Shell Jugendstudie 2024
Kommentar von Andreas Hellgermann, Arbeitskreis ReligionslehrerInnen am ITP
In diesen Tagen ist die neue Shell-Jugendstudie herausgekommen und es ist bemerkenswert, welche Ergebnisse angezeigt werden, wenn das Stichwort „Shell Jugendstudie 24“ in eine beliebige Suchmaschine eingegeben wird. Es zeigt sich eine widersprüchliche Mannigfaltigkeit: Angst vor der Zukunft, mehrheitlich optimistisch, alarmierende Trends, noch nicht verloren, besser als ihr Ruf, Interesse an Politik … und, und, und.
Zwei Punkte allerdings werden auch von den Machern der Studie hervorgehoben und tauchen im Titel auf. Die Zukunftsängste werden einem pragmatischen Optimismus gegenübergestellt. Es ist sehr naheliegend, das für einen Widerspruch zu halten.
Was aber ist, wenn es genau an dieser Stelle gar keinen Widerspruch gibt?
Die „Jugend 2024“ ist doch kaum anders, als sie über Jahre hinweg durch diese Gesellschaft, durch dieses Bildungssystem „produziert“ worden ist. Auf der einen Seite nehmen auch junge Menschen wahr, wie sehr diese Welt zerstört wird, wie sehr „wir Menschen“ daran beteiligt sind und wie wenig „dagegen“ unternommen wird. Auf der anderen Seite aber haben sie vor allem mit der schulischen Muttermilch aufgesogen, dass man etwas dagegen machen kann, dass man etwas tun muss, dass jeder und jede einzelne etwas tun sollte und verantwortlich ist. Kurz: Ihnen wurde das Basiswissen Pragmatismus beigebracht. Die Frankfurter Schule sprach von instrumenteller Vernunft und im Silicon Valley ist der Solutionismus die Geisteshaltung, die davon ausgeht, dass es für jedes Problem eine technische Lösung gibt und damit verbunden: eine Geschäftsidee. Von „Geisteshaltung“ zu sprechen ist an dieser Stelle allerdings ein unverzeihlicher Euphemismus. Aber die kleinen geilen Firmen, mit denen sich die Welt ein kleines Stück besser machen lässt, stehen wirklich in den Lehrplänen.
Noch einmal anders formuliert: Die Angst vor der Zukunft und der Pragmatismus als scheinbar einzig verbleibende Möglichkeit, damit umzugehen, sind nichts anderes als die zwei Seiten der einen Medaille oder besser des einen Subjekts, das diese kapitalistischen Unheilsverhältnisse in arbeitsteiliger Verbindung mit dem seit nun mehr als 20 Jahren zuverlässig fortschreitenden neoliberalen Bildungssystem hervorbringt. Dass dieses Subjekt mittlerweile ein digitales geworden ist, muss nicht eigens hinzuanalysiert werden. Dass die digitale Dauerschulung zur Hervorbringung dieses Subjekts mehr als hilfreich ist, ist mehr als offensichtlich. Und es kommt noch etwas dazu: Dieses Subjekt – so zumindest wird es suggeriert – scheint das einzige zu sein, das die Unheilsverhältnisse überhaupt aushalten und ertragen kann.
Vor ca. dreißig Jahren hat der DDR-Dramatiker Heiner Müller in einem Gespräch mit Alexander Kluge eine interessante Frage gestellt: Angesichts der ersten Erfahrungen seiner kleinen Tochter mit einem Fernsehbildschirm überlegt er, was wohl passiert, wenn Kinder „die Welt, die Außenwelt wesentlich über den Bildschirm kennenlernen … was heißt das? Also wenn Kinder die virtuelle Realität kennenlernen vor der sogenannten wirklichen? Gibt’s dann überhaupt noch einen Unterschied? Und was heißt das, wenn diese Unterschiede verschwimmen?“ Wie hätte Heiner Müller – würde er heute noch leben – diese Frage wohl formuliert, nachdem Steve Jobs 2007 das iPhone vorgestellt hat.
Es gibt eine Reihe von notwendigen Antworten auf Heiner Müllers Frage. Eine davon lautet: Die Wahrnehmung der Welt über einen Bildschirm ist die permanente Einübung in einen Dimensionsverlust, Einübung in Zweidimensionalität. Ein probates Mittel zur Stabilisierung der Herrschaft des Status quo. Und dann kann die folgerichtige Antwort auf die Probleme der Welt nur pragmatisch sein. Für John Dewey, einen der Begründer des Pragmatismus, heißt das: „Wahre Ideen führen uns in nützliche verbale und begriffliche Richtungen wie auch direkt zu nützlichen, einsichtigen Termini. Sie führen zu Konsequenz, Stabilität und fließendem Verkehr.“ Eine solche Wahrheit aber ist schon längst auf Wahrscheinlichkeit, man könnte auch sagen: eine Dimension weniger, reduziert worden. Im Status-quo-Alltag der Menschen geht es darum, so sagt es Max Horkheimer, „jedes Verständnis in bloßes Verhalten“ zurückzuübersetzen. In der Kompetenz- und Handlungsorientierung der neoliberalen Schule auch.
Worum es aber, angesichts des Zustandes der Welt, gehen müsste, ist „eine Dimension mehr“. Ein anderes Imperium vor Augen schreibt Paulus vor 2000 Jahren zu Beginn seines Briefes an die Römer: „Denn der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten. Denn es ist ihnen offenbar, was man von Gott erkennen kann; Gott hat es ihnen offenbart. Seit Erschaffung der Welt wird nämlich seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar. Denn obwohl sie Gott erkannt haben, haben sie ihn nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt, sondern verfielen in ihren Gedanken der Nichtigkeit und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert.“ (1, 18-21)
Die Unsichtbarkeit ist die Dimension, derer wir beraubt werden sollen, aber sie ist die entscheidende, die uns davor bewahrt, in der zweidimensionalen Nichtigkeit zu landen. In diesem Sinne ist sie auch eine Dimension der Bildung, die auf Zweierlei eine Antwort sein kann: auf die Angst vor der Zukunft und auch auf die auf Pragmatismus verkürzte Reduktion unseres Handelns.
Die Shell Jugendstudie 2024 mag manch Richtiges aufgezeigt haben und der vermeintliche optimistische Pragmatismus der „Jugend“ mag einiges über diese Jugend aussagen. Noch mehr aber sagt er über diejenigen, die hier einen Hoffnungsschimmer erspähen. Uns sollte klar sein, dass solch eine billige Hoffnung – wenn überhaupt – lediglich dazu dient, den Status quo aufrecht zu erhalten. Doch all die „Bildungs“-Maßnahmen, mit denen wir unsere Schülerinnen und Schüler tagtäglich bearbeiten sollen, werden nicht ausreichen, jungen Menschen das Wissens darum, dass alles ganz anders sein könnte, ja muss, zur Gänze zu nehmen. Machen können Lehrerinnen und Lehrer das nicht. Hierin aber einen Hinweis auf das erkennen, was mit dem Wort Bildung gemeint sein könnte, schon.