erfahrungen mit einem regionalen Forum zur Befreiungstheologie wurde aus Quebec berichtet. Hier wurde ein weiteres Mal, ähnlich wie in Nairobi, deutlich, dass die Verknüpfung mit sozialen Bewegungen in den nicht-lateinamerikanischen Kontinenten nur schwach ausgeprägt ist. Hier gibt es in den nächsten Jahren noch viel zu tun.
Durch den Wegfall der kontinuierlichen Arbeitsgruppen als auch der institutionalisierten Reflektion, die es am Ende des ersten WFTL gab, ist das zweite weniger partizipativ gewesen, da die partizipativen Möglichkeiten, nämlich Workshops und halbstündige Diskussionen zu bestimmten Themen anzubieten, nicht das WFTL selbst zum Thema hatten. Für ein Weiterführen des WFTL wäre wieder mehr Partizipation der Teilnehmenden auch in der Diskussion um Inhalte und Ziele des Forums nötig.
Die Abschluss-Erklärung, die vom diskutiert wurde, bezieht eindeutig Stellung gegen neoliberale kapitlistische, imperialistische Politik und kann durchaus ein Ansatzpunkt für diese Annäherung an soziale Bewegungen und für die Weiterarbeit z.B. in regionalen Foren sein.